Vom Suchen und Finden. Art und Tiefe der römischen Eroberung des rechtsrheinischen Germaniens anhand neuentdeckter archäologischer Spuren

Eine Untersuchung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

29 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung: Germaniam [] pacavi

1. „Kolonialisierung“ und „Provinzialisierung“ innerhalb des Dreiklangs der Herrschaftssicherung

2. Historische Einteilung der zwischen 1980 und 2015 aufgedeckten Stützpunkte in die archäologischen Phasen der römischen Okkupation im rechtsrheinischen Germanien
2.1. Der „Oberaden-Horizont“
2.1.1. Das römische Lager bei Hedemünden
2.2. Der „Haltern-Horizont“, Phase 1
2.2.1. Das Römerlager von Marktbreit
2.3. Der „Haltern-Horizont“, Phase 2
2.4. Horizontübergreifende Befunde im Rechtsrheingebiet
2.4.1. Die Marschlager von Dorsten-Holsterhausen
2.4.2. Die zivile römische Siedlung von Lahnau-Waldgirmes
2.5. Eine (noch) nicht näher datierte Militäranlage römischer Provenienz
2.5.1. Das Marschlager bei Wilkenburg
2.6. Eine erste Deutung der archäologischen Funde seit 1980

3. Der Anfang vom Ende der Okkupationszeit: Die Varusschlacht

4. Von den Grenzen der Archäologie

Fazit

Literaturverzeichnis

Anlage

Einleitung: Germaniam […] pacavi

Wie so oft in der Geschichte berühmt gewordener Aussagen und Passagen wird auch die im 26. Kapitel des Tatenberichtes des Augustus erwähnte Unterwerfung Germaniens von Historikern der Neuzeit auf einen kurzen, dem scheinbar denkwürdigsten, Fakt reduziert. Dadurch erscheint der Eindruck, Germanien sei erfolgreich als Provinz in das Imperium Romanum eingegliedert worden. Dies sagt die zur Gänze gelesene Passage nicht aus. Die besondere Erwähnung Germaniens im Anschluss an die Provinzen Galliens und Spaniens deutet auf eine Sonderstellung der Gebiete rechts des Rheins. Ebenso gibt die verschiedenartige Nutzung der Grammatik im Lateinischen zu denken: Die Verwendung der Mehrzahl bei „Gallias et Hispanias provincias“ [1] deutet eine von Rom durchgeführte und kontrollierte Zersplitterung der eroberten Gebiete in Verwaltungsbereiche an; die Einzahl „Germaniam“[2] weist dagegen auf einen schwer von außen zu durchdringenden Block. Dennoch gibt Augustus kurz vor seinem Tod an, das rechtsrheinische Germanien bis zur Elbmündung[3] zum Frieden gebracht oder gar unterjocht zu haben. Während aufgrund der Niederlage in der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. von einer erfolgten Unterjochung dieses Gebietes kaum mehr gesprochen werden kann, so gibt die erste Übersetzung des Wortes „pacavi“[4] eine zeitgenössische reale Bilanzierung des dortigen Geschehens wieder: Seit 10 n. Chr. ist mit Tiberius der designierte Nachfolger des Princeps als Statthalter in Gallien eingesetzt, dessen vorrangige Aufgabe darin besteht, die Rheingrenze zu ordnen, zu stabilisieren, zu sichern – im Versuch, auch Germanien zu befrieden.

Da der Tatenbericht des Augustus nicht dem Heer bestimmt ist sondern dem römischen Senat als Institution, die das Herrschaftssystem weiterhin akzeptieren soll, ist diese positiv-propagandistische, als doppelbödig anzusehende Sicht auf die Geschehnisse in Germanien für den alten Princeps verpflichtend: Mittels positivistischer Formulierungen werden in diesem Rechenschaftsbericht, in seiner Anfertigung der republikanischen Tradition folgend, unter Ausklammerung der Niederlagen die Erfolge der langjährigen Herrschaft Augustus‘ dargelegt. Ebenso traditionalistisch auf den Anschluss des Prinzipats an die Zeit der Republik hinweisend, ist die Zahl der kaiserlichen Provinzen auf jene zehn begrenzt, die einst von den höchsten römischen Magistraten verwaltet wurden; Germanien als elfte selbständige Provinz würde dagegen verstoßen.

