"Wenn wij keen Tee hebben, muten wij starben!". Ein Teekraut aus Übersee erobert Ostfriesland


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

29 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Stadien der Integration des überseeischen Teekrauts in den ostfriesischen Alltag
2.1 Erste Berührungen mit dem neuen Teekraut aus Übersee in Ostfriesland
2.2 Integration des importierten Tees in ostfriesische Konsumgewohnheiten
2.3 Surrogate und Zusätze
2.4 Teegeschirr als neues Gebrauchsgut
2.5 Neue Konsumgewohnheiten und Lebensformen
2.6 Impulse für die Entwicklung von Handwerk und Gewerbe in Ostfriesland

3. Der Ostfriesentee als regionales Identifikationsmerkmal für Ostfriesland
3.1 Herausbildung einer ostfriesischen Sorte
3.2 Anstieg der Konsumentengruppe in Ostfriesland
3.3 Die ostfriesische Teezeremonie
3.4 Werbung und Qualitätssymbole

4. Resümee und Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der norddeutschen Provinz Ostfriesland und einigen oldenburgisch-emsländischen Nachbarbereichen bekommt man heutzutage zu jeder Tageszeit einen gutschmeckenden, starken, schwarzen Tee gereicht, der unter der Bezeichnung „Ostfriesische Mischung“ hohe Bekanntheit erlangte. Der erste Kontakt zwischen der ostfriesischen Bevölkerung und dem neuen Teekraut aus Übersee wurde aber erst möglich als die Europäer begannen, die kontinentalen Grenzen zu überschreiten und im Rahmen ihrer kolonialen Herrschaft fremde Lebensmittel aus Übersee mit nach Europa zu bringen.[1]

Das Teekraut gelangte Anfang des 17. Jahrhunderts erstmals mit nieder-ländischen Schiffern aus Japan und China nach Europa und auch nach Ostfriesland. Im ostfriesischen Raum fand es eine neue Heimat und wird dort heute in großen Mengen quer durch alle Bevölkerungs- und Sozialschichten genossen. Die Bedeutung des Tees für das ostfriesische Volk wurde insbesondere in den sogenannten „Tee-Notzeiten“ während der beiden Weltkriege und in der Folgezeit deutlich als hochbetagte Ostfriesen sogar so weit gingen und den Verzicht auf ihr geliebtes Genussmittel in dem Klagelied „Wenn wi keen Tee hebben, muten wi starben!“ betrauerten.[2] Wie genau aber gelang es dem Tee seine bis heute anhaltende Beliebtheit bei den Ostfriesen zu erlangen? Die Beantwortung folgender Frage steht daher im Fokus dieser Arbeit:

„Wie konnte sich der Tee aus Übersee im 19. und 20. Jahrhundert zu einem Erkennungsmerkmal für Ostfriesland entwickeln und somit identitätsstiftend wirken?“

Die Anregung zu diesem Thema ergab sich aus der Lektüre des Kurses „Übersee in unserem Alltag. Die Rückwirkungen der Europäischen Expansion seit dem 16. Jahrhundert“, der wiederum Bestandteil des Moduls 6G „Ausbreitung der Moderne. Europa und die Welt“ des Studiengangs „Europäische Moderne: Geschichte und Literatur“ ist. In diesem Modul werden die Interaktionen und Austauschprozesse zwischen den Europäern und der außereuropäischen Welt behandelt, welche entscheidenden Einfluss auf die globale Auswirkung der Moderne hatten. In Bezug auf das Thema dieser Arbeit lernten die Ostfriesen wie auch andere Teile Europas das neue Teekraut aus Fernost kennen, setzten sich mit dem asiatischen Kulturkreis und dessen Trinkgewohnheiten auseinander, übernahmen fernöstliche Traditionen in ihre Trinkkultur und entwickelten eigene soziokulturelle Brauchtümer. Das ostfriesische Volk ging kreativ mit dem Teekraut aus Übersee um und veränderte seine Trinkgepflogenheiten.

