Die Objektive Hermeneutik als Methode zur Textinterpretation. Eine Rekonstruktion des Falles „Lehrerin kritisiert Protokoll eines Schülers”


Hausarbeit, 2013

15 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Fallrekonstruktion

Fazit

Bibliographie

Einleitung

Die objektive Hermeutik ist eine Methode zur Textinterpretation, die von dem Soziologen Ulrich Oevermann begründet wurde.[1] Sie geht davon aus, dass sich die sinnstrukturierte Welt allein in Texten, welche Protokolle der Wirklichkeit darstellen, materialisiert.[2] „Diesen Sinn methodisch kontrolliert zu erfassen und durch den Prozess des Verstehens der Struktur eines Textes Aussagen über die Wirklichkeit machen zu können, ist Ziel der Objektiven Hermeneutik.”[3] Meist sollen anhand der Interpretation von Textsequenzen Rückschlüsse auf die generelle Fallstruktur gezogen werden.[4] Die objektiv-hermeutische Textinterpretation folgt den Prinzipien der Kontextfreiheit, Wörtlichkeit, Sequenzialität, Extensivität und Sparsamkeit.[5]

Im Folgenden soll der Fall „Lehrerin kritisiert Protokoll eines Schülers” aus der Kasuistischen Lernplattform der Leibniz Universität Hannover rekonstruiert werden. In diesem Fall musste ein Schüler als Strafarbeit ein Protokoll über eine Mathestunde verfassen, das in der nächsten Stunde von der Lehrerin gelesen und kritisiert wird. Sie fragt nach seiner Deutschnote, er möchte den Grund dafür wissen, die Lehrerin zählt einige Rechtschreibfehler im Protokoll auf, daraufhin beantwortet er ihre Frage. Dann fragt die Lehrerin, wie lange er für das Protokoll gebraucht hat, glaubt ihm jedoch seine Angabe nicht und droht für „das nächste Mal” weitergehende Konsequenzen an. Hier soll insbesondere das Lehrerhandeln und dessen Wirkung auf den Schüler untersucht werden.

Fallrekonstruktion

L.:F., was hast du in Deutsch?

Es ist zunächst nicht ersichtlich, wonach F. genau gefragt wird. Die Frage „Was hast du in Deutsch?” könnte auf F.s Note im Fach Deutsch, aber auch auf die zum Fragezeitpunkt aktuellen Unterrichtsinhalte abzielen. Die Frage „was hast du?” wird in der Umgangssprache auch verwendet, um sich nach einem offensichtlichen Problem des Gegenübers zu erkundigen. Denkbar (wenn auch wenig wahrscheinlich) ist daher, dass sich der Fragende mit der Frage „Was hast du in Deutsch?” auf fachspezifische Probleme (z.B. eine psychische Blockade) von F. in Deutsch bezieht.

Die vorliegende Frage ist zunächst in familiären, sonstigen privaten und in schulischen Interaktionen vorstellbar. Da die Frage im Präsens gestellt wird, handelt es sich bei F. höchstwahrscheinlich um einen Schüler, eventuell auch um einen Erwachsenen (z.B. jemand mit Migrationshintergrund), der zum Zeitpunkt der Interaktion Deutschunterricht erhält. Zudem wird F. vom Fragenden geduzt. Daraus ist zu entnehmen, dass ein informeller Kontext (Familie, Freundeskreis) vorliegt oder dass F. noch keine erwachsene Person ist und grundsätzlich geduzt wird.

Es ist möglich, dass die Frage gestellt wird, nachdem der Fragende oder andere anwesende Personen erzählt haben, was sie in Deutsch haben, etwa zu Vergleichszwecken („F., was hast du in Deutsch?”). Außerdem könnte die Frage gestellt werden, nachdem über andere Fächer gesprochen wurde („F., was hast du in Deutsch ?”). Wenn der Frage ein solcher Austausch nicht vorausgegangen ist, muss ein außerhalb der Interaktion liegender Umstand zu der Frage geführt haben. So könnten Probleme von F. mit der deutschen Sprache im mündlichen oder schriftlichen Bereich (Grammatik- oder Rechtschreibfehler) den Anlass zu der Frage gegeben haben, beispielsweise für einen Lehrer, der F. in einem anderen Fach unterrichtet (wenn man annimmt, dass es um die Note geht). In einem solchen Fall ist mit einer Rückfrage F.s, die auf den Grund der Frage zielt, zu rechnen („Warum?”).

