Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in Sören Kierkegaards "Krankheit zum Tode"


Magisterarbeit, 1995

105 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

Einleitung

I. Anti-Climacus' theologische Anthropologie: Selbstverhältnis und Gottesverhältnis
1. Vom selbstlosen zum selbstbewußten Dasein menschlicher Existenz
2. Im Bewußtsein der Unwahrheit: Paradoxer Glaube - Paradoxe Existenz?
3. Exkurs: "Verzweifelt nicht man selbst sein wollen - verzweifelt man selbst sein wollen": Anti-Climacus' gescheiterte Begründung eines gottgesetzten Selbst und Kierkegaards Bruch mit Schelling
4. Bewußtes Sein im Bewußtsein der Zeit
5. Kurze Zusammenfassung: Über Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in Anti-Climacus' theologischer Anthropologie

II. Über das Unvermögen der Selbsterkenntnis und das mangelnde Selbstbewußtsein in der Verzweiflung: Die Bewußtseinsstufen und die Formen der Verzweiflung
1. Vom Ursprung und der Aufhebung der Verzweiflung
2. Die Reise von der unbewußten zur bewußten Verzweiflung
3. Von der unbewußten Verzweiflung als unmittelbare Leib-Seele Einheit
4. "Verzweifelt nicht man selbst sein wollen": Die Verzweiflung der Schwachheit
5. "Verzweifelt man selbst sein wollen": Die Verzweiflung der Möglichkeit und die des Trotzes
6. Betrachtung zur Unterscheidung der Bewußtseinsstufen und den Formen der Verzweiflung
7. Kurze Zusammenfassung zum Selbstbewußtsein und zur Selbsterkenntnis in der Verzweiflung

III. Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis hinsichtlich des Sündenbegriffes in Anti-Climacus' Krankheit zum Tode
1. Allgemeine Begriffsbestimmung der Sünde in der Krankheit zum Tode
2. Die Steigerung der Sünde, die eine Position ist:: "Verschlossenheit" und "Ärgernis"
3. Der erdichtete Gott: Von dem Gottesverhältnis, das nicht zur Selbsterkenntnis führen kann
4. "Verstehen und Verstehen": Subjektivität ist Wahrheit
5. Exkurs: Haufniensis' Sündenbegriff unter Berücksichtung des Verzweiflungsbegriffes und der Sündenabhandlung in Anti-Climacus' Die Krankheit zum Tode
6. Abschließende Betrachtung: Über Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in der Sünde

Schlußbetrachtung

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Lebenslauf

Vorwort

An dieser Stelle bedanke ich mich nicht nur ganz herzlich bei meiner Freundin und heutigen Ehe­frau Monika Siewert, die nicht müde wurde meinen Gedanken zu folgen, als ich diese Magisterarbeit anfertigte, sondern mein besonderer Dank geht auch an die New York Public Library und deren Mitarbeitern. Dank eines längeren Aufenthaltes in New York konnte ich eine Bibliothek kennenlernen, die sicherlich über den Standard einer Universitätsbibliothek in Deutschland weit hinaus geht. Nicht nur sind alle erhältlichen Titel in der New York Public Library bequem über einen Terminal abfragbar, sondern die Fülle der wissenschaftlichen Publikationen hinsichtlich der Werke Sören Kierkegaards ist dort nahezu atemberaubend. Dank der Literatur, die ich in der New York Public Library beschaffen konnte, erhält diese Magisterarbeit einen besonderen Akzent. Beschweren sich Michael Theunissen und Wilfried Greve, daß dem amerikanischen Forschungs­stand hinsichtlich der Werke Sören Kierkegaards, zumindest zu der Zeit als sie ihre Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards veröffentlicht haben, kaum Beachtung geschenkt wurde[1], so steht diese Magisterarbeit dieser Beschwerde vollkommen entgegen, da der Großteil der Sekundärliteratur aus den USA stammt. Die Sekundärliteratur, die ich aus den USA mitnehmen konnte, stammt zum Großteil von Professoren, die an amerikanischen Universitäten arbeiten. Die Herkunft dieser Professoren ist allerdings international. Es ist meine feste Überzeugung, daß Wissenschaft interna­tional sein muß, um wissenschaftliche Ergebnisse aus verschiedenen Perspektiven gewinnen zu können. Bezieht sich ein Wissenschaftler lediglich auf die ihm verfügbare "Landesliteratur", wird er sich den Vorwurf des Chauvinismus gefallen lassen müssen. Es ist mal erfrischend, mal erstaun­lich und auch erheiternd wie vielseitig wissenschaftliche Betrachtungsweisen sein können. Es war mir eine Freude, diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen in der vorliegenden Arbeit zu vereinigen oder gegeneinander zu setzen.

Einleitung

In der vorliegenden Arbeit geht es um eine umfassende Analyse der Krankheit zum Tode, wobei die Begriffe Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis im Mittelpunkt stehen. Die Krankheit zum Tode wird nicht isoliert betrachtet, sondern andere Werke, die von Sören Kierkegaard herausgegeben wurden, tragen dazu bei, mehr Licht in dieses schwierige Werk zu bringen. Was hat es aber mit den Begriffen Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis hinsichtlich der Krankheit zum Tode auf sich? Werden diese Begriffe einfach an dieses Werk herangetragen oder geht es letztlich nicht immer schon um Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in der Krankheit zum Tode, einschließlich des mangelnden Selbstbewußtseins und der unzureichenden Selbsterkenntnis in der Verzweiflung[2] und der Sünde? Das letztere ist der Fall und dementsprechend ist diese Arbeit aufgebaut. Tatsächlich stehen die Begriffe Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis nicht isoliert da, sondern sie beziehen sich auf das Selbst des Menschen. So heißt es bei Anti-Climacus (Sören Kierkegaard)[3]:

So ist das Bewußtsein das Entscheidende. Überhaupt ist Bewußtsein, d. h. Selbstbe­wußtsein, das Entscheidende in bezug auf das Selbst. Je mehr Bewußtsein, desto mehr Selbst;[4]

Es geht also um das Selbst des Menschen. Wie kommt der Mensch zu sich selbst? Er findet nur dann zu sich selbst, wenn er sich seines Selbst als Synthese ständig bewußt wird. Was es mit dieser Synthese auf sich hat und wie der Mensch allein zur Synthese seines Selbst gelangen kann, ist das Grundanliegen des ersten Kapitels. Anti-Climacus' Anthropologie ist theologisch, da schon aus seiner Anthropologie hervorgeht, daß ein wahrhaftes Selbstbewußtsein und eine Verwirklichung des Selbst als Synthese nur kraft des christlichen Glaubens möglich ist.

Wird der christliche Glaube aber als absurd und paradox beurteilt, drängt sich die Frage auf, ob die menschliche Existenz nicht durch diesen Glauben paradox wird. Der zweite Teil (I. 2) des ersten Kapitels wird hierüber Aufschluß geben.

Wir sollen uns unseres Selbst als Synthese kraft des christlichen Glaubens bewußt werden. Gibt es bei Anti-Climacus vielleicht eine Begründung, warum uns bei der Selbstbewußtwerdung nur der christliche Glaube weiterhelfen kann oder will er gar "beweisen", daß das Selbst des Menschen gottgesetzt ist? Anti-Climacus versucht tatsächlich das gottgesetzte Selbst des Menschen über die Verzweiflung herzuleiten, was umso erstaunlicher ist, als Kierkegaards Bruch mit Schelling doch gerade darauf zurückgeht, daß Schelling glaubte, das "Unvordenkliche" bzw. Gott rekonstruieren zu können (vgl. Exkurs I. 3).