Gute Darstellungen über die lokalen Aneignungspraktiken des Tees in der ostfriesischen Region finden sich bei Haddinga (1986), Wassenberg (1992), Kaufmann (1989) und Hangen (1988). Insbesondere Kaufmann (1989) stützt seine Ausführungen zur Sozialgeschichte des Teetrinkens in Ostfriesland im 18. und 19. Jahrhundert zum großen Teil auf ostfriesisches Quellenmaterial.[3] Die Werke von Menninger (2004), Schivelbusch (1983) und Schiedlausky (1961) lassen sich für eine vergleichende Betrachtungsweise des Konsums der neuen Heißgetränke Kaffee, Schokolade und Tee im europäischen Kontext heranziehen.

In Kapitel 2 dieser Arbeit soll in Anlehnung an die Stadien der Integration überseeischer Pflanzen und Güter in europäischen Lebenswelten[4] die Aufnahme des überseeischen Teekrauts in den ostfriesischen Alltag aufgezeigt werden, die die Grundlage einer späteren Identitätsstiftung bildete. In Kapitel 3 werden Kriterien angeführt, die eine Identitätsstiftung des Tees für Ostfriesland belegen. Im Kapitel 4 erfolgen eine abschließende Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse sowie die Beantwortung der zentralen Frage der Hausarbeit. Ein kurzer Ausblick über die heutige Verbreitung des Tees in Deutschland rundet das Resümee ab.

2. Stadien der Integration des überseeischen Teekrauts in den ostfriesischen Alltag

Aus historischer Sicht werden bei der Integration überseeischer Pflanzen und Güter in europäische Lebenswelten acht Stadien angeführt, in denen die fernöstlichen Importe von den Europäern weiterverarbeitet oder zu neuen Variationen umgestaltet wurden, um so einen eigenen Prozess an Kreativität in Gang zu setzen.

Im ersten Stadium dieser Integration (vgl. Kapitel 2.1) taucht das überseeische Produkt zum ersten Mal in die Oberfläche europäischer Lebenswelten ein. Im zweiten Integrationsstadium werden z.B. importierte Pflanzen an die Bodenverhältnisse und die Klimabedingungen des europäischen Importlandes adaptiert. Dieses Stadium fand jedoch beim Tee nicht statt, da das Kraut in Europa aufgrund der erforderlichen klimatischen Bedingungen nicht in wirtschaftlich bedeutendem Maße kultiviert werden konnte. Während des dritten Stadiums (vgl. Kapitel 2.2) wird das überseeische Handelsgut in lokale und regionale Konsumgewohnheiten integriert und neue Erwerbsmöglichkeiten für europäische Händler geschaffen.[5] Die Suche nach billigeren Substituten und Surrogaten, welche dem vierten Integrationsstadium (vgl. Kapitel 2.3) zugerechnet werden kann, fand beim Tee in erster Linie für das einfache Volk statt, für welches das fernöstliche Teekraut anfangs noch unbezahlbar war.[6] Das fünfte Stadium dieser Integration (vgl. Kapitel 2.4) stellt die Entwicklung neuer Gebrauchsgüter und –formen dar, bei dem z.B. für die Heißgetränke Kaffee, Schokolade und Tee ein jeweils eigenes und unverwechselbares Geschirr hervorgebracht wurde. Im Verlauf der sechsten Integrationsstufe (vgl. Kapitel 2.5) bilden sich für das Handelsgut neue Konsumgewohnheiten und Lebensformen aus.[7] Impulse für die Entwicklung von Handwerk und Gewerbe werden im siebten Stadium (vgl. Kapitel 2.6) dargestellt. Das achte Stadium der Identitätsstiftung wird gesondert in Kapitel 3 dieser Arbeit untersucht, in dem Kriterien beleuchtet werden, die eine Identitätsstiftung des Tees für Ostfriesland belegen sollen.[8]

In diesem Kapitel soll anhand der genannten Integrationsstadien die Aufnahme des fremden Teekrauts in den ostfriesischen Alltag aufgezeigt werden, die die Voraussetzungen für die spätere Identitätsstiftung schufen.