Weitere wohlgeformte Reaktionen wären eine direkte Antwort mit eventuell nachgeschobener Rückfrage („In Deutsch habe ich eine Drei”, „Wir nehmen gerade den jungen Goethe durch, warum?” etc.) oder eventuell eine Verweigerung der Antwort bzw. eine Rückfrage, die in der Person des Fragenden begründet liegt („Was geht Sie das an?”„Das geht dich/Sie nichts an.”).

Klasse befindet sich in Stillarbeitsphase, trotzdem hoher Lautstärkepegel. Lehrerin steht am Pult, liest leise ein Schülerprotokoll der letzten Mathestunde. Der Schüler (F.) musste das Protokoll als Strafarbeit für häufiges Stören verfassen.

Klasse wird still und hört der Lehrerin zu (nach der Frage)

Aus dem beschriebenen Kontext wird nun ersichtlich, dass es sich um eine Lehrer-Schüler-Interaktion handelt. Die Mathelehrerin stellt F., dessen Protokoll über die letzte Stunde sie gerade liest, während des Unterrichts (also für die Klasse öffentlich) die genannte Frage zum Fach Deutsch. Offenbar steht die Frage im Zusammenhang mit dem Protokoll oder zumindest allgemein mit F.s aktuellem Verhalten bzw. seinen Leistungen im Matheunterricht. Auch dass sie sich speziell an F. wendet, deutet darauf hin, dass sie nach etwas Individuellem (der Note) fragt und nicht nach dem Unterrichtsthema, von dem die ganze Klasse betroffen ist („F., was habt ihr in Deutsch?”). Das Wissen um F.s Deutschnote betrachtet die Lehrerin somit als bedeutsam für ihre weitere Einschätzung des Schülers und den Umgang mit ihm. Nachdem F. das Protokoll als „Strafarbeit für häufiges Stören” verfassen musste, kann man annehmen, dass die aktuelle Einschätzung der Lehrerin vor allem mit dem häufigen Stören des Matheunterrichts in Zusammenhang steht.

Desweiteren wird erwähnt, dass die bis dahin recht laute Klasse nach der Frage der Lehrerin still wird und zuhört. Das gespannte Verfolgen „öffentlicher” Lehrer-Schüler-Interaktionen durch die Mitschüler kann als sehr typischer Vorgang angesehen werden. Die Anwesenheit Dritter beeinflusst Dialoge, da sie dann auch eine Selbstdarstellung vor den „Zuschauern” beinhalten. Dies gilt auch für Schüler und Lehrer (typisch ist hier z.B., dass sich der Schüler in einem solchen Gespräch seiner Peer-Group als „cool” präsentieren will und die Lehrerin bestimmtes Verhalten/ bestimmte Leistungen eines einzelnen als negatives oder positives Beispiel für die anderen öffentlich kommentiert). Durch die starke Aufmerksamkeit der Klasse für das Gespräch gerät F. in eine Art Prüfungssituation.

F.: Wieso?

Mit dem Fragepronomen „Wieso?” wird nach den Gründen einer Handlung, einer Äußerung, einer Anweisung oder eines Sachverhaltes gefragt. Wie bereits als mögliche wohlgeformte Reaktion beschrieben, antwortet F., der von der Lehrerin nach seiner Deutschnote gefragt wurde, auf ihre Frage mit einer Gegenfrage, die auf die Gründe ihrer Frage zielt.

Mit einer solchen Gegenfrage wird Irritation und möglicherweise Misstrauen ausgedrückt: Die Beweggründe der Lehrerin sind aus der Situation heraus für den Gefragten (F.) nicht ersichtlich und er empfindet die Frage zunächst als unerwartet und/oder unpassend. Er hat kein unbedingtes Bedürfnis, der fragenden Person die gewünschte Information mitzuteilen. Indem er der Gegenfrage keine Antwort auf die vorherige Frage voranstellt, setzt er ihrer Beantwortung die Begründung voraus. F. macht an dieser Stelle deutlich, dass er ohne weiteres nicht zur Auskunft über seine Deutschnote gegenüber der Lehrerin bereit ist und wartet zumindest vorerst auf eine Begründung seitens der Lehrerin. Von einer solchen Begründung macht er möglicherweise abhängig, ob und wie er die an ihn gerichtete Frage beanworten wird. Vielleicht befürchtet die befragte Person, dass eine Beantwortung der Frage negative Konsequenzen (z.B. Bloßstellung, Streit) haben könnte und möchte das Risiko durch eine auf die Situation abgestimmte Antwort verringern. Hierbei ist es denkbar, dass die Person bereits eine Vermutung hat, was zu der Frage geführt haben könnte.