Anhand der seit den 1980er Jahren aufgedeckten archäologischen Quellen im rechtsrheinischen Gebiet sollen auf den folgenden Seiten die Tiefe und Art der dort geschehenen römischen Okkupation überprüft werden mitsamt einem Versuch, die Frage zu klären, ob eine Herrschaft über Germanien mit dessen Eingliederung als Provinz des Imperium Romanum von Beginn an beabsichtigt war. Dazu verwende ich die umfangreiche Forschungsliteratur um die zwischen 1980 und 2015 aufgedeckten römischen Stützpunkte von Wilkenburg, Dorsten-Holsterhausen, Hedemünden, Lahnau-Waldgirmes und Marktbreit, da diese das bis in die 1970er Jahre bestehende Bild der Okkupation des rechtsrheinischen Gebietes nachhaltig verändert haben. Bereits anhand der Literatur um Waldgirmes ist die Veränderung der Interpretation des archäologischen Materials erkennbar: Bis Ende der 1990er Jahre als militärischer Stützpunkt angesehen, gilt es nunmehr als zivile Stadt, die in den historiographischen Quellen nicht erwähnt wird; die Forscher jedoch zu weitreichenden Interpretationen anregt.

Um diese sich auf Waldgirmes konzentrierenden Gedanken der Archäologen zu überprüfen, werden im ersten Kapitel die Begriffe „Kolonialisierung“ und „Provinzialisierung“ im ersten Kapitel definiert. Das zweite Kapitel befasst sich mit den oben genannten Anlagen, die mit ihren jeweiligen geographischen Besonderheiten historisch mit Konzentration auf ihre Rückwirkung auf die zeitgenössische mitteleuropäische Bevölkerung in die archäologischen Phasen eingeordnet werden. Daran anschließend befasst sich das dritte Kapitel mit den Rückwirkungen der Varusschlacht auf Haltern und Waldgirmes, während das vierte Kapitel mit der Suche nach dem von Krešimir Matijević diskutierten „Germanicus-Horizont“[5] als Grenze der alleinigen Erkenntnisgewinnung durch die Archäologie die Diskussion um die Interpretationshoheit von Waldgirmes beschließt.

Im abschließenden Fazit weise ich nach, dass es Bestrebungen gab, die eroberten Gebiete Germaniens als Nebenprovinz Galliens in das Imperium Romanum einzugliedern; nicht aber als selbständige Provinz.

1. „Kolonialisierung“ und „Provinzialisierung“ innerhalb des Dreiklangs der Herrschaftssicherung

Um nachzuvollziehen, warum Archäologen wie Armin Becker[6], Siegmar von Schnurbein[7] und Stefan Burmeister[8] versuchen, anstatt einen misslungenen Kolonisierungsprozess zuzugeben, eine begonnene Provinzialisierung des rechtsrheinischen Germaniens aus den in den letzten 35 Jahren aufgedeckten archäologischen Befunden – speziell um Waldgirmes – herauszulesen, ist es notwendig, die Begriffe „Kolonialisierung“[9] und „Provinzialisierung“ nicht nur modern zu denken, sondern im antiken Sinn zu erfassen.

Modern gedacht, überspringen Becker, von Schnurbein und Burmeister von der Eroberung zur Eingliederung des eroberten Gebietes als Provinz des okkupierenden Staates den zentralen Part der aus Eroberung, Kolonisierung und Provinzialisierung bestehenden dreiteiligen Hierarchie der Herrschaftssicherung: die Kolonisierung. Ohne diese kann es in den Augen des modernen Lesers keine Provinzialisierung geben, weil die Grundlage der Besiedlung des Landes durch herrschaftssichernde Bevölkerungsteile fehlt. Dadurch mutet die von einem modernen Forscher geborene Idee dieses Schrittes der Römer in einem schwer zu erobernden Gebiet umso revolutionärer und bedeutungsschwerer an. Das moderne Denken über die Reihenfolge von Kolonisierung und Provinzialisierung wird zunächst bestätigt, wenn die Begrifflichkeiten „ colonia“ und „provincia“ in ihrer Historizität nachvollzogen werden. Während die ältesten römischen Koloniegründungen[10] auf das Jahr 494 v. Chr. zurückgehen[11], errichten die Römer erst 201 v. Chr. mit der Einbindung Siziliens in ihren Herrschaftsbereich die erste außeritalische Provinz[12].