2.1 Erste Berührungen mit dem neuen Teekraut aus Übersee in Ostfriesland

Bevor die Ostfriesen Bekanntschaft mit Tee aus Übersee schlossen, spielte der Alkohol bis in das 17. Jahrhundert hinein eine zentrale Bedeutung auf ihrem Speiseplan. Neben dem Brot war das Bier ein wesentlicher Bestandteil der Nahrung breiter Volksschichten Mittel- und Nordeuropas.[9] Ein wesentlicher Grund für den hohen Bierverzehr und auch den späteren Teekonsum lag in der mangelhaften Qualität des Trinkwassers in Ostfriesland, welches durch den hohen Gehalt an organischen Stoffen und Eisen, vor allem in den Moorgebieten, als ungenießbar galt. Die Ostfriesen gingen daher dazu über, Regenwasser aufzufangen, abzukochen und zu Bier und später zu Tee zu verarbeiten.[10]

Das Bier wurde in fast jedem Dorf Ostfrieslands von Brauern im Nebengewerbe produziert. Der Hopfen stammte meist aus dem Münsterland, vereinzelt aber auch aus einheimischen Gehölzen oder Gärten. Bier wurde sowohl als Getränk als auch in Form einer Mahlzeit wie der Biersuppe oder Warmbier mit Honig, Eiern und Ingwer verzehrt.[11]

Bereits während der Reformationszeit wurde der hohe Bierkonsum von vielen Humanisten kritisiert. Ferner entwickelte sich in Ostfriesland in dieser Zeit eine calvinistische Sozialethik heraus, die eine Erweiterung der bürgerlichen Freiheiten mit sich brachte und das „Saufen“ als Problem darstellte.[12] Allerdings schien die Gefahr für „die in alkoholischer Benebelung dahin-dämmernde Menschheit“ erst mit dem Auftauchen der neuen Heißgetränke aus Übersee im 17. Jahrhundert gebannt zu sein.[13]

Im Falle des Tees führten die ersten Berührungen der Ostfriesen mit der neuen Ware in das frühe 17. Jahrhundert zurück.

Im Jahre 1610 brachten erstmals Schiffe der Vereenigde Oostindische Compagnie (kurz: VOC) eine kleine Ladung grünen Tee mit nach Europa.[14] Die Ostindischen Kompanien waren staatlich bevorrechtigte Handelsgesell-schaften, die in mehreren Nationen Europas bestanden und Handel mit Indien und Ostasien betrieben. Die Niederländische Ostindien-Kompanie hatte zu diesem Zeitpunkt das europäische Monopol für den Handel mit Asien.[15] Da sie keinen direkten Zugang zu China hatte, führte sie den Tee über Java ein. Ab 1637 nahm jedes niederländische Schiff vom Handelsstützpunkt Batavia (heute: Jakarta) einige Kisten chinesischen und japanischen Tee mit an Bord. Viele Ostfriesen fuhren als Schiffer auf niederländische Rechnung zur See, wodurch es zu einer ersten Berührung mit dem neuen Teekraut in Ostfriesland kam.[16]

Sehr bald nach den ersten Importen wurde dem Tee eine starke wissen-schaftliche Beachtung geschenkt und er wurde in den Fokus der medizinischen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts gestellt, die u.a. durch Cornelius Bontekoe unterstützt wurde. Bontekoe war der niederländische Leibarzt des Kurfürsten von Brandenburg. Er sah in dem Wunderkraut aus Fernost ein Allheilmittel gegen den Scharbock und in erster Linie gegen die Trunkenheit und erklärte es zu einem sehr gesunden Getränk.[17] So ging man davon aus, dass die warme Flüssigkeit mit ihrer schweiß- und urintreibenden Wirkungsweise dem Blut zähflüssigen Schleim und Salz entzog und damit einer Verstopfung mit Schleim in den Organen Lunge, Brust und Leberdrüsen vorbeugte. Blasen- und Nierensteine würden durch die urintreibende Kraft abgewendet werden.[18] In seinem Traktat von 1678 erklärte Bontekoe, dass das tägliche Trinken von zehn bis fünfzig Tassen Tee zu empfehlen sei und er den Genuss von zwei- bis dreihundert Tassen Tee als harmlos angeben kann. Dadurch geriet er in den Verdacht von der Ostindischen Handelskompanie bestochen worden zu sein. Unbestreitbar haben seine Schriften jedoch federführend dazu beigetragen, den Teekonsum in Europa zu heben.[19] Neben medizinischen Motiven schätzten die Menschen das neue „Wunder-kraut“ auch als Genussmittel hoch, da es besonders wirksam gegen den natürlichen Phlegmatismus, die Müdigkeit war. Aufgrund der vielen heilkundlichen Verwendungsmöglichkeiten waren die neuen Gaumenfreuden anfangs nur in Gewürz- und Kolonialwarengeschäften oder Apotheken erhältlich. Da die Niederländer im 17. Jahrhundert ihre Monopolstellung ausnutzten, wurde der anfangs ausschließlich grüne Tee nur zu horrenden Preisen abgegeben und war daher den vermögenden Kreisen der ostfriesischen Bevölkerung vorbehalten. Erst auf Umwegen kamen auch Teile ärmerer Bevölkerungsschichten in Ostfriesland mit dem neuen „Luxustrank“ in Berührung, da ostfriesische Schiffer durch ihren Dienst bei den Niederländern billiger an Kostproben kamen.[20]