Im nächsten Kapitel (I. 4) wird es um den Zeitbegriff bei Sören Kierkegaard gehen.[5] In Anti-Climacus' Krankheit zum Tode gibt es kein spezielles Kapitel, welches sich um den Zeitbegriff dreht. Also warum sollte der Zeitbegriff dann hier thematisiert werden? Allein der Mensch, der sich dank des christlichen Glaubens bewußt wird, kann seine Gegenwart erfahren, und es ist Anti-Climacus' Ziel, uns aufzuzeigen, daß wir uns nur dann "gegenwärtig sind", wenn wir den christlichen Glauben angenommen haben. Sich selbst kann der Mensch nur dann bewußt werden, wenn er in der Gegenwart lebt und sich nicht an ein Leben klammert, daß entweder nur an die Vergangenheit oder nur an die Zukunft gebunden ist. Vergangenheit und Zukunft spiegeln sich bei Anti-Climacus in der Verzweiflung wieder. Die Verzweiflung der Schwachheit bezieht sich auf die faktische Situ­ation eines jeden Menschen. Die faktische Situation ist vergangenheitsbestimmt. Die Verzweiflung des Trotzes bezieht sich auf das mögliche, ideelle Sein eines jeden Menschen. Das mögliche, ideelle Sein bezieht sich auf die Zukunft. Also spielt der Zeitbegriff auch bei Anti-Climacus eine große Rolle und wird deshalb gerade in bezug auf das erfüllte oder sich bewußte Selbst näher be­trachtet.

Im zweiten Kapitel geht es um die Verzweiflung, in der der Mensch sich seines Selbst entweder gar nicht oder nur "unvollständig" bewußt wird. Es ging mir nicht darum, die einzelnen Formen der Verzweiflung nachzuerzählen, sondern sie den Bewußtseinsstufen der Verzweiflung zuzuord­nen. Bei Anti-Climacus unterscheidet sich das Bewußtsein in der Verzweiflung danach, ob sich der Mensch (1) seines Selbst überhaupt bewußt ist, (2) verzweifelt nicht er selbst oder (3) verzweifelt er selbst sein will. Daß das verzweifelte Nichtselbsteinwollen mit dem verzweifelten Selbstsein­wollen letztlich übereinstimmt, wird hier wie auch bei M. Theunissen abgelehnt (vgl. II. 2 u. II. 5). Besonders in diesem Kapitel (II) trägt der Rückgriff auf andere Existenzphilosophen - auch Horkheimer und Adorno als Vertreter der "kritischen Theorie" können sinnvoll eingebunden werden - zur Erhellung des Verzweiflungsbegriffes bei Anti-Climacus bei. Wird die Verzweiflung nach Bewußtseinsstufen und Formen unterschieden, sollte klar sein, daß die Wirklichkeit der Ver­zweiflung mit einer sorgsamen Trennung und Unterscheidung des Verzweiflungsbegriffes nicht immer übereinkommt. Wenn auch verschiedene Verzweiflungsphänomene unterschiedlichen Be­wußtseinsstufen zugerechnet werden, überschneiden sich diese Verzweiflungsphänomene nur allzu häufig. Die Unterscheidung der Bewußtseinsstufen und die der Formen der Verzweiflung hat eben nur Modellcharakter.

Wie kann aber die Sünde auf das Selbstbewußtsein und die Selbsterkenntnis des Menschen bezogen werden? Wenn der Mensch nur kraft des christlichen Glaubens zu sich selbst finden kann oder sich seiner selbst bewußt werden kann, dann ist es für Anti-Climacus ein nahezu unbeschreibliches Übel, wenn der Mensch sich trotz der Offenbarung Gottes nicht glaubend zu Christus verhalten will. Die Sünde ist bei Anti-Climacus keine gesonderte Kategorie, sondern sie ist die potenzierte Verzweiflung, insofern der Mensch verzweifelt, obwohl er von der Offenbarung Gottes weiß. Die Sünde ist eine Position, da sich der Mensch trotz der Offenbarung Gottes ent­schieden hat, sich nicht zu Gott zu verhalten. Die Steigerung der Sünde, die eine Position ist, beginnt mit der Passivität gegenüber Gott und geht bis zum aktiven Kampf gegen das Christentum. In den folgenden Kapiteln (III. 3 u. 4) wird der Sündenbegriff bei Anti-Climacus nuanciert, indem auf die Sünde verwiesen wird, den Glauben in eine phantastische oder objektive Angelegenheit "umzufunktionieren".

Ein Exkurs zu Haufniensis Der Begriff Angst wird dazu beitragen, den Sündenbegriff in der Krankheit zum Tode näher zu differenzieren.

In der Schlußbetrachtung hat es der Leser weder mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse noch mit einer "bodenlosen" Kritik zu tun. Über die Würdigung der Krankheit zum Tode hinaus, werden Aspekte kritisch - aber nichtsdestotrotz fundiert - beleuchtet, die in dem Haupteil dieser Arbeit zu kurz gekommen sind.

In der vorliegenden Arbeit ist sehr häufig nur von den Pseudonymen die Rede. Eine Ausnahme ist dann gegeben, insofern von einer Philosphie die Rede sein kann, die verschiedene Werke miteinander verbindet. Andererseits möchte ich auch Sören Kierkegaard gerecht werden, wenn er in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken ausdrücklich darum bittet, bei Zitaten nur die Pseudonyme anzuführen. Die Pseudonyme machen einen Sinn, wenn man sich einmal deutlich macht, daß Sören Kierkegaard mit ihnen nicht nur unterschiedliche Charaktere erfunden hat, sondern auch philosophische und religiöse Anschauungen geliefert hat, denen Kierkegaard nicht immer gerecht werden konnte oder wollte. Das gilt insbesondere für die Krank­heit zum Tode. Anti-Climacus ist der Christ schlechthin, aber gilt das auch für Sören Kierkegaard? Stephen Crites gibt uns den wichtigen Hinweis, daß sich Sören Kierkegaard ursprünglich als Autor für die Krankheit zum Tode bekennen wollte, er aber ein Pseudonym erfinden mußte, da er selbst mit der christlichen Idealfigur, die später Anti-Climacus heißen sollte, nicht mithalten konnte:

[...] he did not find in his own life the strict Christian solution to the sickness of despair that was prescribed by the text. Lacking faith, he considered himself to be one of the despairing sufferers of the sickness unto death. He needed to be addressed by the discourse, rather than being a man who might presume to speak its words in his own voice. Kierkegaard's typically literary solution to this problem was to attribute the discourse to a new pseudonym.[6]

Wieso nennt Sören Kierkegaard den Verfasser der Krankheit zum Tode nun Anti -Climacus? Äußert sich Anti -Climacus nun gegen Climacus, oder wie ist das zu verstehen? Wilhelm Anz bezieht das "Gegen" zurecht auf die "Umkehrung der Blickrichtung" und nicht auf eine Kritik, die sich gegen Climacus richtet. Climacus fühlt sich insbesondere Sokrates verpflichtet und schließt mit dem christlichen Gottesverhältnis. Für Anti -Climacus ist das christliche Gottesverhältnis der Ausgangs­punkt für die philosophischen Erörterungen, die sich in der Krankheit zum Tode anschließen:

Der Name Anticlimacus scheint Ausdruck für eine Gegenposition zu sein. Das "Gegen" bedeutet jedoch nicht, daß Anticlimacus die Denkbewegung des Climacus und das in ihr Gedachte widerruft; das "Gegen" liegt in der Umkehrung der Blickrichtung: Anticlimacus blickt vom Ende aus, dem nunmehr thematisierten christlichen Gottesverhältnis auf den Weg zurück, den Climacus geführt hat, und faßt das Ergebnis formelhaft schematisiert zusammen in eben den Kategorien, die zur Be­wegung der konkreten existierenden Subjektivität gehören und die in den sokratischen Schriften als solche aufgedeckt sind. Er bestätigt so die Kontinuität des Werkes in sich selbst.[7]

Die Nähe von Climacus' und Anti-Climacus' Überlegungen wird auch in der vorliegenden Arbeit deutlich.

