Donaueschingen und Paul Hindemith. Stationen einer Doppelkarriere 1921-1930


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

46 Seiten, Note: sehr gut (1.0)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Das Thema
1.2 These und Ziel
1.3 Vorgehensweise

2. Programmschwerpunkte und Entwicklungstendenzen
2.1 Erste Phase: Kammermusikaufführungen
2.1.1 Chronologie
2.1.2 Die Bedeutung von Hindemiths Streichquartetten opp. 16 und 22
2.2 Zweite Phase: Spielarten der Musik der Neuen Sachlichkeit
2.2.1 Chronologie
2.2.2 Von der Bildenden Kunst zur Musik
2.2.3 Musikhistorische Situation
2.2.4 Ein neues ästhetisches Paradigma
2.2.5 Entstehung des Begriffs „Gebrauchsmusik“
2.2.6 Mechanische Musik
2.2.7 Gemeinschaftsmusik
2.2.8 „Lindberghflug“ und „Lehrstück“ als Synthesen neusachlicher Tendenzen
2.2.9 Zusammenfassung

3. Bemerkungen zu Adornos Abrechnung mit Hindemith und der Musik der zwanziger Jahre

4. Fazit

Anhang: Daten und Fakten zu Hindemiths Streichquartetten

Literatur- und Siglenverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Das Thema

Die „Donaueschinger Musiktage“ – für die sich in Fachkreisen das Schlagwort „Donaueschingen“ eingebürgert hat – gelten heute als eines der international renommiertesten Aufführungspodien für Neue Musik. Donaueschingen war und ist musikhistorisch wegweisend dadurch, dass an diesem Ort eine Vielfalt von Strömungen der Neuen Musik seit den 1920er Jahren exemplarisch repräsentiert wurde. Größtenteils ahnten die Programmgestalter neue Entwicklungen sogar voraus, indem sie den Komponisten für ihre Beiträge inhaltliche Schwerpunkte als jeweiliges Festivalmotto vorgaben. Im Donaueschingen der 20er Jahre wurden außerdem die ersten Schritte der Verbindung von Musik und Massenmedien in Deutschland präsentiert. Josef Häusler bezeichnet Donaueschingen schlechthin als „Spiegel der Neuen Musik“ (vgl. Häu).

Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Darstellung der 1920er Jahre, d.h. auf den Zeitraum von der Gründung der Musiktage 1921 bis in das Jahr 1930. Dieses Jahr markiert in der Geschichte der Musiktage eine Zäsur. In den Jahren danach wurde das Festival aus finanziellen und ideologischen Gründen eingestellt, erlebte dann von 1934 bis kurz vor Kriegsende eine Phase der Instrumentalisierung durch die nationalsozialistische Kunstideologie und wurde – nach einem fehlgeschlagenen, konservativen, Wiederbelebungsversuch nach dem Krieg – im Jahr 1950 als dasjenige Festival für Neue Musik (neu)begründet, als das es noch heute internationale Reputation genießt.

Bei der Beschäftigung mit dem ersten Jahrzehnt in Donaueschingen zeigt sich, dass die hier stattfindende Entwicklung engstens verknüpft ist mit dem künstlerischen Werdegang Paul Hindemiths (1895-1963). Die Person Hindemiths ist in dreifacher Weise mit den „Donaueschinger“ zwanziger Jahren verbunden. Erstens beteiligte er sich bis 1926 als einer der Aktivsten an den musikalischen Darbietungen. Zweitens war Hindemith der am meisten aufgeführte Komponist. Und drittens gehörte er seit 1923 dem dreiköpfigen „Arbeitsausschuss“ an, der das jährliche Programm zusammenstellte. Sein energischer Einsatz für zeitgenössische Komponisten und bestimmte ästhetische Richtlinien prägte das Festival maßgeblich. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Hindemith in ideeller Hinsicht der Hauptverantwortliche für Donaueschingens Weltruf ist. Zudem ist erwiesen, dass Hindemith selber durch Aufführungen seiner Werke in Donaueschingen international bekannt wurde.