Da Rom und die zuvor über Sizilien herrschenden Mittelmeermächte Stadtkulturen[13] waren, spielt sich herrschaftliche Einbindung der sizilischen Peripherie hauptsächlich in den Städten als Herrschaftszentren ab. Eine vorherige Kolonisation durch römische Bauern erscheint bis zur Zeit des Augustus nicht als opportun. Zur republikanischen Zeit wird Sizilien zur Herrschaftssicherung von der Stadt Rom einseitig zugunsten des Siegers durch einen vom Senat gesandten Magistrat verwaltet und ausgebeutet, um sich dessen Wirtschaftskraft nutzbar zu machen.

In den kaum urbanisierten Siedlungsgebieten[14] der Stammesgesellschaften Galliens und Germaniens hingegen gestaltet es sich als schwierig, Kolonien oder gar Provinzen zu etablieren[15]. Dennoch wird Gallien von den Römern nicht nur als Provinz wahrgenommen sondern als solche beherrscht, was an der erfolgreichen militärischen Unterwerfung der Stämme liegt. Diese wird mittels Errichtung römischer Militäranlagen[16] sowie durch die Etablierung von Verwaltungsdistrikten als Vorläufer der Provinzen manifestiert. Die gallischen Stämme werden innerhalb der eingerichteten Provinz in „civitates“ eingeteilt[17], die dem Anspruch der Römer genügen, über urbanisierte Untertanen zu herrschen. Durch diese Umwandlung einer Kriegergesellschaft in eine Stadtkultur findet innerhalb der Hierarchie der Herrschaftssicherung jener Platztausch von „Kolonisierung“ und „Provinzialisierung“ statt, der einzigartig in der Geschichte ist und sich bereits im Fall Sizilien angedeutet ist.

Dieser Tausch innerhalb der Herrschaftssicherung hat zur Folge, dass die formale Unterwerfung der eroberten Gebiete mittels Einrichtung einer Provinz der Gründung einzelner Kolonien mit Stadtstruktur vorausgeht. Daher spielen die durch das Militär gegründeten und gehaltenen Anlagen nicht nur eine angriffs- und verteidigungspolitische Rolle, sondern auch eine zivilisatorisch-urbanisierende, als deren Höhepunkt die im Laufe der folgenden Jahrhunderte erfolgende kaiserliche Ernennung zu Kolonien angesehen werden muss.

2. Historische Einteilung der zwischen 1980 und 2015 aufgedeckten Stützpunkte in die archäologischen Phasen der römischen Okkupation im rechtsrheinischen Germanien

Wie jedoch gestaltet sich die Rolle der im rechtsrheinischen Germanien errichteten Militäranlagen? Können sie wirklich als Nachweise für eine begonnene Provinzialisierung, wie Becker, von Schnurbein und Burmeister annehmen, angesehen werden? Oder sind sie Teil einer militärischen Erstsicherung des eroberten beziehungsweise von Rom einmal betretenen und damit auf immer beanspruchten Gebietes?

Beide Positionen sind anhand des Befundes der Überreste militärischer – und in Hinblick auf Waldgirmes ziviler – Anlagen zwischen Wilkenburg und Marktbreit annehmbar. Daher ist für die Beantwortung der oben gestellten Fragen ein Überblick über die in den archäologischen Phasen erfolgten historischen Geschehnisse notwendig. Auch müssen die im rechtsrheinischen Germanien errichteten Bollwerke römischer Herrschaft historisch kontextualisiert und den von der Archäologie benannten Zeiträume zugeordnet, um in ihrer Bedeutung innerhalb dieser bewertet zu werden.

Bemerkenswert sind die Stätten von Marktbreit (archäologisch bearbeitet in den Jahren 1986 – 1990)[18], Waldgirmes (1993 - 2009)[19], Dorsten-Holsterhausen (1999 – 2002)[20], Hedemünden (1998 – 2004)[21] und Wilkenburg (seit 2015)[22] aufgrund ihrer Rolle in der Neubewertung der durch sie nunmehr nachweisbaren Tiefe der römischen Okkupation im rechtsrheinischen Germanien in den Jahren zwischen 12 v. Chr. und 16 n. Chr. Jedoch gibt es in Hinblick auf die Wirkmächtigkeit dieser Anlagen auf die germanisch-keltische Bevölkerung kaum Informationen. Dies hängt zunächst mit der allgemein dürftigen Quellenlage einer weitgehend schriftlosen Kultur zusammen, die uns lediglich durch eine Historiographie der Eroberer überliefert ist. Andererseits wurde die archäologische Erforschung germanischer Stätten in den 1930er Jahren auf eine Art verwandt, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Konzentration auf die Beschäftigung mit den Gegnern der mitteleuropäischen Bevölkerung geführt hat. Dadurch ist die archäologische Forschung der Kulturen Mitteleuropas als peripher einzuschätzen, weshalb die wenigen Informationen zur germanischen Umgebung innerhalb der Erforschung römischer Anlagen als wichtig für das Verhältnis der augusteischen Kriegsparteien anzusehen sind. Mit Konzentration auf diesen Gesichtspunkt sollen in diesem Kapitel innerhalb der Kurzuntersuchungen der römischen Stützpunkte mittels derer allgemeine geographische Lageangaben mögliche Antworten auf die Art der Eroberung Germaniens gegeben werden.