I. Anti-Climacus' theologische Anthropologie: Selbstverhältnis und Gottesverhältnis

1. Vom selbstlosen zum selbstbewußten Dasein menschlicher Existenz

Das folgende Kapitel ist viergeteilt. In dem ersten Abschnitt wird in erster Linie Anti-Climacus' Sprache kritisch beurteilt. Der folgende Abschnitt ist insbesondere den Begriffen "Selbst" und "Synthese" gewidmet, um abschließend diese Elementarbegriffe der Anthropologie nach Anti-Climacus auf die Stadienlehre zu übertragen. Im vierten Teil wird untersucht, inwieweit die Stadienlehre mit der Hegelschen Dialektik in Zusammenhang gebracht werden kann.

Zurecht stellt Theunissen fest, daß die Stadienlehre wie schon in Der Begriff Angst in dem vorliegen­den Werk Die Krankheit zum Tode aufgegeben wird[8]. Allerdings ließen sich genau diese "Existenzsphären" auch in der Krankheit zum Tode wiederfinden "mit Ausnahme des Ethischen".[9] Hier scheint Theunissen allerdings nicht Anti-Climacus’ anthropologische Aussagen vor Augen zu haben. Genau dies ist aber hier der Fall, wenn die erste These lautet, daß die Stadienlehre in Anti-Climacus' Anthropologie Eingang gefunden hat[10].

Der erste Abschnitt des ersten Teils, in dem die grundlegenden Termini der Anthropologie erläutert werden, dürfte manch einen Leser in die tiefste Verwirrung stürzen. So heißt es:

Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Ver­hältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Frei­heit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese.

Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst.

Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis und im Verhältnis zum Verhältnis; so ist unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis. Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, dann ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst.[11]

So wird der Leser in den folgenden Zeilen doch erwarten, daß Anti-Climacus erläutert, warum der Mensch Geist ist oder auch ein Selbst, das ein Verhältnis ist, das sich zu sich selbst verhält oder er wird eine Erläuterung erwarten, wie die Momente der Synthese das menschliche Leben eigentlich bestimmen. Es wäre wirklich die höchste Ironie, wenn man bei diesen Formulierungen annehmen sollte, daß auch Anti-Climacus auf Climacus' indirekte Mitteilung pocht, " ... [zumal] die Erkenntnis nicht direkt ausgesagt werden kann, weil das Wesentliche an ihr gerade die Aneignung ist,..."[12] Alastair Hannay kommentiert den weiter oben zitierten Textausschnitt folgendermaßen:

The notorious passage that follows [s.o.] has seemed to many an attempt on Kierkegaard`s part, not to help the reader understand this idea of a self-relating self, but to parody the impenetrability of Heglian prose[13].

In der Tat erinnert Anti-Climacus' dunkle und abstrakte Sprache hier sehr an Hegelsche Texte, was umso verwunderlicher ist, da schon Climacus das reine Denken Hegels als existenzfern verteufelt[14]. Diesem reinen Denken macht sich Anti-Climacus aber hier selbst anrüchig. Nichtsdestotrotz, wenn es auch Anti-Climacus nach Alastair Hannay in bezug auf seine Termini an Erläuterungen ermangeln läßt, so ist das gerade ein Grund diese hier nachzuliefern.

Bei Anti-Climacus existieren zunächst drei Grundkategorien: Seele, Leib und das Selbst. Dabei bilden Seele und Leib schon immer und unmittelbar ein Verhältnis. Dieses erste Verhältnis von Seele und Leib wird bei Wilhelm Anz zurecht bloß als "gefühlte Befindlichkeit" beschrieben: "Die Befindlichkeit ist zwar eine eigene Wirklichkeit, sie enthält die Möglichkeit eines bestimmtem Verhaltens, aber doch keineswegs dieses selbst."[15] Anti-Climacus einen Leib-Seele Dualismus vorzuwerfen, wäre zumindest noch an diesem Punkt unberechtigt. Leib und Seele sind keine isolierten Entitäten, sondern Leib und Seele sind nur denkbar als ein Verhältnis, das durch die Ein­heit von Leib und Seele entsteht. Dabei ist die Existenz der Seele Bedingung für die des Leibes und umgekehrt. Anti-Climacus kann hier tatsächlich der Romantik zugeordnet werden: "Die Existenz jedes Teiles ist nur durch die Existenz jedes anderen Teiles möglich. Verhältnisse, nicht Entitäten, sind der Gegenstand der Betrachtung und des Bemühens".[16]

Dieses unmittelbare Verhältnis wird von Anti-Climacus aber negativ bestimmt[17], da Leib und Seele als unmittelbare Einheit noch keine Synthese sind: "Als Vorhandenheit ist das Ich keine Synthese etwa aus Leib und Seele, sondern eine Einheit, unmittelbare Identität, die sich aber als solche nicht halten kann".[18] Warum kann sie sich nicht halten? Da der Mensch als Geist bzw. als Selbst bestimmt ist: "Geist ist das Selbst". Aber wie kann das Selbst näher definiert werden? Für das Selbst sind die Begriffe Bewußtsein bzw. Selbstbewußtsein entscheidend. Der Mensch der sich seiner selbst bewußt wird, steht in einem Verhältnis zu sich selbst. Gemeint ist die Innerlichkeit, Selbstreflexion und Selbstbetrachtung.[19] Damit entzweit er sich in ein Subjekt und in ein Objekt und zwar als Selbstbetrachender und Selbstbetrachteter. Setzt der Mensch sich nicht in ein Ver­hältnis zu sich selbst, ist das erste Mißverhältnis gegeben, da er zwar mit der Möglichkeit, Geist zu sein, ausgestattet ist, diese aber nicht realisiert. Da er aber als Geist bestimmt ist, muß die unmittelbare Leib-Seele Verhältnis negativ bestimmt sein, ob der Mensch sich dessen bewußt ist oder nicht.

Das Selbst, das sich noch nicht zu sich selbst verhält und deswegen im eigentlichen Sinne nur Möglichkeit des Selbst, träumender Geist ist, ist schon krank, aber es weiß dies nicht, weil das Mißverhältnis ein Wissen um das Verhältnis voraussetzt.[20]

Daß der Mensch sich als Geist in der Innerlichkeit, Selbstreflexion und Selbstbetrachtung realisieren kann, ist noch zu weit gefaßt. "[Denn] Das Selbstsein als Sich-zu-sich-Verhalten ist das Zusammenhalten der Momente, aus denen der Mensch als Synthese besteht".[21] Die Entzweiung bei Anti-Climacus bezieht sich nicht bloß auf die Subjekt-Objekt Spaltung. Sie bezieht sich insbesondere auf die Momente der Synthese, die der Mensch ist. Die Gegenüberstellung von Un­endlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit ist gleichermaßen eine Gegenüberstellung von der “[...] reinen Ideenhaftigkeit des `Denkens' und der endlich-zeitlichen Konkretion des `Seins', sie [die Wirklichkeit] ist ein Zwischensein, ein inter-esse."[22] Die menschliche Wirklichkeit wird somit eine Zusammensetzung aus der rein faktischen Realität und einer möglichen noch rein ideellen Realität. Die menschliche Essenz ergibt sich aus dem Zusammenspiel von realem und idealen Ich, wobei das ideale Ich ständig auf das reale bezogen werden muß, um es zu verwirklichen:

[...] le moi est un rapport qui rapporte son moi idéal, potentiel, infini, à son moi réel, actuel, fini. Cette interprétation a le grand mérite de bien marquer la tension, le dynamisme, le devenir qui, aux yeux de Kierkegaard et de ses pseudonymes, constituent l'essence même du moi. Rapporter son moi idéal à son moi réel, c'est entrer de plain-pied dans ce processus pénible par lequel on se donne à soi-même la perfection due à sa propre nature d'homme.[23]