1.2 These und Ziel

Mit meiner Arbeit möchte ich folgende These belegen: Das sowohl musikalische als auch ästhetisch-konzeptionelle Wirken Hindemiths in Donaueschingen liefert handfeste Gegenargumente gegen ein bis heute erstaunlich resistentes Urteil über Hindemith in der Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts.[1] Diesem Urteil nach stehen Hindemiths frühe Werke bis ca. 1924, was ihren musikalischen Avantgardismus betrifft, in einer Reihe mit den Werken Schönbergs, Bartóks und Strawinskys (vgl. Stu 1951, 174; ders. 1974, 18; Rie, 31). Jedoch macht man dabei eine Einschränkung. Während die letztgenannten Komponisten bereits ca. 15 Jahre vor Hindemith berühmt geworden waren und seitdem als eigentliche Pioniere der Neuen Musik gelten, habe Hindemith, der Spätergeborene, sich (zumindest) seine harmonischen Neuerungen bei den letzteren Komponisten, deren Bedeutung er sich bewusst war, „herausgelesen“. Sein Beitrag zum Umsturz bestehender musikalischer Ausdrucksformen sei nicht aus innerem musikalischen Bedürfnis, sondern nur aus naiver Freude am Experimentieren und Nachahmen geschehen (vgl. Stu 1951, 176; Fin 1971, 20[2] ). Aus der gleichen Ecke kommt ein weiteres Urteil, nämlich dass Hindemith durch die später (angeblich) vorgenommene Revision seiner avantgardistischen Einstellung seine künstlerischen Ziele von früher verraten habe (vgl. Stu 1974, 18; Fin 1971, 22 f.). Innerhalb des in der vorliegenden Arbeit zu besprechenden Donaueschinger Zeitraums wird Hindemiths „Revision“ an seinem Einsatz für die „Gebrauchs - und Gemeinschaftsmusik“ und seinen dieser Sparte gewidmeten Kompositionen dingfest gemacht (vgl. Abschnitte 2.2.7 ff.). Heute wie damals gehen einige namhafte im Musikleben stehende Persönlichkeiten so weit, zu behaupten, Hindemith habe durch die letztgenannten Aktivitäten den Boden mit vorbereitet für die völkische Kunstideologie der Nazis und ihre Politik der „entarteten Kunst“ (vgl. Häu, 116 f., sowie die Hinweise von Siegfried Mauser in: Mau, 7).

Das hier in einigen Aspekten skizzierte Hindemith-Bild hat sich seit den 1970er Jahren entwickelt und nachweislich eine Jahrzehnte andauernde „Isolation“ Hindemiths in

der Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts bewirkt. Auf diesen Befund kommen zahlreiche Publikationen jüngeren Datums.[3] Ziel meiner Arbeit ist es, durch eine

Aufarbeitung der Donaueschinger Aktivitäten auf Hindemiths zentrale musikgeschichtliche Bedeutung (erneut) hinzuweisen. Der Themenstellung entsprechend bleibt Hindemiths Schaffenszeit nach 1930 hier außer Betracht.

1.3 Vorgehensweise

Die Arbeit wird im Rahmen des ersten Donaueschinger Jahrzehnts zeigen, inwiefern Hindemith die damalige Entwicklung maßgeblich beeinflusst hat und selber in Donaueschingen die ersten eigenständigen Entwicklungsstufen als Komponist vollzog. Die musikhistorische Bedeutung Hindemiths soll im Wechselspiel mit Donaueschingens Repräsentativität für die musikalisch-avantgardistischen Tendenzen der zwanziger Jahre in Deutschland dargestellt werden.

Ich teile das Donaueschinger Jahrzehnt in zwei sich teilweise überlappende Phasen ein (vgl. Abschnitte 2.1 und 2.2). Nach einer jeweils knapp gehaltenen Chronologie gehe ich in beiden Abschnitten auf einige Ereignisse ausführlicher ein, die mir als besonders exponiert für die zu besprechende Doppelkarriere erscheinen. In Abschnitt 2.1.2 wird auch die oben angedeutete Geringschätzung Hindemiths als Komponist zur Sprache kommen. Abschnitt 2.2, der den Zeitraum 1925-1930 behandelt, ist wesentlich umfangreicher als der vorhergehende Abschnitt. Ich werde dort nicht nur konkrete „Events“ darstellen, sondern auch herausarbeiten, inwiefern sie repräsentative Spielarten der Musik der Neuen Sachlichkeit sind.