2.2 Integration des importierten Tees in ostfriesische Konsumgewohnheiten

Jede Nation hatte ein eigenes Interesse daran, eine Handelsgesellschaft zu gründen, damit durch den Kauf von Überseewaren bei ausländischen Kompanien nicht so viel eigenes Kapital abfloss.[21] Friedrich II. stimmte seine Wirtschaftspolitik im Sinne des Merkantilismus darauf ab. Preußen war es zu damaliger Zeit nicht möglich, eine eigene Handelsflotte aufzubauen, sodass sich ein florierender Außenhandel nur durch die Unterstützung privater Handelskompanien verwirklichen ließ. Um seine merkantilistische Politik vorantreiben zu können, kam Friedrich II. ein Umstand zugute als 1744 Karl Edzard, letzter Nachfahre des friesischen Fürstengeschlechts der Cirksena, starb und Ostfriesland infolgedessen an Preußen angegliedert wurde.[22] Der Emder Hafen bot den Preußen nun einen Zugang zur Nordsee und ermöglichte den eigenen Überseehandel. Im Mai 1751 wurde von Friedrich II. die Emder Ostasiatische Handelskompanie mit Sitz in der ostfriesischen Stadt Emden gegründet, welche in Konkurrenz zu den holländischen und englischen Ostindienkompanien trat. Die neue Handelsgesellschaft bekam das Monopol für die Handelsfahrt zwischen China und Preußen und sollte die Asienprodukte „aus erster Hand“ herbeischaffen und so den Zwischenhandel aus Amsterdam, London und Hamburg umgehen.[23] Der 6. Juli 1753 gilt als wichtiger Meilenstein in der ostfriesischen Teegeschichte. Nach sechzehn Monaten Fahrt kehrte das Kompanieschiff „König von Preußen“ in den Emder Hafen zurück. Als Fracht hatte es 546.676 Pfund Tee, immense Mengen chinesisches Porzellan und Cloisonnée sowie verschiedene Seidenstoffe und weitere Waren geladen. Die Ladung wurde erfolgreich versteigert und brachte den regionalen Händlern einen hohen Ertrag ein.

Am 4. Oktober 1752 stach ein zweites Kompanieschiff, die „Burg von Emden“, Richtung Kanton in See und kehrte ebenfalls erfolgreich nach eineinhalb Jahren mit einer großen Fracht an Tee, Porzellan und Seide zurück. Insgesamt nahmen vier Schiffe der Emder Ostasiatischen Handelskompanie auf sechs Fahrten den Seeweg nach China und konnten gute Gewinne einfahren.[24] Ein Teil der Ware blieb stets in Ostfriesland und führte im 18. Jahrhundert zu einer steigenden Beliebtheit des grünen Tees in den Adelskreisen und verbreitete sich zunehmend auch in den ärmeren Schichten der ostfriesischen Bevölkerung, da er durch die erheblich ansteigenden Teeeinfuhren aus Kanton nun günstiger war.[25] Das ehemalige Alltagsnahrungsmittel und -getränk Bier wurde nun von den neuen Importen Tee und Kaffee aus Übersee mehr und mehr verdrängt.[26] Eine Präferenz des Tees gegenüber dem Kaffee im ostfriesischen Raum lässt sich für das 18. Jahrhundert anhand der gering vorhandenen Quellenlage zur Sozialgeschichte aber noch nicht bestätigen.[27] Der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) und die Besetzung Ostfrieslands durch die Franzosen führten den wirtschaftlichen Niedergang der Emder Ostasiatischen Handelskompanie herbei, die sich 1765 auflöste. Direktimporte aus den asiatischen Erzeugerländern hat es daher in dieser Zeit nur vereinzelt gegeben. Von nun an erhielt die ostfriesische Region ihren grünen Tee vorrangig über die englische East India Companie (kurz: EIC), die seit 1717 immer wieder Tee von Kanton aus verschiffte. Die Teeexporte der EIC steigerten sich im dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auf das Vierfache gegenüber den 1820er Jahren.[28]

