Professionalisierte Alkoholikergefährdetenhilfe. Entstehung des Alkoholismus und die Antwort der Sozialen Arbeit


Hausarbeit, 2015

12 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung - „Civilization began with distillation“

2. Alkohol und Alkoholismus
2.1. Funktionen des Alkohols - vom Nahrungs- zum Genussmittel
2.2. Definition Alkoholsucht
2.3. Ursachen für die Verbreitung von Alkoholsucht

3. Entwicklung der Alkoholikerhilfe
3.1. Mäßigkeitsbewegung
3.2. Abstinenzbewegung
3.3. Krankheitskonzept versus Rassenhygiene
3.4. Gründung von Institutionen
3.5. Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
3.6. Professionalisierung der Alkoholgefährdetenhilfe

3. Fazit - „Civilization ended with distillation“

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung - „Civilization began with distillation“

Dieses Zitat von William Faulkner fasst die Folgen der Destillation von Branntwein zusammen und kann zynisch betrachtet werden (vgl. Watzl; Singer 2011, S.8). Denn die Mortalität, Morbidität und Kriminalität in Verbindung mit Alkohol ist enorm und wird von der Sozialen Arbeit wahrgenommen. Sie erkennt: „Civilization ended with distillation“ und reagiert auf diese Soziale Frage.

Erst durch Elvin Morton Jellinek, der eine Alkoholismus-Typologie (1942/1946) er- stellte und Alkoholismus als „progressive Krankheit mit typischer Symptomatologie und typischem Verlauf“ (Lelbach 2002, S.29) bezeichnete, wurde 1968 in einem Grundsatzurteil diese Abhängigkeit als Krankheit eingestuft (vgl. Schmid 2003, S.119). Jellineks Theorien wurden wahrgenommen und diskutiert. Professionelle Behandlungsmethoden für die nun anerkannte Krankheit werden daraufhin erarbei- tet (vgl. Schmid 2003, S.118). Dem Voraus gingen Schriften von T. Trotter (1780), W. Hufeland (ab 1796) und B. Rush (ab 1784) (vgl. Watzl; Singer 2011, S. 9).

Doch wie kam es dazu, dass Alkoholismus entstand und wie entwickelte sich die Sozialen Arbeit im Bereich der Alkoholikerhilfe bis zu den Anfängen ihrer Professionalisierung? Dies herauszufinden ist das Ziel dieser Arbeit.

Verwendet wurde hierbei Literatur zum Thema der Geschichte der Suchtkrankenund Drogenhilfe auf der einen Seite und verschiedene Publikationen, welche das Thema Definition und Verbreitung von Alkoholismus behandeln auf der anderen Seite. Aufgrund der untersuchten Zeitspanne (19.Jahrhundert - 20.Jahrhundert) wurde hierbei auch Literatur verwendet, welche vor 2000 erschien.

2. Alkohol und Alkoholismus

2.1. Funktionen des Alkohols - vom Nahrungs- zum Genussmittel

Vor der Ausbreitung des Alkoholismus ist der regelmäßige Konsum von Bier und Schnaps nichts Außergewöhnliches. Alkohol wird in Maßen konsumiert, so dass die Arbeitskraft nicht beeinflusst wird und sich dadurch kein gesellschaftliches Problem entwickelt (vgl. Kuhlmann 2011, S.18). Erst durch Forschung und Aufklärung änder- ten sich die Funktionen des Alkohols, welche nachfolgend kurz angerissen werden.

Nahrungsmittel: Im Mittelalter wird Bier als Nahrungsmittel mit hohem Energiege- halt angesehen. Der Zusammenhang ist hier bei den gemeinsamen Komponenten Getreide und Hefe zu finden. Auch Arbeitslöhne werden zu dieser Zeit in Brot- und Biermengen berechnet (vgl. Watzl; Singer 2011, S.4).

Genuss- und Rauschmittel: Bis heute wird unter Erwachsenen Alkohol als schmackhaftes Genussmittel konsumiert. Außerdem ist „über alle Kulturen hinweg … Alkohol das am häufigsten verwendete Mittel zur Stimmungs- und Bewusstseins- änderung bis hin zum Erreichen von Rauschzuständen.“ (Watzl; Singer 2011, S.4). In früheren Kulturen wird dieses Rauschmittel auch im religiösen Kontext verwen- det, um Trance und Meditation zu ermöglichen. Ein Relikt dieser sakralen Funktion ist noch heute in der christlichen und jüdischen Kultur zu finden (vgl. ebd.).