Das Selbst des Menschen steht darüber hinaus in der Spannung von Vergangenheit und Zukunft. "[...] die Beziehung zwischen der Zukunft, die jedes Individuum zu jeder Zeit vor sich hat, und der Vergangenheit, die hinter ihm liegt [...]" erklärt Theunissen für das Phänomen, welches Kierkegaard (Anti-Climacus) vor Augen hat.[24] Das Notwendige ist die faktische Situation und die Gegebenheit, in der sich jeder Mensch vorfindet. "Das Vergangene aber ist das Notwendige, weil es unabänderlich und dem Zugriff der Freiheit entzogen ist."[25] Die Freiheit kann weiter mit der Möglichkeit gleichgesetzt werden.[26] Die Möglichkeit ist das Zukünftige oder das, was idealer­weise für mich denkbar ist in aller Zukunft. Die Möglichkeit, die der Mensch hat, scheint quasi grenzenlos zu sein, wenn - ähnlich wie das Notwendige - das Endliche nicht begrenzend auf die Möglichkeit einwirken würde. Oder anders: Der Mensch muß sich der Tatsache unterwerfen, daß er endlich ist und von daher können seine Möglichkeiten nicht grenzenlos sein. Das Unendliche ist quasi wie die Möglichkeit das Ausweitende und Unbegrenzte. "Sie [die Möglichkeit] zu ergreifen hat in sich Unendlichkeit."[27]

In der Reflexion auf die Momente der Synthese, die der Mensch ist, ist er aber von einer positiven Synthese noch weit entfernt. "Das positive Dritte" als das synthetisierte Selbst ist noch nicht er­langt, da die Reflexion lediglich eine Entzweiung hervorbringt. Diese Entzweiung gilt ebenso für Leib und Seele als das Zeitliche und Ewige.[28] Dabei ist das Zeitliche als ein natürlicher Kreislauf des Werdens und Vergehens zu verstehen, dem jeder Mensch und jedes endliche Wesen unter­worfen ist. Das Zeitliche ist quasi eine ziellose und immanente Ewigkeit. Eine positive Form der Ewigkeit als Transzendenz ist dem gegenübergestellt und nur erreichbar kraft des Glaubens (vgl. zum Zeitbegriff I. 4). Und damit ist schon angedeutet "mit welchem Mittel allein" die Entzweiung positiv aufgehoben werden kann. Sie kann nur aufgehoben werden und zur Einheit gelangen "vor und mit Gott". Ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält kann negativ synthetisiert werden, wenn einseitig zum Beispiel auf das Notwendige oder Mögliche reflektiert und daran festgehalten wird.[29] Positiv wird die Synthese nur dann, wenn das Selbstverhältnis immer auch ein Gottesverhält­nis miteinschließt. Nicht irgendein Verhältnis zum Verhältnis führt zum Selbst, sondern es kommt auf das Wie dieses Verhältnisses an.[30] Da das Selbst von Gott gesetzt ist[31] - und hier duldet Kierkegaard keine Widerrede[32] - kann es sich letztlich auch nur mit Gott realisieren.

Das Selbst ist die bewußte Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit, die sich zu sich selbst verhält, deren Aufgabe es ist, sie selbst zu werden, welches sich nur ver­wirklichen läßt durch das Verhältnis zu Gott.[33]

Aber wie genau kann der Glaube den Menschen zur Einheit der Synthese führen? Dies geschieht kraft einer Doppelbewegung. Dank des Glaubens kann der Mensch sein rein faktisches Ich - bestehend aus der Notwendigkeit, Endlichkeit und Zeitlichkeit - transzendieren. In dieser Bewegung auf Gott hin sieht der Mensch die Unendlichkeit seiner Möglichkeiten - "[...] das alles möglich ist, ist Gott."[34] - und kann nur dank dieses Glaubens in einer zweiten Bewegung seine unendlichen Möglichkeiten eingrenzen, indem er sie auf sein endliches Sein zurückführt.[35]

Anti-Climacus drückt es so aus:

Die Entwicklung muß also darin bestehen, unendlich von sich selbst fortzukommen in einer Unendlichmachung des Selbst und unendlich zurückzukommen zu sich selbst in einer Endlichmachung.[36]

Doch welchen Glauben und welche Religion hat Anti-Climacus vor Augen. Es ist allein die christliche Religion. "Die gelungene Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit ist für Kierkegaard die Menschwerdung Gottes."[37] Allein ein in Christus zeigt sich, "[...] welche ungeheuere Realität ein Selbst hat."[38] In Christus werden die entgegengesetzten Momente der Synthese "perfekt" synthetisiert, da er als Mensch die Momente der Notwendigkeit, Endlichkeit und Zeitlichkeit mit den Momenten eines göttlichen Wesens - diese Momente sind die Unendlich­keit, Möglichkeit und die Ewigkeit - vollkommen vereinigt. Objektiv wird der christliche Glaube niemals zu fassen sein, da er paradox ist. Das Paradoxon besteht gerade darin, [...] "daß die ewige Wahrheit in der Zeit geworden ist" [...].[39] Der christliche Glaube kann nicht verstanden, sondern nur in einem "Sprung" - jenseits von allen Erörterungen der Logik und der logischen Vermittlung - angenommen werden "[...] und Glauben heißt eben den Verstand verlieren, um Gott zu gewinnen."[40] Für den Menschen kann Jesus Christus aber nur Vorbild bleiben, da er wohl auch Mensch ist, aber niemals zugleich auch Gott sein kann. Da der Mensch niemals zugleich die Voll­kommenheit Jesu Christi besitzen kann, wird er auch immer Gefahr laufen fehl zu gehen, in dem Sinne, daß er die Momente der Synthese einseitig und damit negativ synthetisiert. Allein in der Doppelbewegung des christlichen Glaubens (s. o.) kann er diesem "Fehlverhalten" entgegenwirken. Der erste Schritt in Richtung auf diesen Glauben ist die Reue. Durch die Reue wird sich der Mensch bewußt, daß er ein Wesen voller Mängel ist und erkennt gleichermaßen an, daß diese Fähigkeit sich selbst in ein Verhältnis zu setzen nicht aus sich selbst heraus bestehen kann, sondern gottgesetzt ist. Er wird sich bewußt, daß sein Selbst als ein Verhältnis zu sich selbst durch den Menschen allein nur in einem Mißverhältnis enden kann. Weiter erläuternd hierzu Guardini: "Reue bedeutet, daß ich mich zu Gott Stelle, gegen mich selbst. Daß ich mich nicht in Eigengerechtigkeit behaupte, sondern mich in das Schuldigsein hineingebe - vor Gott und mit ihm."[41]

Dennoch, wenn im Falle der Reue das Selbstverhältnis immer auch schon Gottesverhältnis ist, bleibt dieses Gottesverhältnis noch abstrakt, da die Reue allein noch nicht den bestimmten Glauben an die Menschwerdung Gottes - also Jesu Christi - miteinschließt. Der christliche Glaube ist aber die Bedingung für eine positive Synthese der entgegengesetzten Momente, da nur durch die Menschwerdung Gottes das Vorbild eines vollkommmenen Selbst gegeben ist.

Wie bereits hervorgehoben wurde, kann der Mensch als unmittelbare Leib-Seele Einheit nicht bestehen, da er als Geist bestimmt ist. Geist bedeutet immer, daß der Mensch sich seiner selbst bewußt wird, indem er sich zu seinem synthetisch zusammengesetzten Sein verhält. Da jeder Mensch also bestimmt ist, in ein Verhältnis mit sich selbst zu gehen, muß das Ausbleiben dieses Verhältnisses schon ein Mißverhältnis bzw. Verzweiflung bedeuten, selbst wenn ein Bewußtsein dieser Bestimmung gar nicht gegeben ist.

Nun zurück zur eingangsgestellten These. Gibt es eine Sphäre in Kierkegaard's Stadienlehre, die an dieses selbstlose und unmittelbare Dasein erinnert? Zweifelsohne werden bei diesem Verweilen in der unmittelbaren und negativen Leib-Seele Einheit Erinnerungen an den Ästhetiker wach.[42] Als Ästhetiker muß auch "der junge Mensch" in Kierkegaards Stadien auf des Lebens Weg gelten.[43] So spricht der junge Mensch bei einem Gastmahl mit den bei Kierkegaard bekannten Persönlich­keiten wie Victor Eremita, Johannes der Verführer und Constantin Constantius folgendes aus: "Der Mensch besteht aus Seele und Leib, darin sind die weisesten und besten Männer sich allesamt einig."[44] Aber tatsächlich ist der Mensch bei Anti-Climacus als Geist bestimmt und offensichtlich kennt der junge Mensch nur die unmittelbare Leib-Seele Einheit, die Anti-Climacus negativ be­stimmt hat.