2.1. Der „Oberaden-Horizont“

Der sogenannte „Oberaden-Horizont“ ist die älteste Fundschicht in Innergermanien, in welcher römische Militaria archäologisch gefunden, bestimmt und erforscht werden. Benannt ist diese nach dem Lager Oberaden, welches Dieter Timpe[23], einer These Kropatschecks[24] folgend, mit dem in der Notiz von Cassius Dio erwähnten „am Zusammenfluss von Lippe und Elison“ errichteten Kastell[25] identifiziert. Von überdimensional großen Lagern geprägt, ist diese Schicht historisch auf die Feldzüge des Drusus zwischen 12 und 9 v. Chr. eingrenzbar und mittels Keramik- und Münzfunden (beziehungsweise durch das Fehlen jüngerer Prägungen) zweifellos datierbar; die Zerstörung der drusianischen Lager[26] fällt in die Jahre der ersten gallischen Statthalterschaft des Tiberius.

Oberaden ist nach der auf Kropatscheck zurückgehenden Theorie das älteste historiographisch belegte römische Lager im rechtsrheinischen Germanien. Dendrochronologisch datiert seine Errichtung in den Spätsommer 11 v. Chr.[27] Diese Datierung ist jedoch auch – neben der geographischen Angabe, das erste von einem Historiker erwähnte römische, im Kampf gegen die Germanen errichtete Kastell läge an einem Zusammenfluss eines nicht mehr namentlich und geographisch fassbaren Flusses mit der Lippe – Anlass, dieser Theorie nicht zu folgen. Laut Cassius Dio ist Drusus im Jahre 12 v. Chr. zunächst im Gebiet der Usipeter tätig gewesen, ehe er das Land der Sugambrer verwüstet hat, um den Rhein gen Norden hinab zu fahren, wo sich die Friesen mit ihm gegen die Chauken verbündet haben.[28] Das Jahr 11 v. Chr. verbringt er damit, die Usipeter zu unterwerfen, die Lippe zu überbrücken, um danach das Land der Sugambrer zu verwüsten und im Gebiet der Cherusker bis an die Weser vorzudringen.[29] Erst dort wird er durch Proviantmangel und den Einbruch des Winters gestoppt.[30] Auf dem Rückweg zum Rhein lässt er das mit Oberaden gleichgesetzte Lager errichten, was aufgrund der Wetterunbilden – eine wetter- und klimaverändernde Naturkatastrophe ist für die Jahre vor 11 v. Chr. nicht bezeugt[31] – in den fortgeschrittenen Herbst (ab Anfang Oktober) zu setzen ist.[32] Da Oberaden nachweislich im Spätsommer (Ende August/ Mitte September) errichtet wurde, ist es denkbar, es nicht mit dem von Cassius Dio erwähnten Lager gleichzusetzen. Vielmehr könnte es eines sein, das während des drusianischen Vordringens in die germanischen Gebiete erbaut worden ist. Demnach wäre es älter als das älteste historiographisch belegte Römerlager im rechtsrheinischen Germanien, das noch nicht aufgedeckt ist.