Arzneimittel: In der Medizin wird Alkohol über Jahrzehnte hinweg als Arzneimittel (z.B. zur Beruhigung) konsumiert. Dieser Bereich ist durch eine enorme Ambivalenz geprägt, wenn die angebliche heilsame Wirkung den schädlichen Folgen gegen- übergestellt wird. Heute noch wird Alkohol oftmals als Bestandteil von Naturheilmit- teln oder Selbstmedikation, z.B. bei Schlafstörungen, eingesetzt (vgl. ebd.).

Sozialer Kontext: Durch seine enthemmende Wirkung wird Alkohol als Mittel zur Erleichterung sozialer Kontakte angesehen (vgl. ebd.). Des Weiteren ist im sozialen Bezug der enorme gesellschaftliche Stellenwert hervorzuheben. In vielen Kreisen gilt das rituelle Anstoßen mit Alkohol bei Feierlichkeiten als verpflichtend.

Auch hier muss auf die Ambivalenz eingegangen werden, da häufiger und exzessiver Alkoholkonsum durch die darauffolgende Veränderung der Persönlichkeit (Unzuverlässigkeit, Reizbarkeit, Unruhe, Ängste und Depressionen) zu erheblichen sozialen Problemen führen kann (vgl. BzgA o.J.).

2.2. Definition Alkoholsucht

Das Bundessozialgericht (BSG) erkennt 1968 Alkoholismus als eine Krankheit an. Es beruft sich dabei auf die erste offizielle Definition „Alkoholsucht“ welche von der WHO 1952 herausgegeben wurde, „… wonach Alkoholiker dann als exzessive Trinker eingestuft werden, wenn de- ren Abhängigkeit vom Alkohol einen solchen Grad erreicht hat, dass sie deutli- che geistige Störungen oder Konflikte in ihrer körperlichen und geistigen Ver- fassung, ihren mitmenschlichen Beziehungen, ihren sozialen und wirtschaftli- chen Funktionen aufweisen oder Anzeichen einer solchen Entwicklung zeigen.“ (Rudow 2004, S.192).

1957 wird auf Basis von internationalen Klassifikationssystemen „drug addiction“ durch die WHO als „…ein Zustand periodischer oder chronischer Vergiftung, hervorgerufen durch den wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Droge und gekennzeichnet durch 4 Kriterien: ein unbezwingbares Verlangen zur Einnahme und Beschaffung des Mittels, eine Tendenz zur Dosissteigerung (Toleranzerhöhung), die psychische und meist auch physische Abhängigkeit von der Wirkung der Droge, die Schädlichkeit für den einzelnen und/oder die Gesellschaft.“ (Frietsch; Holbach; Link 2010, S.57) definiert.

Sichtweise vor der Anerkennung als Krankheit

Bevor Alkoholabhängigkeit gesellschaftlich als Krankheit anerkannt wird, werden Alkoholkranke als „Trunksüchtige“ bezeichnet. In der Gesellschaft gilt diese Trunk- sucht als Laster, die Betroffenen werden als „(…) willensschwache, haltlose und minderwertige Menschen, (…)“ (Rudeck; Schmidt 1997, S.14) bezeichnet.

Im Nationalsozialismus gilt Trunksucht aufgrund der Rassenhygiene als „Verbrechen an der Volksgesundheit“ und fällt unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN). „In §1 dieses Gesetzes wurde schwerer Alkoholismus als Grund für eine Zwangssterilisierung genannt.“ (Schmid 2003, S.114).

2.3. Ursachen für die Verbreitung von Alkoholsucht

In der Verbreitung von Alkoholismus sind zwei bedeutende Ursachen zu finden: Industrialisierung und Destillation.