Zwar ist das Leben des Ästhetikers nicht ohne Reflexion, allerdings bleiben seine Reflexionen auf den Genuß des momenthaften Daseins beschränkt: "Meine Anschauungen sind flüchtige Betrachtungen eines `fahrenden Scholastikers', der mit größter Eile durchs Leben stürzt."[45] Der Ästhetiker bleibt "in der Schwebe" oder in der Unendlichkeit der Möglichkeiten, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, seine Möglichkeiten in die Wirklichkeit übertragen zu wollen. D. h. eine Selbstreflexion, die darauf hinauslaufen soll, das ideale Ich auf das reale zurückzuführen, bleibt vollständig aus. Hierzu weiter John D. Glenn:

"Yet his lack of commitment, his refusal to will to transform his existence in actuality, leaves him ultimately prey to necessity (envisioned as fate): "And so I am not the master of my life, I am only one thread among many ..."[46]

Dadurch also, daß der Ästhetiker nur quasi phantastisch in der Möglichkeit lebt, läuft die Wirk­lichkeit notwendig an ihm vorbei. Notwendig muß für ihn die Wirklichkeit sein, da er nicht ein­greift und außerhalb dieser Wirklichkeit steht.

Der Ästhetiker lebt in der Zeitlichkeit dahin, geschichtslos von Moment zu Moment. (Zum Zeit­begriff vgl. Kapitel I. 4) Die Erinnerung hat für ihn nicht die Bedeutung sich seiner eigenen Ver­gangenheit bewußt zu werden, oder gar wie in der Reue sich gegen sich selbst zu stellen in dem Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit.

Die Erinnerung kennt der Ästhetiker nur als ein "poetisches Sicherinnern".[47] Dabei laufen die Begriffe Erinnern und Vergessen ineinander: "Je poetischer man sich erinnert, um so leichter vergißt man; denn poetisches Sicherinnern ist eigentlich nur ein Aus­druck für Vergessen."[48] Der Ästhetiker hat nur den Genuß des Momentes vor Augen und fürchtet die Erinnerung, wenn sie - über das oberflächliche und poetische Erinnern hinaus - derart tief wäre, daß sie an dem Genuß eines folgenden Lebensmomentes hinderlich sein könnte. Allein deswegen darf ein einzelnes Lebensmoment nicht zu bedeutsam sein.[49] Der Ästhetiker lebt also selbstlos oder ohne ein Bewußtsein seiner selbst, da er nur in der Unmittelbarkeit dahinlebt und ein Selbstverhältnis ihn geradezu daran hindern könnte, sein rein zeitliches und geschichtsloses Dasein aufzugeben.

Aber vielleicht ist der Ethiker einer positiven Synthese näher. Denn er weiß doch, daß das menschliche Leben nicht bloß zeitlich bestimmt sein kann:

Darin liegt nämlich die ewige Würde des Menschen, daß er eine Geschichte bekommen kann, darin liegt das Göttliche an ihm, daß er selbst wenn er will dieser Ge­schichte Kontinuität verleihen kann;[50]

Der Ethiker ist sich also bewußt, daß der Mensch endlich ist und deshalb darauf angewiesen ist, seiner Geschichte Kontinuität zu verleihen - im Gegensatz zu dem rein momenthaften Dasein des Ästhetikers, der an seine Endlichkeit keinen Gedanken verschwendet. Schon der Ethiker setzt sich zu sich selbst in ein Verhältnis hinsichtlich der entgegengesetzten Momente der Synthese. Das beste Beispiel hierfür ist die Ehe. Dabei setzt der Gerichtsrat Wilhelm auf die ewige Verjüngung oder die beständige Wiederholung der Liebe in der Zeit.[51]

Der Ehemann hat als ein wahrer Sieger die Zeit nicht getötet, sondern sie erlöst und bewahrt in der Ewigkeit. Der Ehemann, der das tut, lebt in Wahrheit poetisch, er löst das große Rätsel, in der Ewigkeit zu leben und doch die Stubenuhr schlagen zu hören [...][52]

Auch der Ethiker ist doch um ein Gottesverhältnis bemüht und erkennt, daß ein Gottesverhältnis die Reue voraussetzt: "[...] die Liebe zu Gott hat ihre absolute Eigentümlichkeit, ihr Ausdruck ist Reue."[53] Dennoch, der Ethiker kann aus einem Grunde noch nicht als religiös bezeichnet werden. Der Ethiker faßt sein Selbst als das Absolute auf: "[...] denn ich bin selbst das Absolute, denn nur mich selbst kann ich absolut wählen."[54] Sein Selbstverhältnis läuft darauf hinaus, sich selbst zu behaupten.[55] Und genau diese Selbstbehauptung ist der Reue als erstes Gottesverhältnis ganz und gar entgegengesetzt. (s.o.)[56] Zu dieser Selbstbehauptung führt John D. Glenn (Jr.) in seiner Be­trachtung des "Gerichtsrats Wilhelm" weiter aus:

He undertakes an unconditional self-affirmation, whereas Kierkegaard thought that affirmation of our true selves is ultimately dependent on a "condition" that can be given only by God.[57]

Doch wie verwirklicht der Ethiker diese Selbstbehauptung? Er verwirklicht sie allein, indem er sich moralischen Prinzipien verpflichtet. Dabei werden die moralischen Prinzipien auf Gott zurückge­führt:

The ethical stage is characterized by acceptance of universal moral principles, rules that are binding on all persons everywhere, that have their source in God, the supreme lawgiver.[58]

Den Grundfehler den der Ethiker begeht, ist die Tatsache, daß er das Relative in der Form von Moralität mit dem Absoluten als Gott verwechselt.

Moralische Gesetze können niemals absolut sein oder einen absoluten Halt bieten, da sie wandelbar und auslegbar sind:

"Ethics becomes pluralistic, conflict ridden, rooted in personal decision. Someone who is searching for absolute values, for a firm foundation for his moral life, will not be satisfied.[59]

Ein absoluter Halt oder ein absolutes Telos kann nur durch den Glauben bzw. zunächst durch die Religiosität erreicht werden.[60] Der erste Schritt zur Religiosität muß dem Ethiker aber verweigert sein, da es dazu der Reue als der eigenen Fehlbarkeit und Schuld bedarf.[61]

Auf der Suche nach dem Selbst als ein Verhältnis, "[...], das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem anderen verhält [.]",[62] ist Climacus' Religiosität A die erste Stufe dieses Selbstverhältnisses. Im Gegensatz zum ethischen Sein ist das religiöse Sein nicht durch "Selbstbehauptung", sondern durch "Selbstvernichtung"[63] bestimmt. Diese Selbstver­nichtung ist nichts anderes als diejenige Form der Reue, nach welcher sich das Individuum zu Gott stellt, indem es sich gegen sich selbst stellt. Disse spricht zurecht von einem "generellen Gefühl des Scheiterns".[64] Indem der Mensch "sich selbst beiseite schafft"[65], d. h. seine eigene Schwäche als Fehlbarkeit anerkennt, und sich gleichermaßen bewußt wird, daß es eine Macht gibt, die über ihn hinausgeht, geht er ein Gottesverhältnis ein, das allerdings noch nichts mit einem christlichen Gottesverhältnis gemein hat.[66] Die Religiosität A ist diejenige der Immanenz. In dieser Form der Religiosität entdeckt der Mensch ein Gottesverhältnis in sich, welches nicht an ein "Etwas" außer­halb seiner Selbst gekoppelt ist, sondern unmittelbar auf sein Schuldbewußtsein in der Reue zurückzuführen ist.[67] Diese Form der Religiosität bleibt abstrakt, da sie noch nicht auf ein bestimmtes Gottesverhältnis ausgerichtet ist. Climacus als auch Anti-Climacus[68] haben aber letztlich den paradoxen christlichen Glauben vor Augen. Der christliche Glaube ist der Glaube, der von Climacus als die Religiosität B umschrieben wird. Der christliche Glaube ist vermittelt durch ein "Etwas außerhalb des Individuums"[69]. Dieses Etwas ist die Menschwerdung Gottes durch Jesus Christus. Die Religiosität A ist letztlich nicht ausreichend, da das Ewige in dieser Form der Religiosität, noch immanent bleibt. Das Ewige umschließt aber jeden Menschen als bloße Zeitlich­keit immer und überall.[70] Positiv wird das Ewige aber auch erst bei Climacus in der Doppelbewegung (s. o.) des christlichen Glaubens. Climacus beschreibt den "Sprung" zum christlichen Glauben als einen "Bruch" "zwischen einem existierenden und dem Ewigen".[71] Dieser "Bruch" bleibt in der Religiosität A aus. Der "Bruch" bedeutet aber ebenso, daß der Glaubende mit dem Verstand bricht, denn der Halt durch den paradoxen Glauben und die Hinrichtung der Existenz auf diesen Glauben zieht eine "paradoxe Akzentuierung der Existenz" nach sich.[72] Bei Anti-Climacus wird die Existenz dagegen erst dann paradox, wenn der Mensch nicht annehmen kann, daß sich sein synthetisch zusammengesetztes Sein in der Macht des christlichen Gottes gründet (vgl. Kapitel I. 2).