2.1.1. Das römische Lager bei Hedemünden

Das jüngst aufgedeckte, aufgrund näherer archäologischer Forschung datierte Römerlager im rechtsrheinischen Gebiet ist gleichzeitig das historisch älteste; es wird mit dem letzten Feldzug des Drusus im Jahre 9 v. Chr. in Verbindung gebracht, bei dem es wohl als Logistikbasis[33] gedient hat. Zusammen mit mehreren verschiedenartigen augusteisch-römischen Anlagen[34] bildet das Hauptlager einen 25 ha großen Komplex, der einen gut sichtbaren, die umliegende Landschaft dominierenden Höhenrücken am westlichen Rand des Werratales oberhalb einer Furt besetzt. Letztere ist bis zum Hochmittelalter der „wichtigste Flussübergang des unteren Werratales“[35] gewesen und wurde hier von einem alten Fernweg zwischen Nordhessen und Südniedersachsen gequert[36]. Ebenso stellt die Werra „als Schifffahrtsweg… eine ebenso wichtige überregionale Verkehrslinie“[37] dar. Demnach ist laut Klaus Grote durchaus erwartbar, dass aufgrund der Geländesituation „und für den Warennachschub des römischen Standlagers“[38] – aber auch für die weitere Logistik zur Weser hin – noch die Reste einer antiken Schiffanlegestelle aufgedeckt werden könnten.

Durch die dominierende Lage des Lagers über diesen Abschnitt des Flusses beherrschen die Römer nicht nur den Übergang des Flusses, sondern kontrollieren auch die Verbindungen zwischen den germanischen Stämmen. Außerdem etablieren sie sich als neue Herrscher mittels eines nach Süden hin repräsentativen Bauwerkes, das durch die vorgelagerten Bollwerke den Höhenrücken mit seinen Quellaustritten, die wichtig für die Trinkwasserversorgung der Lager – und möglicherweise auch der Umgebung – gewesen sind, für die germanisch-keltische Vorbevölkerung nahezu unzugänglich gemacht hat. Dazu passt Grotes Feststellung, dass „sich für den Umkreis des römischen Lagers zur augusteischen Zeit sowie die Jahrzehnte nach dessen Auflassung eine länger andauernde Siedlungsleere abzuzeichnen“[39] scheint – und das in einer Siedlungskammer, die vom Mesolithikum an bis in die jüngere vorrömische Eisenzeit intensiv genutzt worden ist[40]. Demnach wäre die Behauptung nicht übertrieben, die Römer unter Drusus seien für eine mehrere Jahrhunderte andauernde Lücke in der Besiedlung um Hedemünden[41] verantwortlich.

2.2. Der „Haltern-Horizont“, Phase 1

Dem „Oberaden-Horizont“ schließt sich mit der ersten Statthalterschaft des Tiberius in Gallien die erste Phase des „Haltern-Horizontes“ an. Diese beginnt zwischen 7/5 v. Chr. und Christi Geburt[42] mit der Errichtung des als Hauptlager bezeichneten Kastells auf dem Silverberg, welches erst in Folge der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. zerstört wird[43]. In diesem Kastell lassen sich zwei Bauphasen unterscheiden – speziell an der Principia [44].

Die erste Phase des „Haltern-Horizontes“ erlebt einen innergermanischen immensum bellum[45] in den Jahren zwischen 1 und 4 n. Chr. sowie die zweite tiberianische Statthalterschaft über Gallien. In dieser Zeit konzentrieren sich die Römer auf militärische Aufgaben zur Sicherung der Lippelinie sowie des Rheins von Innergermanien her. In den Zeitraum zwischen 8 v. Chr. und 5 n. Chr. fällt als erste Maßnahme zur Befriedung des rechtsrheinischen Gebietes die zwangsweise Umsiedlung der Sugambrer in linksrheinisches Gebiet um 8/7 v. Chr., während die Sueben sich gen Osten zurückziehen. Dies hinterlässt im rechtsrheinischen Germanien ein Macht- und Besiedlungsvakuum, das die übrigen Stämme weder siedlungs- noch machtpolitisch auszufüllen in der Lage sind. Dieses Vakuum, in das selbst die Römer nur teilweise hineinzustoßen vermögen, könnte ein Grund für den immensum bellum sein, den Tiberius ab 4 n. Chr. erfolgreich unterdrückt – bis er 6 n. Chr. nach Pannonien gesandt wird, den dortigen Aufstand niederzuschlagen.