Um zu verhindern, dass Geld für den eingeführten Tee ins Ausland abfloss, war es Friedrich II. wichtig, den Bierkonsum wieder zu beleben. Er setzte durch, dass in Ostfriesland wieder vermehrt Gerste und Hopfen angebaut wurde und forderte den Konsum von beliebt gewordenem Tee und Kaffee wieder einzuschränken. Die Beamten der Kriegs- und Domänenkammer in Aurich verbreiteten immer neue Anstöße für die gesundheitsschädlichen Folgen des Teetrinkens. Allerdings war der hohe Bierverzehr der Vergangenheit nicht mehr zu beleben. In Ostfriesland ließen sich die Menschen nicht beirren und blieben beim Teetrinken.[29]

2.3 Surrogate und Zusätze

Die Forschung nach günstigen Ersatzstoffen wurde im Sinne der merkantilistischen Wirtschaftspolitik vom Staat finanziell gefördert. Die Suche nach Substituten und Surrogaten stellt ein viertes, bis heute nicht abgeschlossenes Stadium der Integration dar.[30] Die Teesurrogate spielten in erster Linie für den beginnenden Konsum des Tees in den Unterschichten eine wesentliche Rolle, da große Mengen des Chinatees für das einfache Volk noch zu teuer waren und ihnen der Konsum meist nur an Sonn- und Feiertagen durch mehrmaliges Aufbrühen finanziell möglich war. Der Kräutertee war eines dieser Teesurrogate und bestand wie das Original aus getrockneten Arzneipflanzen und diente dem einfachen Volk seit dem 17. Jahrhundert als Ersatzmedizin. Zudem ließen sich Teesurrogate mit wenig Aufwand herstellen, da die gesammelten Kräuter nur getrocknet werden mussten. Ein weiterer Vorzug dieses Surrogates bestand darin, dass die Kräuter im eigenen Land verfügbar waren und das Kapital auch hier verblieb.[31] Bemerkenswert ist, dass die Kräutertees, deren medizinischer Nutzen schon in vorgeschichtlicher Zeit angesehen ist, erst nach der Einfuhr des Originaltees aus China als dessen Surrogat in die Volksernährung eingeführt wurden.[32] Insgesamt betrachtet spielten Teesurrogate aber für den Großteil der ostfriesischen Öffentlichkeit eine eher untergeordnete Rolle, da sie wenig Trinkgenuss boten und zudem fast nie pur getrunken wurden.[33] Mit dem Auftreten der exotischen Importwaren Tee, Kaffee und Kakao rückte auch der Zucker als Süßstoff vermehrt in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Da alle drei Heißgetränke im Ursprung sehr bitter sind, fügten die Europäer ihnen Zucker zu. Der nun süß schmeckende Tee erfreute sich zunehmender Beliebtheit bei den neuen Konsumenten. Der gesüßte Tee nahm also im europäischen Konsumverhalten eine neue Form an und grenzte sich vom Verbrauch im Ursprungsland China ab, wo man ihn bis heute ungesüßt trinkt.[34] Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde der Zucker durch verbesserte Anbaumethoden in den englischen Kolonien zum preiswerten Massenartikel, wodurch der Tee dann mehr und mehr für die Volksernährung an Bedeutung gewann. Erst durch den Zucker wurde der ursprünglich „nahrlose“ Tee zum Kalorienlieferanten. Vom „Volksgetränk“ Tee kann man in Deutschland aber erst seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen, da in dieser Zeit die Rübenzuckerproduktion verbreitet wurde.[35] Neben dem Zucker verfeinerten die Ostfriesen ihren Tee zusätzlich mit Sahne oder fügten ihm Alkohol in Form von Rum oder Gewürze zu.[36]