Der Beginn der Industrialisierung ist in England im frühen 18.Jahrhundert zu finden und führt zu gesellschaftlichen Veränderungen. Zeitgleich entwickelt sich der Mas- senhandel über den Atlantik. Amerikanische Kolonien produzieren (aufgrund von Sklavenarbeit und großer Anbauflächen für Getreide) mit geringem Aufwand Gin und bringen ihn nach England, wodurch es dort zur „Gin-Epidemie“ kommt. Ähnlich beginnt die Verbreitung von Alkoholismus in Deutschland, allerdings erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts. Durch die Urbanisierung der industriellen Revolution, leiden die Menschen unter schlechten Arbeitsbedingungen, niedrigen Löhnen und beeng- ten Wohnverhältnissen, sowie hohen Mieten und Massenarbeitslosigkeit (vgl. Stif- tung Jugend und Bildung; BMAS 2013, S.8f). J. Pistorius meldet 1817 den „Pistori- usschen Brennapparat“ zum Patent an, welcher eine kostengünstige Herstellung von Kartoffelschnaps mit 80%iger Alkoholkonzentration ermöglicht. Diese Destilla- tion führt dazu, dass Alkoholkonsum stärkere Wirkung zeigt, die toxischen Folgen erhöht werden und die Abhängigkeit zunimmt. Ferner wird die Haltbarkeit verlän- gert, wodurch Alkohol dauerhaft verfügbar wird (vgl. Watzl; Singer 2011, S.8f).

Die zeitgleiche Verbindung der Industrialisierung und dem Export von Gin in Eng- land, sowie der industriellen Revolution und dem Brennapparat in Deutschland füh- ren in beiden Ländern zu einer epidemischen Verbreitung von Alkoholabhängigkeit.

Dreiecksmodell nach Feuerlein

Beschäftigt man sich weiter mit den Ursachen von Abhängigkeit, stößt man auf das Dreiecksmodell nach Feuerlein. Es beschreibt die drei Faktoren Droge, Individuum und Sozialfeld, die sich gegensei- tig beeinflussen und zur Abhängigkeit führen können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Suchtdreieck (vgl. Sucht- krankenhilfe Burghausen e.V. (Hrsg) 2015)

Der erste Faktor Droge beeinflusst durch seine Wirkung die Bereiche Stimmung, Antrieb oder Wahrnehmung und führt durch seine Inhaltsstoffe zur psychischen und/oder physischen Abhängigkeit (vgl. Feuerlein 2000, S.60f). Der Faktor Sozial- feld steht für alle äußeren Einflüssen, mit denen der Konsument in Kontakt steht. Dies können u.a. der Einfluss der Primärgruppe, Arbeitsbedingungen oder großge- sellschaftliche Faktoren sein (vgl. ebd., S.63f). Der letzte Faktor ist die Persönlich- keit. Untersuchungen zur Heritabilität zeigen, dass Abhängigkeit genetisch beein- flusst sein kann. Verwendet wurden hierbei Zwillings- und Adoptionsstudien, die be- legen, „(…) dass der genetische Einfluss (…) höher ist, als das Aufwachsen bei einem alkoholabhängigen Elternteil.“ (Kiefer; Schuckit; Rietschel 2011, S.188).

3. Entwicklung der Alkoholikerhilfe

Als Antwort auf die Verbreitung von Alkoholismus bilden sich zwei verschiedene Gruppierungen heraus, die im Laufe der ersten Jahrzehnte im Konflikt stehen: Die Mäßigkeits- und die Abstinenzbewegung. Parallel zu diesen Parteien ist eine wei- tere Wurzel der Entstehung der Suchtkrankenhilfe in der Psychiatrie zu finden (vgl. Schmid 2003, S.111).

3.1. Mäßigkeitsbewegung

Einer der ersten Vereine in Deutschland wird 1883 gegründet. Der „Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke“ (DVMG) spricht sich anfangs für Tole- ranz im Umgang mit Bier und Wein aus und wendet sich gegen Spirituosen. Diese Ansicht änderte sich mit der Zeit und der Verein lehnt den Missbrauch aller alkoho- lischen Getränke ab. Als Aufgabe wird die Schaffung von Rahmenbedingungen ge- sehen, die gegen den Konsum von Alkohol wirken. Hierunter fallen z.B. die Förde- rung von alkoholfreien Trinkhallen und auch der Einsatz für eine entsprechende Ge- setzgebung entgegen dem Alkoholkonsum (vgl. Rudeck; Schmidt 1997, S.14).