2.2.1. Das Römerlager von Marktbreit

Im Jahr 1985 wird nahe Marktbreit ein römisches Lager auf dem Kapellenberg, „einer flachen, spornartig über dem Main gelegenen Bergkuppe“[46], entdeckt, das in den folgenden Jahren archäologisch aufgedeckt wird. Martin Pietsch[47] geht davon aus, dass dieses Legionslager eine drusianische Gründung sei; dagegen konstatiert Dieter Timpe[48] eine sichere Existenz dieses erst im Zusammenhang mit dem im Jahr 6 n. Chr. geplanten Böhmenfeldzug nur kurzfristig als Nachschubbasis genutzten Lagers[49]. Nach Timpes Annahme fällt dessen Bau historisch in die späte erste Phase des „Haltern-Horizontes“. Mit dieser Datierung korrespondiert auch Pietschs Feststellung, dass Marktbreit und Haltern die kleinsten aller augusteischen Principia aufweisen[50], was einerseits auf eine ähnliche Erbauungszeit, andererseits auf einen Wechsel in der Militärstrategie hinweisen könnte: Anstatt neue Gebiete zu erobern, gilt es jetzt, die Rheingrenze zu sichern, indem der rheinnahe Raum befriedet wird. Zu diesem gehört nicht nur die Lippe, auf die sich die Archäologie aufgrund der dort aufgedeckten Lager konzentriert, sondern auch weiter südlich der Main, dessen okkupationszeitliche Bedeutung bisher als peripher eingestuft worden ist.

Der Ort des in Luftlinie 140 km von Mainz entfernten Lagers ist ideal für die militärische Sicherung einer Logistikbasis; zunächst ist aufgrund seiner topographischen Lage die unbemerkte Annäherung eines Feindes kaum möglich, über eine Schiffsanlegestelle sind sowohl Nachschub als auch Versorgung der Lagertruppen gesichert – aber auch diejenige weiter östlich operierender Truppen. Auch gibt es über den schiffbaren Fluss eine weitere Anbindung an das am Rhein gelegene Hauptlager in Mainz.[51] Aufgrund der beherrschenden Lage an einem alten Mainübergang vermögen die in Marktbreit lagernden Truppen nicht nur die Verkehrswege über und um den Fluss zu kontrollieren, sondern auch die Kommunikation zwischen den in der Umgebung siedelnden germanisch-keltischen Stämmen.[52] Dass dies eine Möglichkeit ist, die römische Herrschaft über das Maingebiet zu sichern, zeigt die vielfältige germanisch-keltische Bevölkerungsstruktur in der augusteischen Zeit, die Ludwig Wamser folgendermaßen charakterisiert: Nach einer nicht näher bestimmten Phase eines Rückganges keltischer Besiedlung ist die Umgebung des Lagers Marktbreit „von zugewanderten Bevölkerungsteilen vorwiegend elbgermanischer, zum Teil auch rheinwesergermanischer Prägung, daneben aber noch von ‚germanisierten‘ keltischen Bevölkerungssplittern linksrheinischer Herkunft“ weiterbesiedelt worden.[53] Aufgrund dieser Vielzahl kultureller Bevölkerungsteile sind Auseinandersetzungen zwischen diesen denkbar, die von den Römern genutzt worden sind, ihren Herrschaftsanspruch sowohl militärisch als auch kommunikationstechnisch zu festigen.

[...]


[1] Aus Res gestae divi Augusti (= Monumentum Ancyranum) 26, 2 in: Altes Germanien. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen und ihre Beziehungen zum Römischen Reich. Quellen der Alten Geschichte bis zum Jahre 238 n. Chr. Zweiter Teil. Herausgegeben und übersetzt von Hans-Werner Goetz und Karl-Wilhelm Welwei. (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe Ia/2). Darmstadt 1995. S. 43. (= Altes Germanien)

[2] Altes Germanien S. 43: Res gestae divi Augusti 26,2.

[3] Altes Germanien S. 43: Res gestae divi Augusti 26,2: „[…] ad ostium Albis fluminis“, aber meines Erachtens nicht weiter die Elbe hinunter.

[4] Altes Germanien S. 43: Res gestae divi Augusti 26,2.

[5] Krešimir Matijević: Germanische ‚Gefolgschaften‘ und Germanicus-Horizont. Zur Aussagekraft des Leichenfundes im Halterner Töpferofen Nr. 10. In: Klio 93, 1 (2011). S. 167 – 172. (= Matijević)

[6] Im Vortrag zur Jahressitzung 2001 der Römisch-Germanischen Kommission. Waldgirmes. Eine augusteische Stadtgründung im Lahntal. In: Bericht der Römisch-Germanischen Kommission Band 82 (2001). S. 591 – 610. (= Becker/ Rasbach 2001) stellt Armin Becker gemeinsam zusammen mit Gabriele Rasbach auf Seite 609 die Frage: „… wie weit war die Einrichtung einer Provinz gediehen?“ Da er im Artikel Lahnau-Waldgirmes. Eine augusteische Stadtgründung in Hessen. In: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte Band 52, 3 (2003). S. 337 – 350. (= Becker 2003) die Meinung vertritt, dass sich „mit dem Befund von Waldgirmes das zeitweilige Ziel einer Provinzialisierung m.E. nicht mehr negieren“ (S. 345 – 346) lässt, halte ich Becker für den Macher der Provinzialisierungsidee.