Abschließend soll hier betrachtet werden, inwiefern besonders Climacus und Anti-Climacus in der Beschreibung der verschiedenen Bewußtseinszustände auf die Dialektik Hegels zurückgreifen. Sehr einleuchtend ist hier Schultes These, daß Kierkegaard (Anti-Climacus) Hegel beerbt, da auch Anti-Climacus den Menschen als Geist und darüber hinaus - bezüglich der Momente der Synthese - als Einheit von Gegensätzen definiert.[73] Dabei soll es hier aber nicht bleiben, da besonders darauf eingegangen werden soll, inwiefern die einzelnen Bewußtseins­zustände - sei es hier in Anti-Climacus Anthropologie oder auch in der Stadienlehre - den drei Stufen von These, Anti-These und Synthese entsprechen. Bei Anti-Climacus kann die unmittelbare Leib-Seele Einheit als These, die entzweiende Selbstreflexion als Anti-These und die erneute positve Einheit, die allein durch den paradoxen, christlichen Glauben bewirkt wird, als Synthese beschrieben werden. Dabei darf eines nicht übersehen werden: Die Synthese des Selbst als das positive Dritte wird nicht notwendig erreicht, d. h. es kann bei der unmittelbaren und negativen Einheit genauso wie bei der entzweienden Reflexion bleiben. Wäre dies nicht der Fall, hätte Anti-Climacus auf die Beschreibungen der verschiedenen Formen des Mißverhältnisses der Synthese als Verzweiflung verzichten können, da die Synthese ja notwendig gegeben wäre. Die Anwendung des dialektischen Modells auf die Stadienlehre wäre analog. Wie oben beschrieben ist die unmittel­bare Leib-Seele Einheit sehr dem Ästhetiker verwandt (These). Der in Selbstbehauptung reflektierende Ethiker (Anti-These) gelangt noch nicht zur Synthese als das "positive Dritte", da es ihm an dem Bewußtsein der religiösen Reue ermangelt. Mit der Reue wird der erste Schritt zu einer positiven Synthese unternommen (Religiosität A), die sich letztlich nur im paradoxen, christlichen Glauben verwirklicht (Religiosität B). Aber auch hier gilt, daß auch wenn die folgende "Sphäre" die vorherige "Sphäre" abgeschlossen und durchlaufen haben muß[74], muß die folgende Sphäre die vorhergehende noch lange nicht ablösen. Jede Stufe oder Sphäre ist total. Ein Erlangen der nächst höheren Stufe läßt sich nicht mediieren, sondern wird nur kraft des Sprunges - als Synonym für die bewußte Entscheidung - erreichbar.

[...]


[1] Vgl. Michael Theunissen und Wilfried Greve, Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards (Frankfurt am Main, 1979), S. 13.

[2] Was ist nun die Krankheit zum Tode? "Indeed, the true sickness unto death is despair." (Vgl. H. E. Baber and John Donnelly, "Self-Knowledge and the Mirror of the Word", International Kierkegaard Commentary: The Sickness unto Death, ed. Robert L. Perkins (Macon (Georgia), 1987), S. 161.)

[3] Was sagen wir nun? Anti-Climacus, Climacus, Haufniensis oder allgemein Sören Kierkegaard? Das Problem der Pseudonyme dürfte auf jeden zukommen, der sich wissenschaftlich mit den Werken Sören Kierkegaards auseinandersetzt. Weiter unten soll begründet werden, warum hier fast ausschließlich von den Pseudonymen die Rede sein wird.

[4] Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode: Eine christliche psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus, übers. u. mit e. Glossar, Bibliogr, sowie e. Essay "Zum Verständnis des Werkes", ed. Liselotte Richter, Europäische Verlagsanstalt (Hamburg, 1991), S. 28. (Abk.: KT. Die Abkürzungen werden vollständig im Abkürzungsverzeichnis aufgeschlüsselt) Bei Anti-Climacus wird nicht zwischen Selbstbewußtsein und Bewußtsein unterschieden. Vgl. I. 1.

[5] Hier ist nun tatsächlich von Sören Kierkegaard und nicht von Anti-Climacus die Rede, da unterstellt wird, daß der Zeitbegriff bei Sören Kierkegaard einheitlich ist und nicht gemäß der einzelnen philosophischen Betrachtungen, die seine Pseudonyme vortragen, unterschieden wird. Eine Ausnahme ist sicherlich der Ästhetiker in Entweder-Oder (I).

[6] Vgl. S. Crites, "The Sickness unto Death: A Social Interpretation,"Foundations of Kierkegaard's Vision of Community, ed. George B. Connell and C. Stephen Evans (New Jersey; London, 1992), S. 145f.

[7] W. Anz, "Selbstbewußtsein und Selbst: Zur Idealismuskritik Kierkegaards", Text & Kontext, Sonderreihe Band 7, ed. K. Bohnen und S.-A. Jörgensen (Kopenhagen; München, 1980), S. 49.

[8] Vgl. M. Theunissen, Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, ed. M. Theunissen u. W. Greve (Frankfurt am Main, 1979), S. 45f.

[9] Ob die "Existenzsphäre" des Ethischen nicht auch in der Krankheit zum Tode auffindbar ist, wird sich im Verzweiflungskapitel zeigen. (Vgl. II. 4)

[10] Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist ein Aufsatz von John D. Glenn (Jr.), in dem die Stadienlehre mit Kierkegaards Entwurf des Selbst in Verbindung gebracht wird. Vgl. John D. Glenn (Jr.), " The Definition of the Self and the Structure of Kierkegaard's Work", International Kierkegaard Commentary: The Sickness unto Death, ed. Robert L. Perkins (Macon, 1987), S. 5-21.

[11] Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode: Eine christliche psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus, übers. u. mit e. Glossar, Bibliogr. sowie e. Essay "Zum Verständnis des Werkes", ed. Liselotte Richter, (Hamburg, 1991), S. 13. (Abk.: KT)

[12] Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken I von Johannes Climacus, übers. von Hans Martin Junghans, ed. Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans (Gütersloh, 1988), S. 71. (Abk.: AN)

[13] Alastair Hannay, "Spirit and the Idea of the Self as a Reflexive Relation", International Kierkegaard Commentary: The Sickness unto Death, ed. Robert L. Perkins (Macon, 1987), S. 23.

[14] Vgl. AN II, S. 4.

[15] W. Anz, Selbstbewußtsein und Selbst: Zur Idealismuskritik Kierkegaards, Text und Kontext, Sonderreihe Band 7, ed. K. Bohnen und S.-A. Jörgensen (Kopenhagen; München, 1980), S. 55.