Eine Vereinigung gegen Alkoholismus der katholischen Kirche kommt erst 1896 zu- stande. Das „katholische Kreuzbündnis“ ist ursprünglich ein Mäßigkeitsverein, un- terteilt sich aber im Jahre 1899 in drei Gruppen: die Mäßigen, die Schnapsabstinen- ten und die Vollabstinenten. Eine enorme Veränderung erfolgt 1908 nach dem Be- schluss, sich lediglich für Vollabstinenz auszusprechen. Es erfolgt die Namensän- derung in „Kreuzbündnis, Verein abstinenter Katholiken“ (vgl. ebd., S.16).

3.2. Abstinenzbewegung

Neben den Mäßigkeitsvereinen, die mit der Zeit alle für die völlige Abstinenz eintre- ten, bildet sich die Abstinenzbewegung, die von Beginn an „[nicht] Einschränkung des Trinkens - (…), Zur-rechten-Zeit-aufhören oder Den-Branntwein-meiden - (…), sondern [den völligen] Verzicht (…)“ (Rudeck; Schmidt 1997, S.14) fordert.

Der Guttemplerorden bildet sich aus dem amerikanischen Protestantismus heraus und kommt zeitgleich zum „Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke“ 1883 nach Deutschland (vgl. ebd., S.15).

Kurze Zeit später erscheint auch von der evangelischen Kirche ein Abstinenzverein in Deutschland. Er gründet sich bereits 1877 in der Schweiz als „Schweizerischer Mäßigkeitsverein“ und plädiert ab 1885 als „Blaues Kreuz“ in Deutschland für völlige Abstinenz. Der Verband versteht seine Aufgabe in der „Trinkerrettungsarbeit“ als „Reich-Gottes-Arbeit“, welche nicht nur den Verzicht auf alkoholische Getränke, sondern auch die Zuwendung zum Glauben beinhaltet (vgl. ebd.).

Der Guttemplerordern und das Blaue Kreuz vertreten beide das Krankheitsprinzip (entgegen dem gesellschaftlich verbreiteten Laster-Prinzip). “Keine belehrenden oder ermahnenden Worte, sondern eine annehmende, solidarische, eine brüderli- che Haltung sowie das alkoholfreie Beispiel helfen.“ (Rudeck; Schmidt 1997, S.14).

Auch aus dem politischen Bereich entsteht um die Jahrhundertwende ein Abstinenzverein. Der „Deutsche Arbeiter-Abstinenten-Bund“ setzt sich zum Ziel, Alkoholgenuss und Trinksitten zu bekämpfen, um dadurch die Lebenshaltung der Arbeiterschaft voranzutreiben. Der Bund sieht im Alkoholismus die Gefahr eine Degeneration der Arbeiterklasse, welcher er vorbeugen möchte (vgl. ebd., S.16).

Weitere Abstinenzvereine bilden sich um die Jahrhundertwende aus verschiedenen Berufsgruppen heraus (z.B. „Deutscher Verein enthaltsamer Lehrer“) (vgl. ebd.).

3.3. Krankheitskonzept versus Rassenhygiene

Parallel zu der Abstinenz- und Mäßigungsbewegung befasst sich auch die Psychi- atrie verstärkt mit der Suchtproblematik. Sie beansprucht „(…) zwar die theoretische und professionelle Kompetenz für Suchterkrankungen (…)“ (Schmid 2003, S.111) beschäftigt sich anfangs aber weniger mit dem Bereich der Behandlung (vgl. ebd., S.111). Der deutsche Arzt G. Bonn macht diese Gleichgültigkeit zum Resultat des täglichen Konsums vom Genussmittel Alkohol. Er und mehrere andere Nervenärzte schließen sich Abstinenzbewegungen wie den Guttemplern oder dem „Verein abs- tinenter Ärzte des deutschen Sprachgebiets“ an und sprechen sich gegen Alkohol- gebrauch zu medizinischen Zwecken aus (vgl. Rudeck; Schmidt 1997, S.17). Zwar veröffentlicht eine Minderheit der Ärzteschaft schon sehr früh Schriften, die Sucht als Krankheit ansehen (z.B. Hufeland 1802, Bruehl-Cramer 1819), jedoch setzt sich diese Theorie gegenüber der Auffassung des moralischen Fehlverhaltens als Ent- stehung nicht durch (vgl. Schmid 2003, S.111f). Um 1900 kommen Psychiater wie Kreplin und Forel nach Forschungen zu dem Ergebnis, dass Alkoholabhängigkeit eine Krankheit ist, „(…) die nicht mit moralischen, sondern mit medizinisch-psychi- atrischen Kategorien zu beschreiben sei.“ (Schmid 2003, S.112) und verbreiten diese Erkenntnis (vgl. ebd., S.112).