[7] Laut Siegmar von Schnurbein: Augustus in Germanien. Neue archäologische Forschungen. Vierentwintigste Kroon-Voordracht. Amsterdam 2002. S. 31 ist Varus durch sein Versagen schuld, dass sich „hier [in Waldgirmes, P.R.] kein Zentrum in der geplanten Provinz Germanien entwickeln konnte.“ (= von Schnurbein).

[8] Stefan Burmeister geht im Artikel Roms Kampf im Norden. Die Eroberung Germaniens. In: Stefan Burmeister / Joseph Rottmann (Hrsg.): Ich Germanicus. Feldherr. Priester. Superstar. Darmstadt 2015. (Archäologie in Deutschland Sonderheft 8/ 2015). S. 9 – 16. davon aus, dass „die römische Germanienpolitik … zu einer sukzessiven Eroberung und Provinzialisierung umschlug.“ (= Burmeister)

[9] Die Begriffe Kolonialisierung und Kolonisierung verwende ich synonym.

[10] Diese sind mit Stadtgründungen verbunden, die über ein begrenztes Umland Herrschaft ausüben.

[11] Siehe Karte Sp. 77 – 78 in: Hartmut Galsterer: Lemma „Coloniae“. In: DNP 3. Stuttgart 1997. Sp. 76 – 85.

[12] Moses I. Finley, Denis Mack Smith, Christopher Duggan: Geschichte Siziliens und der Sizilianer. München 20063. S. 59. (= Finley etal.).

[13] Als solche sind sowohl Griechen als auch Phönizier zu verstehen.

[14] Die keltischen Oppida sind zwar stadtähnliche Siedlungen, gelten in meinen Augen jedoch eher als fürstliche Herrschaftssitze denn als mittelmeerübliche Stadtkulturen.

[15] Die Zentren der augusteischen Koloniegründungen finden sich in Spanien, Nordafrika, Sizilien, Italien, auf dem Balkan, in Kleinasien, Syrien und an der französischen Mittelmeerküste; letztere weist die geringste Dichte augusteischer Kolonien auf, die an Stellen gegründet sind, an denen zuvor griechische Kolonien etabliert waren. Das übrige Gallien sowie Germanien spielen in Hinsicht auf Koloniegründungen in der Zeit zwischen 27 v. Chr. und 14 n. Chr. keine signifikante Rolle. (Siehe Karte Sp. 79 - 80 unter Hartmut Galsterer: Lemma „Coloniae“ in: DNP 3. 1997. Sp. 76 – 85.)

[16] Zu diesen zähle ich auch die von Caesar und seinen Nachfolgern angelegten Veteranenkolonien.

[17] Norbert Hanel: Die Römer und der Rhein. In: Archäologie in Deutschland 2014, 4. S. 26 – 29. (= Hamel) S. 27.

[18] Martin Pietsch, Dieter Timpe, Ludwig Wamser: Die augusteischen Truppenlager Marktbreit. Bisherige archäologische Befunde und Erwägungen. Mit einem Beitrag von Helmut Becker. In: Bericht der Römisch-Germanischen Kommission. Band 72 (1991). S. 263 – 324. (= Pietsch etal.)

[19] Armin Becker, Gabriele Rasbach: Der spätaugusteische Stützpunkt Lahnau-Waldgirmes. Vorbericht über die Ausgrabungen 1996 – 1997. In: Germania 76, 2 (1998). S. 673 – 691. (= Becker, Rasbach 1998)

[20] Wolfgang Ebel-Zepezauer: Die augusteischen Marschlager in Dorsten-Holsterhausen. In: Germania 81, 2 (2003). S. 539 – 555. (= Ebel-Zepezauer).

[21] Klaus Grote: Das Römerlager im Werratal bei Hedemünden (Ldkr. Göttingen). Ein neuentdeckter Stützpunkt der augusteischen Okkupationsvorstöße im rechtsrheinischen Germanien. In: Germania 84, 1 (2006). S. 27 – 59. (= Grote).