[16] Morse Peckham, "Beitrag zu einer Theorie der Romantik", Begriffsbestimmung der Romantik, ed. Helmut Prang (Darmstadt, 1968), S. 357.

[17] KT, S. 13.

[18] Jann Holl, Kierkegaards Konzeption des Selbst: Eine Untersuchung über die Voraussetzungen seines Denkens (Maisenheim am Glan, 1972), S. 118.

[19] Kierkegaard unterscheidet nicht zwischen Selbstbewußtsein und Bewußtsein: "So ist das Bewußtsein das Entscheidende. Überhaupt ist Bewußtsein, d. h. Selbstbewußtsein, das Entscheidende in bezug auf das Selbst." (KT, S. 28.) Hier sieht Adorno Kierkegaards gescheiterten Versuch, sich vom Idealismus zu befreien. (Theodor W. Adorno, "Kierkegaard noch einmal", Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, ed. M. Theunissen und W. Greve (Frankfurt am Main, 1979), vgl. bes. S. 562; 566; 572.) Da Kierkegaard nur ein Bewußtsein kennt, nämlich das Bewußtsein seiner selbst - bei Adorno die "objektlose Innerlichkeit" bzw. das "absolute Fürsichsein" -, muß dieser Rückzug auf das reine Selbstverhältnis bedeuten, daß die "gegebenen Verhältnisse so sanktioniert werden, wie sie sind.“ Nach Adornos wie auch Hegels Dialektik muß darüberhinaus gelten, daß nur durch die Entäußerung an ein Fremdes - z. B. Bildung und Wissenschaft - ein Selbstbewußtsein erwachsen kann. Bei Hegel wäre Kierkegaards Selbst, das erst zum Selbst wird in der Innerlichkeit und der Selbstreflexion das "absolute Selbstbewußtsein, in dem das Bewußtsein versinkt“. Diesem Selbst würde die Kraft der Entäußerung fehlen, die aber bei Hegel die Grundlage dafür wäre, das Denken in Sein zu verwandeln. (G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Hamburg, 1988), S. 432f.)

[20] Jann Holl, 1972, S. 117.

[21] M. Theunissen, "Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode", Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, ed. M. Theunissen u. W. Greve (Frankfurt am Main, 1979), S. 502.

[22] M. Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard (München, 1982), S. 44.

[23] M. Carignan "L'Éternel comme Tiers Synthétisant chez Kierkegaard", Philosophiques, 8 (Avril, 1981), 86.

[24] Michael Theunissen, "Das Menschenbild in der Krankheit zum Tode", Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, ed. M. Theunissen u. W. Greve (Frankfurt am Main, 1979), S. 500.

[25] Ebd., S. 501.

[26] Ebd.

[27] W. Anz, 1980, S. 55.

[28] Daß diese reflexionsbedingte Entzweiung ein Leib-Seele Dualismus nach sich zieht, wird erst dann faßbar, wenn die entgegengesetzten Momente der Synthese auf Leib und Seele bezogen werden. Hierbei muß auf Haufniesis Theorie des Selbst zurückgegriffen werden. (Vgl. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst: Eine simple psychologisch-hinweisende Erörterung in Richtung des dogmatischen Problems der Erbsünde von Vigilius Haufniensis, übers. u. mit e. Glossar, Bibliogr. sowie e. Essay "Zum Verständnis des Werkes", ed. Liselotte Richter (Hamburg, 1991), S. 78ff.) Bei Haufniensis war noch von zwei Synthesen die Rede. Bei der ersten Synthese werden Leib und Seele vom Geist getragen. Bei der zweiten Synthese vereinigen sich das Zeitliche und das Ewige in dem Augenblick, in dem sich das Selbstverhältnis vor und mit Gott realisiert. (Zum Augenblick vgl. I. 4 u. s.w.o.) Wie es auch hier vorgeschlagen wird, versucht Maurice Carignan die erste Leib-Seele Synthese auf die zweite Synthese des Zeitlichen und Ewigen bei Haufniensis zu übertragen und er geht soweit die Leib-Seele Opposition auch auf die entgegengesetzen Momente der Synthese bei Anti-Climacus anzuwenden. Damit wird der Seele-Leib Dualismus greifbar, da sich in ihm die entgegengesetzten Momente der Synthese widerspiegeln. (Daß die durch die Selbstreflexion bewirkte Leib-Seele Spaltung nur im Glauben aufgehoben werden kann, wird im Verlaufe dieses Kapitels beschrieben.) So Maurice Carignan: "Le mot Udrykket (la traduction, l'expression), employé par Vigilius pour caractériser le rapport entre les deux synthèses, semble évoquer une équivalence entre le corps et le temporel, l'âme et l'éternel, l'ésprit et l'instant. Et ce parallélisme vaudrait également pour les deux autres couples dialectiques indiqués plus tard par Anti-Climacus: fini-infini, et nécessité-possibilité dont les éléments synthétisants sont respectivement le moi et la liberté." (Vgl. M. Carignan, 1981, 78.)

[29] Hiermit ist die zweite Form des Mißverhältnisses und der Verzweiflung angesprochen. War die unmittelbare Einheit Leib-Seele unreflektiert, aber schon deswegen Verzweiflung, da der Mensch als Geist bestimmt ist, auch wenn er kein Bewußtsein davon trägt, so ist die bewußte Verzweiflung eine "Entgleisung" der Synthese, da sie nicht in einem Gottesverhältnis gründet. Baber und Donnelly argumentieren an dieser Stelle, daß Kierkegaard's Konzept des Selbst dadurch motiviert sei, zwischen bewußter und unbewußter Verzweiflung zu unterscheiden: "[...] we argue that Kierkegaard's rather obscure dictum that the self is a "relation that relates to itself" is motivated by his interest in distinguishing between reflective and unreflective despair. He characterizes the former as despairing consciousness that is conscious of itself, the latter as despairing consciousness that lacks such self-consciousness." (Vgl. H.E. Baber and John Donnely, "Self-Knowledge and the Mirror of the Word", International Kierkegaard Commentary: The Sickness unto Death, ed. Robert L. Perkins (Macon, 1987), S. 163.) Die Frage nach der Motivation ist sicherlich nicht entscheidbar. Allerdings ist es richtig, daß die unbewußte Verzweiflung schon in dem unmittelbaren Selbst - als negative Einheit - und die bewußte Verzweiflung in der negativen Synthese verankert ist.

[30] Vgl. Jann Holl, 1972, S. 118. Hier muß John D. Glenn (Jr.) widersprochen werden, da er hervorhebt: "[...] every self-relation also involves a God-relation, whether or not the self is aware of its foundation in God." (John D. Glenn (Jr.), 1987, S. 15.)

[31] Vgl. KT, S. 13

[32] Die Möglichkeit, daß das Selbst als ein Verhältnis zum Verhältnis selbst gesetzt ist, wird nicht diskutiert. So auch Guardini: "Die erste Möglichkeit, nach der die menschliche Person aus und durch sich selbst bestünde, die ontische Autonomie also des Menschen, wird überhaupt nicht erörtert." (Vgl. Romano Guardini, "Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards", Vom Sinn der Schwermut (Mainz, 1987), S. 67f.)

[33] KT, S. 28. Spätestens an dieser Stelle muß deutlich werden, daß Anti-Climacus' Anthropologie theologischen Charakter hat. Dabei ist folgende Überlegung zu beachten: Die Annahme, daß das Selbst gottgesetzt ist und sich deshalb nur in einem Gottesverhältnis realisieren läßt, ist noch nicht theologisch, sondern religiös, da hier noch nicht auf ein bestimmtes Gottesverhältnis bzw. eine bestimmte Religion abgehoben wird. Da aber - wie sich auch weiter oben zeigen wird - Anti-Climacus letztlich allein das christliche Gottesverhältnis vor Augen hat und seine Anthropolgie des Selbst nur auf dieses abzielt, erhält Anti-Climacus' Anthropologie einen theologischen Zug. (Vgl. zu diesen Ausführungen: John D. Glenn (Jr.), 1987, S. 16. und Jörg Disse, Kierkegaards Phänomenologie der Freiheitserfahrung (Freiburg; München, 1990), bes. S. 114. u. S. 122.