Rassenhygieniker wie Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmayer verhindern mit ihren Schriften jedoch die Ausbreitung dieser Theorie. Sie vertreten die Ansicht, dass „(…) durch zivilisatorische Errungenschaften wie Medizin und Sozialversicherung der sozialdarwinistische Ausleseprozess in sein Gegenteil verkehrt worden sei und somit die „Degeneration“ der zivilisierten Völker unausweichlich sei, (…)“ (Schmid 2003, S.112). Diese rassenhygienischen und erbbiologischen Vorstellungen finden bereits vor der Verbreitung des nationalsozialistischen Gedankenguts enormen An- klang in der Wissenschaft und die Öffentlichkeit setzt sich verstärkt mit Debatten über den möglichen Verlust „wertvollen Erbgutes“ auseinander (vgl. ebd., S.112).

3.4. Gründung von Institutionen

Die ersten stationären Trinkerheilanstalten werden von der Abstinenz- und Mäßig- keitsbewegung Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. Sie entstehen durch die Zu- sammenarbeit mit erfahrenen Wohlfahrtsverbänden und verbreiten sich in Deutsch- land (vgl. Schmid 2003, S.112). Im ambulanten Bereich werden ehrenamtlich be- triebene „Trinkerfürsorgestellen“ eröffnet, die als „(…) Vorläufer der späteren Sucht- beratungs- und heutigen ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen.“ gelten (Rudeck; Schmidt 1997, S.19). Das Ziel dieser Einrichtungen ist die völlige Absti- nenz und ferner die Hinwendung zum Glauben (vgl. Schmid 2003, S.112).

3.5. Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus

Der Erste Weltkrieg führt zu einer Unterbrechung der Entwicklung der Alkoholikerhilfe. In vielen Abstinenzvereinen nehmen die Mitgliederzahlen ab, manche stellen ihre Arbeit ein oder schließen sich zusammen (vgl. Rudeck; Schmidt 1997, S.16). Es herrscht Nahrungsmittelknappheit, was dazu führt, dass die Verbände vorrangig gegen die Vergeudung von Gerste zu Branntweinzwecken eintreten.

Der Deutsche Reichstag der Weimarer Republik stellt 1918 vier Millionen Mark aus dem Branntweinmonopol zur Trunksucht- und Ursachenbekämpfung bereit. „Die Aufteilung und sachgemäße Verwendung der Monopolgelder (…) macht es erfor- derlich, dass sich der „Deutsche Verein gegen den Alkoholismus“ und die Absti- nenzverbände zu einem Zweckverband zusammenschließen (…).“ (Rudeck; Schmidt 1997, S.19f). 1921 gründet sich daraus die „Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus“. Die Verbände der Reichshauptstelle setzen sich, durch die Prohibi- tion der 20er Jahre in den USA, vermehrt für die Alkoholkontrollpolitik ein. "Ziel der Abstinenzverbände ist nicht nur die Hilfe für den Alkoholkranken und sein Umfeld, sondern das Erreichen eines vom Alkohol freieren und schließlich eines vom Alko- hol freien Lebensbereich mit mehr Gesundheit, Freiheit und Entwicklungsmöglich- keiten.“ (Rudeck; Schmidt 1997, S.20). Das Resultat dieser Bemühungen ist das Gaststättengesetz von 1930, welches Jugendschutzbestimmungen und die Pflicht, alkoholfreie Getränke auszuschenken, beinhaltet (vgl. ebd., S.19f).