Da in meiner Darstellung einige Fehlurteile über Hindemith zurechtgerückt werden sollen, möchte ich nicht darauf verzichten, deren mutmaßliche Wurzel wenigstens anzusprechen. Es handelt sich um die ideologiekritisch begründete Abrechnung von Theodor W. Adorno (1903-1969) mit Hindemith.[4] In Abschnitt 3. wird der Hintergrund von Adornos Hindemith-Bild untersucht und gefragt, ob vor diesem Hintergrund die heute noch vorherrschende Geringschätzung Hindemiths gerechtfertigt ist.

Meine Arbeit hat nicht das Ziel einer vollständigen Chronologie der Donaueschinger Ereignisse. Es erfolgt vielmehr eine Auswahl, die der speziellen Themenstellung entspricht. Beispielsweise werde ich auf die Zeitoper -Darbietungen in Donaueschingen nur am Rande eingehen (zur Begründung vgl. unten S. 24). Des Weiteren ist anzumerken, dass in Donaueschingen von Anfang an unzählige Komponisten zur Aufführung gekommen sind, von denen die meisten heute weitgehend unbekannt sind. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wer zu Recht oder Unrecht vergessen ist. In meiner Darstellung werde ich mich auf diejenigen Komponisten bzw. Werke beschränken, die repräsentativ für die von mir nachzuzeichnenden Entwicklungslinien sind.

Zum Stand der Forschung ist Folgendes anzumerken. Es gibt zahlreiche Betrachtungen einzelner Aspekte von Hindemiths Wirken in Donaueschingen, sowie Untersuchungen über Hindemith, die innerhalb eines weiter gefassten Themas auch auf Donaueschingen eingehen.[5] Aber meines Wissens wurde noch nicht der hier anvisierte Versuch unternommen, Donaueschingen und Hindemith unter dem Aspekt einer sich gegenseitig unterstützenden Karriere zu betrachten.

Die Donaueschinger Musiktage hat erstmals Josef Häusler in seinem 1996 erschienenen Werk Donaueschingen – Spiegel der Neuen Musik (Häu) zusammenhängend dokumentiert. Sofern nicht anders angegeben, beziehe ich mich bei allen im Folgenden darzustellenden Fakten und Daten auf dieses Werk. Auf die weiteren Quellen meiner Ausführungen werde ich an Ort und Stelle verweisen.[6]

2. Programmschwerpunkte und Entwicklungstendenzen

2.1 Erste Phase: Kammermusikaufführungen

2.1.1 Chronologie

Donaueschingen, eine ursprünglich alemannisch besiedelte südwestdeutsche Kreisstadt, ist bekannt durch seine Donauquelle. Seit 1723 befand sich dort die Residenz des Hauses Fürstenberg. Ein reiches höfisches Musikleben wurde gefördert. Mozart kam in Donaueschingen zu seinen Lebzeiten u.a. mit Figaros Hochzeit, Don Giovanni und, posthum, mit der Zauberflöte zur Aufführung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Komponisten Conradin Kreutzer (ab 1817) und, als sein Nachfolger, Johann Wenzel Kalliwoda (ab 1839) als musikalische Direktoren beauftragt. 1863 musste die „höfische Musik“ aufgrund der Nachwirkungen politisch-revolutionärer Unruhen, die das Fürstentum in Mitleidenschaft zogen, eingestellt werden.

Die Gründung

Heinrich Burkhard (1888-1950), u.a. Schüler von Max Reger (vgl. Häu, 11), war seit 1909 als Musiklehrer am fürstlichen Hof angestellt. 1913 wurde unter seiner Mitwirkung die Donaueschinger „Gesellschaft der Musikfreunde“ gegründet. 1921 trat der damalige Leiter der Musikhochschule Mannheim an ihn heran mit der historisch wegweisenden Gründungsidee, und zwar im Hinblick auf die Geldquelle, an der Burkhard saß. Der damalige Prinz Max Egon, Sohn von Fürst Maximilian Egon II., sagte umgehend seine Unterstützung zu.

Die Gründungsidee war, jungen, bisher weitgehend unbekannten Komponisten ein Forum zu bieten zur öffentlichen Kenntnisnahme, sowie gleichzeitig aus deren Beiträgen Tendenzen der neuesten Musikproduktion zu erkennen und deren Förderungswürdigkeit zur Diskussion zu stellen.