Das „Wieso?” drückt aus, dass der Fragesteller in den Augen des Befragten unter bestimmten Umständen (wenn er eine plausible Begründung liefert, warum er die Information braucht/ möchte) eine Antwort auf seine Frage bekommen kann, jedoch nicht allein aus seiner Person heraus ein Recht auf die gewünschte Information hat. Die Lehrerin hat nach F.s Auffassung nicht allein aufgrund ihres Amtes (als Autoritätsperson) das Recht, Auskunft über seine Noten in anderen Fächern zu bekommen.

Eine solche Rückfrage und die damit verbundenen Vorbehalte bezüglich einer Antwort auf die ursprüngliche Frage kann jedoch auch vollständig oder teilweise in der Anwesenheit Dritter begründet liegen. Das vorliegende Gespräch spielt sich in der Klassenöffentlichkeit ab. Möglich ist somit auch, dass F. vor den Mitschülern nicht ohne Weiteres zur Auskunft über seine Deutschnote bereit ist und die drohende öffentliche Ausfrage-Situation als unangenehm empfindet. Die Gegenwart der Klassenkameraden könnte ebenfalls dazu geführt haben, dass F.s „Wieso?” nicht nur „Wieso wollen Sie das wissen?”, sondern auch „Wieso wollen Sie ausgerechnet meine Note wissen?” bedeutet.

Als Reaktion denkbar ist eine direkte Beantwortung der Gegenfrage („Nur so”, „Weil deine Grammatik so schlecht ist” etc.) , eine indirekte Beantwortung („Guck dir doch mal deinen Aufsatz an – lauter Fehler!”) oder das Verweigern einer solchen („Schon gut, hat sich erledigt”), eventuell zusammen mit dem Bestehen auf einer Antwort auf die eigene Frage („Antworte mir bitte!”, „Das muss ich nicht begründen”), was eine Autoritätsdemonstration wäre, oder eine Zurechtweisung („Du sollst eine Frage nicht mit einer Gegenfrage beantworten.”)

L.: Wo du „H 's” hinsetzt, unglaublich...

In dieser Sequenz regt sich jemand über die Rechtschreibung des Gegenübers auf, genauer gesagt über dessen falsche bzw. übermäßige Verwendung von „H's”. Der Angesprochene verwendet „H's” nach Auffassung des Sprechers an Stellen, an denen dies für ihn nicht nachvollziehbar ist und daher erstaunt (nach seinem Empfinden handelt es sich nicht um logisch erklärbare Rechtschreibfehler). Dies kommt durch das nachgeschobene „unglaublich” zum Ausdruck.

Ersetzt man „Wo du „H's” hinsetzt” durch andere Handlungen („Wie du kochst, unglaublich”, „Wie du stinkst, unglaublich”, „Wo du schläfst, unglaublich”), wird deutlich, dass „unglaublich” in einer solchen Konstellation zweideutig ist und sowohl positiv als auch negativ gemeint sein kann. Welche Konnotation eher zutrifft, ergibt sich erst aus dem Verb im vorangestellten Satz („Wie du stinkst, unglaublich” kann kaum positiv gemeint sein, „Wie das schmeckt, unglaublich” ist eindeutig positiv) und aus dem Kontext. Es stellt sich ebenfalls heraus, dass sich eine solche Aussage auf einen aktuellen Vorgang beziehen kann („Wie du stinkst”), einen abgeschlossenen („Wie du kochst” - hier wird wahrscheinlich das bereits gekochte Essen kommentiert) oder einen regelmäßig wiederkehrenden („Wo du schläfst”).

[...]


[1] Vgl. Wernet, Andreas (2006): Einführung in die Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik. Wiesbaden: VS. S. 11.

[2] Vgl. Wernet 2006, S. 11/12

[3] https://www.ph-freiburg.de/projekte/quasus/einstiegstexte-in-methoden-der-qualitativen-sozial-unterrichts-und-schulforschung/datenauswertung/auswertungsmethoden/objektive-hermeneutik.html , abgerufen am 27.03.13

[4] Vgl. Ph-freiburg.de, 27.03.13

[5] Vgl. Wernet 2006, S. 21

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Die Objektive Hermeneutik als Methode zur Textinterpretation. Eine Rekonstruktion des Falles „Lehrerin kritisiert Protokoll eines Schülers”
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Note
1,7
Jahr
2013
Seiten
15
Katalognummer
V334921
ISBN (eBook)
9783668250222
ISBN (Buch)
9783668250239
Dateigröße
720 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Objektive Hermeneutik, Ulrich Oevermann, Entgrenzung pädagogischen Handelns, Fallrekonstruktion
Arbeit zitieren
Anonym, 2013, Die Objektive Hermeneutik als Methode zur Textinterpretation. Eine Rekonstruktion des Falles „Lehrerin kritisiert Protokoll eines Schülers”, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334921

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