3.6. Professionalisierung der Alkoholgefährdetenhilfe

In der Weimarer Republik wird die „Trinkerfürsorge“ als Aufgabe den Wohlfahrtsämtern zugeschrieben. Dadurch kommt es vermehrt zu Zusammenschlüssen zwischen Wohlfahrtsverbänden und Abstinenzverbänden (z.B. Kreuzbund und Caritas bilden 1927 „Reichsverband für katholische Trinkerfürsorge“) und stärkerer Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen (vgl. Rudeck; Schmidt 1997, S.21).

Diese Zusammenarbeit und Zusammenschlüsse führen zu einer Stärkung der Abs- tinenzvereine. Sie arbeiten nicht mehr als ehrenamtliche Vereine, sondern entwi- ckeln ein, von der Medizin unabhängiges, neues Beratungs- und Behandlungssys- tem, welches noch immer eher moralische als medizinische Inhalte vertritt. Umfas- send kann nun, durch stationäre Trinkerheilanstalten, ambulante Trinkerfürsorge- stellen, staatlicher Fürsorge und psychiatrische Anstalten, von einem professionali- sierten System der Trinkerfürsorge gesprochen werden (vgl. Schmid 2003, S.113).

3. Fazit - „Civilization ended with distillation“

Ziel dieser Hausarbeit war es zum einen herauszufinden, wodurch Alkoholismus entstanden ist und zum anderen die Entwicklung der Alkoholikerhilfe aufzuzeigen. Es konnte festgestellt werden, dass die Verbreitung von Alkoholabhängigkeit wäh- rend der Industrialisierung durch sozioökonomische, demographische und wissen- schaftliche Komponenten entstanden ist. Nicht nur die Neuerungen der Wissen- schaft auf dem Gebiet der Schnapsdestillation, sondern vielmehr die zeitlich parallel verlaufende Industrialisierung und das damit einhergehende Leid eines Großteils der Bevölkerung führte dazu, dass die Menschen immer öfter Alkohol als Rausch- mittel und zur Flucht aus der Realität konsumierten. Erstaunlich im Lauf dieser Ge- schichte ist der enorme Stellenwert der kirchlichen Vereine, welche die Gründung von Institutionen und entsprechenden Gesetzen erzielen konnten und auf der an- deren Seite die Zurückhaltung der Medizin und der Gesellschaft. Es wurde in dieser Hausarbeit zwar ersichtlich, dass Forschungen betrieben wurden und einige Ärzte Alkoholismus bereits früh als Krankheit anerkannten, jedoch ist es erschreckend, dass der Großteil der Ärzteschaft und (vermutlich auch dadurch) die Gesellschaft diese Theorien nicht teilten, sondern bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus den Thesen der Rassenhygieniker Glauben schenkten.

Man kann in diesem Kontext versuchen sich vorzustellen, wie die Entwicklung der Alkoholikergefährdetenhilfe beeinflusst gewesen wäre, wenn Hufeland oder Trotter mit ihren Schriften die Gesellschaft für sich gewonnen hätten. Wäre die Professio- nalisierung der Suchtkrankenhilfe mit medizinischen Schwerpunkten und vor allem die Prävention schon wesentlich früher entstanden? Insofern steht zu hoffen, dass im Laufe weiterer Aufklärung offener mit der Krankheit umgegangen und viel eher erkannt wird, dass der verbreitete Konsumdruck von Alkohol nichts mit Zivilisation als Fortschritt der Gesellschaft, sondern vielmehr mit Ignoranz zu tun hat.

4. Literaturverzeichnis

Bundeszentrale für gesellschaftliche Aufklärung BZgA (Hrsg.): Alkoholmissbrauch: Schädlicher Alkoholkonsum und seine Folgen. URL: https://www.kenn-dein-li- mit.de/alkohol/%20schaedlicher-konsum/gefahren-und-fogen/?uid=6398dee81 8f0a6827428a800ddd7eebf [Abruf: 27.09.2015]

Bühringer, Gerhard; Behrendt, Silke (2011): Begriffsbestimmungen. In: Singer, Manfred V.; Batra, Anil; Mann, Karl (Hrsg.): Alkohol und Tabak. Grundlagen und Folgeerkrankungen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG, S.65-72