[34] KT, S. 39.

[35] Vgl. a. Arne Gröns Ausführungen, nach denen die Doppelbewegung letztlich eine einzige Bewegung von der bloßen zu einer potenzierten Endlichkeit darstellt. "Die Doppelbewegung besteht also 1. in dem Überschreiten des bloß Endlichen in die Unendlichkeit des Selbst, 2. in der Rückkehr zu einer akzentuierten Endlichkeit. Es handelt sich jedoch nur um eine einzige Bewegung: das Überschreiten des bloß Endlichen geschieht, um zu einer potenzierten Endlichkeit zurückzukommen, oder mit anderen Worten, um die Endlichkeit wiederzugewinnen, um sie unendlich zurückzubekommen." (Vgl. Arne Grön, "Das Transzendenzproblem bei Kierkegaard und beim späten Schelling", Text & Kontext, Sonderreihe Band 7, ed. K. Bohnen und S.-A. Jörgensen (Kopenhagen; München, 1980), S. 136.

[36] KT, S. 28.

[37] G. Figal, "Schellings und Kierkegaards Freiheitsbegriff", Text & Kontext, Sonderreihe Band 7, ed. K. Bohnen und S.-A. Jörgensen (Kopenhagen; München, 1980), S. 122.

[38] KT, S. 108.

[39] Vgl., AN I, S. 201.

[40] KT, S. 37. Zu den Themenbereichen Paradoxer Glaube-Paradoxe Existenz vgl. I. 2. Zu dem Begriff des Ärgernisses vgl. bes. III. 2.

[41] Romano Guardini, "Vom Sinn der Schwermut", Vom Sinn der Schwermut (Mainz, 1987), S. 53.

[42] Besonders zwei Kapitel aus Kierkegaards Entweder-Oder müssen für die folgenden Ausführungen besonders hervorgehoben werden. Zunächst das Kapitel I. "Diapsalmata" und 2. Kapitel VII. "Die Wechselwirtschaft. Versuch einer sozialen Klugheitslehre". Vgl. Sören Kierkegaard, "Entweder-Oder Teil I: Ein Lebensfragment herausgegeben von Victor Eremita, unter Mitwirk. von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard Gesellschaft, übers. von Heinrich Fauteck, ed. Hermann Diem und Walter Rest (München, 1988). (Abk.: EO)

[43] "Der junge Mensch" in den Stadien auf des Lebens Weg ist offenbar "der junge Mensch" aus Die Wiederholung. Hier zeigt sich gerade dieser als der Ästhetiker par excellence, da seine Verliebtheit lediglich poetisch und damit nur möglich ist. Vgl. 1. Sören Kierkegaard, Stadien auf des Lebens Weg I: Studien von Verschiedenen zusammengebracht, zum Druck befördert und herausgegeben von Hilarius Buchbinder, übers. von Emanuel Hirsch, ed. Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes (Gütersloh, 1991); (Abk.: SLW) 2. Sören Kierkegaard, Die Wiederholung: Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius, übers. u. mit e. Glossar, Bibliogr. sowie e. Essay "Zum Verständnis des Werkes", ed. Liselotte Richter (Hamburg, 1991). (Abk.: W)

[44] Vgl. SLW, S. 40.

[45] EO, S. 34.

[46] John D. Glenn, 1987, S. 10. Vgl. EO, S. 41: "Nicht ich bin also der Herr meines Lebens, ich bin auch nur ein Faden ..."

[47] Vgl., EO I, S. 340f.

[48] Ebd., S. 341.

[49] Ebd., S. 340.

[50] EO II, S. 815.

[51] Vgl. AN I, S. 254. Climacus beschreibt die ständige Erneuerung der Liebe in bezug auf den Ethiker folgendermaßen: "[...] so besteht ja auch die Innerlichkeit der Liebe nicht darin, daß man sich siebenmal mit Landsmänninnen verheiratet und dann auf die Französinnen, die Italienerinnen usw. losgeht, sondern darin, daß man ein und dieselbe liebt und sich doch beständig in derselben Liebe erneuert, so daß sie im Aufblühen der Stimmung und der üppig wachsenden Entfaltung beständig neu ist, was, wo es um Mitteilung geht, die unerschöpfliche Erneuerung und Fruchtbarkeit des Ausdrucks bedeutet."

[52] Vgl. EO II, S. 684f. Vgl. a. John D. Glenn (Jr.), 1987, S. 14: "Marriage unites the eternal and the temporal by providing the different moments of life with continuity and a unitary meaning."

[53] Ebd. S. 776.

[54] EO II, S. 783.

[55] Vgl. AN II, S. 283f.

[56] Anhand des Ethikers wird noch einmal deutlich, daß nicht jedes Selbstverhältnis auch ein Gottesverhältnis ist.

[57] Vgl. John D. Glenn (Jr.), 1987, S. 14

[58] Louis P. Pojman, "The Logic of Subjectivity: Kierkegaards Philosophy of Religion" (Alabama, 1984), S. 80.

[59] Anthony Rudd, Kierkegaard and the Limits of the Ethical (Oxford; New York, 1993), S. 134.

[60] Vgl. ebd.

[61] Gerichtsrat Wilhelms Reuebegriff muß also neu übersetzt werden. So sieht auch Collins, daß Wilhelms Idee der Reue nicht religiöser Natur ist und bietet folgendes Modell an: "But when Judge William explains in detail what he means by repentance, it turns out to be more an honest recognition of the individual in his concrete nature than a religious sorrow over sinfulness and a determination to amend. It is a deliberate replacement of the individual in his actual social and historical environment, as a countermeasure to the Romantic tendency to divorce the individual from his real setting and to substitute for it a tissue of idealized possibilities and lineages”. Vgl. James Collins, The Mind of Kierkegaard (Princeton (New Jersey), 1983), S. 84f.

[62] KT, S. 13.

[63] Vgl. AN II, S. 271f.

[64] Jörg Disse, 1990, S. 141.

[65] Vgl. AN II, S. 271f.

[66] Vgl. AN II, S. 273.

[67] Vgl. AN II, S. 272.

[68] Vgl., Jörg Disse, 1990, S. 122.

[69] Vgl. AN II, S. 272.

[70] Vgl. ebd., S. 242.

[71] Ebd.

[72] Ebd.

[73] Vgl. C. Schulte, "Kierkegaard Böses oder Sünde", radikal böse: Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche (München, 1988), S. 305f.

[74] Vgl. AN II, S. 93 "Nimmt man das Religiöse, so gilt, daß dies das Ethische durchlaufen hat." Vgl. hierzu James Collins, 1983, S.45 und s. w. u.: "It may be thought that an individual is required to begin with the esthetic rung of the ladder of life and then mount up, in succession, to the ethical and religious rungs. But Kierkegaard did not intend this schema to be understood according to any temporal order, nor did he mean that one way of life is left completely behind, as one would leave behind the lower steps of a ladder."

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in Sören Kierkegaards "Krankheit zum Tode"
Hochschule
Universität Münster  (Philosophische Fakultät)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
1995
Seiten
105
Katalognummer
V33541
ISBN (eBook)
9783638339902
ISBN (Buch)
9783638717731
Dateigröße
968 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In meiner Arbeit geht es um eine umfassende Analyse der "Krankheit zum Tode", wobei die Begriffe Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis im Mittelpunkt stehen. Die "Krankheit zum Tode" wird nicht isoliert betrachtet, sondern andere Werke von Sören Kierkegaard tragen dazu bei mehr Licht in dieses schwierige Werk zu bringen. In meiner Arbeit ist die US-amerikanische Fachliteratur (u. a.) umfassend berücksichtigt worden.
Schlagworte
Selbstbewußtsein, Selbsterkenntnis, Sören, Kierkegaards, Krankheit, Tode
Arbeit zitieren
Wolfram Schäfer (Autor:in), 1995, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in Sören Kierkegaards "Krankheit zum Tode", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33541

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