Die organisatorische Arbeit der Musiktage wurde von dem sogenannten Arbeitsausschuss geleistet. Hierzu wandte Burkhard sich an die Komponisten Joseph Haas (1879-1960) und Eduard Erdmann (1896-1958), mit denen er als „Triumvirat“ zu arbeiten gedachte. Burkhards Wahl dieser beiden Komponisten zeigt, dass sich in seinem Arbeitsausschuss jugendlicher Elan mit Traditionsbewusstsein verbinden sollte.

Neben der internen Organisation musste auch Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden. Burkhard konnte einige der namhaftesten zeitgenössischen Komponisten gewinnen, in Form eines Ehrenausschusses ihr Interesse an der Donaueschinger Idee in der Öffentlichkeit zu vertreten. Mitglieder waren u.a. Richard Strauss, Hans Pfitzner, Ferruccio Busoni und Franz Schreker.[7]

Vorbereitung der ersten Musiktage 1921

Burkhard hatte seit längerem Kontakt zu den Kompositionsklassen von Busoni und Schreker an der Berliner Musikhochschule. Er wandte sich zunächst dorthin mit der Bitte um Einsendung neuester Kompositionen. Daneben gab es eine öffentliche Ausschreibung. Der Arbeitsausschuss hatte die schwierige Aufgabe, aus der Masse der Einsendungen eine Auswahl zu treffen, indem er versuchte, mutmaßliche Tendenzen der kommenden Musikentwicklung (in Deutschland) zu erkennen.

[...]


[1] Als namhafte Vertreter dieses Urteils seien genannt: Hans Heinz Stuckenschmidt, Rudolf Stephan, Ludwig Finscher (Textnachweise erfolgen im weiteren Verlauf meiner Darstellung). Vgl. auch die folgenden Aufsätze, die die Genese des heutigen Hindemiths-Bildes aufarbeiten: Mau, Schu 1995, Ra, Rie.

[2] Finscher kritisiert (ebd.), dass Hindemith die „Durchchromatisierung der Funktionsharmonik“ von Max Reger übernommen habe, „in Wahrheit aber von Anfang an die Konsequenzen negierte, die Regers [neue] Harmonik eben auch für alle anderen Elemente des musikalischen Satzes forderte.“ Vgl. hierzu unten Abschnitt 2.1.2, insbes. S. 14.

[3] Vgl. Sto, sowie die in Anm. 1 genannten Aufsätze.

[4] Hinweise darauf, wie prägend Adorno für das sich seit den 1970er Jahren verfestigende Hindemith-Bild war, finden sich u.a. bei Michael Kube (Ku 1995, 50), Wolfgang Lessing (Le, 23). Wolfgang Rathert (Ra, 9) und Hans Zender (Ze, 55 ff.).

[5] Das „Verzeichnis der in den bisherigen Hindemith-Jahrbüchern erschienenen Beiträge“, das seit 1998 am Ende jeden Bandes in jeweils aktualisierter Form abgedruckt wird, gibt einen Eindruck davon, wie häufig die Forschung sich dem genannten Themenkreis bereits zugewendet hat.

[6] Die Quellenangaben sämtlicher Zitate und Notenbeispiele erfolgen im fortlaufenden Text. Die dabei verwendeten Abkürzungen sind im Literatur- und Siglenverzeichnis (unten S. 43) den betreffenden Literaturangaben zugeordnet.

[7] Die Durchführung der ersten Musiktage 1921 wirkte anregend auf weitere Gründungen dieser Art: z.B. entstand ein Jahr später in Salzburg die „Internationale Gesellschaft für Neue Musik“ (IGNM).

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Donaueschingen und Paul Hindemith. Stationen einer Doppelkarriere 1921-1930
Hochschule
Universität Hamburg  (Musikwissenschaftliches Institut)
Veranstaltung
Musik der 1920er Jahre
Note
sehr gut (1.0)
Autor
Jahr
2004
Seiten
46
Katalognummer
V33520
ISBN (eBook)
9783638339704
Dateigröße
958 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Donaueschingen, Paul, Hindemith, Stationen, Doppelkarriere, Musik, Jahre
Arbeit zitieren
Andreas Jakubczik (Autor:in), 2004, Donaueschingen und Paul Hindemith. Stationen einer Doppelkarriere 1921-1930, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33520

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