2.4 Teegeschirr als neues Gebrauchsgut

Der Verzehr der andersartigen Nahrungs- und Genussmittel aus Übersee verlangte obendrein nach neuen Gebrauchsgütern und charakterisiert damit das fünfte Stadium der Integration eines überseeischen Imports. Für den Genuss der Heißgetränke Kaffee, Kakao und Tee schien ein prestigeträchtiges Trinkgeschirr angebracht.[37]

In Europa gab es noch kein geeignetes Material für den Konsum der fremden Heißgetränke. Die vorhandenen Becher und Pokale aus Metall erwiesen sich als unbrauchbar, da man sich beim Trinken schnell die Lippen verbrannte. Gefäße aus Glas zersprangen leicht, das Material Holz minderte den Geschmack und der Konsum aus einheimischer, überwiegend dickwandiger und schlecht zu reinigender Keramik stellte sich als ungeeignet dar. Durch den Handel der Niederländischen Ostindien-Kompanie mit China erreichte ein für die beliebten Heißgetränke vollkommenes Material Europa und begeisterte die Menschen: das Porzellan.[38] Nach Ostfriesland gelang das „weiße Gold“ aus dem Reich der Mitte, welches anfangs fast ausschließlich blau-weiß bemalt war, zusammen mit den Tee-lieferungen der Emder Ostasiatischen Handelskompanie.[39] Laut Menninger (2004) gingen der Tee und das teure Porzellan sowohl eine „zweckdienliche Absatzallianz“ als auch eine „vorteilhafte Transportsymbiose“ ein.

[...]


[1] Vgl. Wendt 2007, S. 11.

[2] Vgl. Haddinga 1986, S. 155.

[3] Vgl. Kaufmann 1989, S. 2.

[4] Vgl. Wendt 2007, S. 187.

[5] Vgl. ebd., S. 186ff.

[6] Vgl. Menninger 2004, S. 340.

[7] Vgl. Wendt 2007, S. 201f.

[8] Vgl. ebd., S. 187.

[9] Vgl. Schivelbusch 1983, S.32.

[10] Vgl. Haddinga 1986, S. 47.

[11] Vgl. ebd., S. 21.

[12] Vgl. Wassenberg 1992, S. 238f.

[13] Vgl. Schivelbusch 1983, S. 41ff.

[14] Vgl. Haddinga 1986, S. 21.

[15] Vgl. Nagel 2007, S. 7.

[16] Vgl. Reimertz 1998, S. 152.

[17] Vgl. Wassenberg 1992, S. 239f.

[18] Vgl. Menninger 2001, S. 29f.

[19] Vgl. Schiedlausky 1961, S. 6.

[20] Vgl. Haddinga 1986, S. 22.

[21] Vgl. Nagel 2007, S. 37f.

[22] Vgl. Deeters 1985, S. 63.

[23] Vgl. Kaufmann 1989, S. 84ff.

[24] Vgl. ebd., S. 88ff.

[25] Vgl. Menninger 2004, S. 333.

[26] Vgl. Wassenberg 1992, S. 237f.

[27] Vgl. Kaufmann 1989, S.114.

[28] Vgl. Kriedte 1994, S. 18.

[29] Vgl. Haddinga 1986, S. 35f.

[30] Vgl. Wendt 2007, S. 190.

[31] Vgl. Menninger 2004, S. 338ff.

[32] Vgl. Kaufmann 1989, S. 96.

[33] Vgl. ebd., S. 116.

[34] Vgl. Mintz 1992, S. 139f.

[35] Vgl. Kaufmann 1989, S. 79f.

[36] Vgl. Rothermund 1999, S. 145.

[37] Vgl. Wendt 2007, S. 190f.

[38] Vgl. Schiedlausky 1961, S. 18f.

[39] Vgl. Haddinga 1986, S. 29f.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
"Wenn wij keen Tee hebben, muten wij starben!". Ein Teekraut aus Übersee erobert Ostfriesland
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Historisches Institut)
Veranstaltung
Ausbreitung der Morderne: Europa und die Welt
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
29
Katalognummer
V335245
ISBN (eBook)
9783668252561
ISBN (Buch)
9783668252578
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tee, Ostfriesland, Überseehandel, Geschichte, Globalisierung, Identität
Arbeit zitieren
Henning Gädeken (Autor:in), 2016, "Wenn wij keen Tee hebben, muten wij starben!". Ein Teekraut aus Übersee erobert Ostfriesland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335245

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