Egg, Rudolf (2014): Delikte unter Alkoholeinfluss. In: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.): Jahrbuch Sucht 14. Lengerich: Pabst Science Publis- hers, S.154-168

Feuerlein, Wilhelm (2000): Definition, Diagnose und Entstehung des Alkoholismus - Grundzüge der Behandlung. In: Seitz, Helmut K.; Lieber, Charles S.; Simano- wski, Ulrich A. (Hrsg.): Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Org- anschäden. 2.Aufl., Heidelberg: Johann Ambrosius Barth Verlag, S.55-74

Frietsch, Robert; Holbach, Dirk; Link, Sabine (2010): Handbuch Sucht & Arbeit. Ar- beitshilfe für das Schnittstellenmanagement. 2.Aufl., Koblenz

Kiefer, Falk; Schuckit, Marc A.; Rietschel, Marcella (2011): Genetik der Alkoholab- hängigkeit. In: Singer, Manfred V.; Batra, Anil; Mann, Karl (Hrsg.): Alkohol und Tabak. Grundlagen und Folgeerkrankungen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG, S.188-193

Kuhlmann, Carola (2011): Geschichte der Sozialen Arbeit. PDF-Text-Download von [basa online]

Lehner, Birgit; Kepp, Jolanthe (2014): Daten, Zahlen und Fakten. In: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.): Jahrbuch Sucht 14. Lengerich: Pabst Science Publishers, S.9-36

Lelbach, W. K. (2000): Epidemiologie des Alkoholismus und alkoholassoziierter Or- ganschäden. In: Seitz, Helmut K.; Lieber, Charles S.; Simanowski, Ulrich A. (Hrsg.): Handbuch Alkohol, Alkoholismus, alkoholbedingte Organschäden. 2.Aufl., Heidelberg: Johann Ambrosius Barth Verlag, S.9-54

Rudeck, Günter; Schmidt, Hans-Günter (1997): Der Ausgangspunkt: Mäßigkeitsver- einigungen und Abstinenzverbände. In: Deutsche Hauptstelle gegen die Sucht- gefahren (Hrsg.): Suchtkrankenhilfe in Deutschland. Geschichte, Strukturen, Perspektiven. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag, S.13-29

Rudow, Bernd (2004): Das gesunde Unternehmen: Gesundheitsmanagement, Ar- beitsschutz und Personalpflege in Organisationen. München: Oldenbourg Wis- senschaftsverlag GmbH

Schmid, Martin (2003): Drogenhilfe in Deutschland. Entstehung und Entwicklung 1970 - 2000. Frankfurt/Main. Campus Verlag

Stiftung Jugend und Bildung; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2013): Sozialgeschichte - Ein Arbeitsheft für die Schule, Band I: Vom späten Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg. Wiesbaden: Universum Kommunikation und Medien AG

Suchtkrankenhilfe Burghausen e.V. (Hrsg.) (2015): Wie entsteht Sucht? Suchtdrei- eck. URL: http://www.bruecke-burghausen.de/wie_entsteht_sucht.htm [Abruf: 13.11.2015]

Watzl, Hans; Singer, Manfred V. (2011): Kulturgeschichte des Alkohols. In: Singer, Manfred V.; Batra, Anil; Mann, Karl (Hrsg.): Alkohol und Tabak. Grundlagen und Folgeerkrankungen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG, S.3-12

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Professionalisierte Alkoholikergefährdetenhilfe. Entstehung des Alkoholismus und die Antwort der Sozialen Arbeit
Hochschule
Hochschule Koblenz (ehem. FH Koblenz)
Veranstaltung
Geschichte, Theoriezugänge und Struktur Sozialer Arbeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
12
Katalognummer
V335169
ISBN (eBook)
9783668252288
ISBN (Buch)
9783668252295
Dateigröße
960 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Alkoholismus, Alkoholiker, Suchtkranke, Sucht, Drogen, Alkoholikergefährdetenhilfe
Arbeit zitieren
Christine Nowobilsky (Autor:in), 2015, Professionalisierte Alkoholikergefährdetenhilfe. Entstehung des Alkoholismus und die Antwort der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335169

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