[22] Henning Haßmann, Salvatore Ortisi, Friedrich-Wilhelm Wulf: Römisches Marschlager bei Hannover entdeckt. Münzen aus augusteischer Zeit. In: Archäologie in Deutschland 2015, 6. S. 4. (= Haßmann etal.).

[23] Dieter Timpe: Drusus‘ Umkehr an der Elbe. In: Rheinisches Museum für Philologie 110 (1967). S. 289 – 306. (= Timpe).

[24] Siehe Timpe S. 297.

[25] Altes Germanien S. 21: Cassius Dio 54, 33, 4.

[26] Dazu gehören die Lager von Rödgen, Beckinghausen und Dangstetten, die den Oberaden-Horizont mit typisieren.

[27] Johann-Sebastian Kühlborn: Das Römerlager Oberaden. In: Johann-Sebastian Kühlborn: Germaniam pacavi – Germanien habe ich befriedet. Archäologische Stätten augusteischer Okkupation. Münster 1995. S. 103 – 124. (= Kühlborn). S. 120.

[28] Altes Germanien S. 19: Cassius Dio 54, 32, 2-3.

[29] Altes Germanien S. 19: Cassius Dio 54, 33, 1.

[30] Altes Germanien S. 21: Cassius Dio 54, 33, 2.

[31] Nachzulesen in einer von mir angefertigten Liste der Naturkatastrophen. (Siehe Anlage S. 3)

[32] Altes Germanien S. 21: Cassius Dio 54, 33, 4.

[33] Grote S. 28.

[34] Neben dem Standlager ist die archäologische Stätte geprägt durch ein Vorlager, das möglicherweise als Marschlager fungiert hat, ein wohl als Wirtschaftsbereich zu identifizierendes Gebiet, in dem Lehm entnommen worden ist, ein weiteres möglicherweise römisches Lager sowie ein von Menschenhand geschaffenes Terrassensystem, dessen Herkunft nicht belegt ist.

[35] Grote S. 49.

[36] Grote S. 34.

[37] Grote S. 34.

[38] Grote S. 50.

[39] Grote S. 53.

[40] Grote S. 50 sowie 52.

[41] Sowohl durch eine genozidale Kriegsführung als auch die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung mittels Besetzung von lebensnotwendigen Kommunikations-, Handels- und Versorgungswegen.

[42] Hier folge ich von Schnurbein S. 11 – auch weil eine drusianische Gründung von Tiberius nicht weitergeführt sondern vielmehr aufgelassen und für lange Zeit unnutzbar gemacht worden wäre.

[43] Damit ist die Gesamtlebensdauer des „Halterner Horizontes“ (ca. 15 Jahre) im Vergleich zum „Oberaden-Horizont“ (etwa 4 Jahre) ungleich länger.

[44] Martin Pietsch: Die Zentralgebäude des augusteischen Legionslagers von Marktbreit und die Principia von Haltern. In: Germania 71, 2 (1993). S. 355 – 368. (= Pietsch). Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die S. 366 – 368. (Dazu mehr unter 2.3.)

[45] Altes Germanien S. 39: Velleius Paterculus 2, 104, 2.

[46] Pietsch S. 355.

[47] Pietsch S. 367.

[48] Pietsch etal. 314 – 319.

[49] Pietsch etal. S. 319.

[50] Pietsch S. 359.

[51] Pietsch etal. S. 274 – 275.

[52] Pietsch etal. 274 – 276.

[53] Pietsch etal. S. 270.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Vom Suchen und Finden. Art und Tiefe der römischen Eroberung des rechtsrheinischen Germaniens anhand neuentdeckter archäologischer Spuren
Untertitel
Eine Untersuchung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Geschichtswissenschaften)
Veranstaltung
Die Germanen und das Imperium Romanum
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
29
Katalognummer
V334735
ISBN (eBook)
9783668248083
ISBN (Buch)
9783668248090
Dateigröße
577 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine "souveräne Leistung", eine "gründliche Arbeit". (Erläuterung zum Anhang: Die Liste der Naturkatastrophen ist von mir selbst zusammengestellt worden; ich habe sie angehängt, um nachzuweisen, dass es um das Jahr 12/11 v. Chr. kein Naturereignis gegeben hat, das das Klima verändert hat.)
Schlagworte
Germanien, rechtsrheinisches Germanien, augusteisch, Augustus, Drusus, Tiberius, Germanicus, Arminius, Varusschlacht, Hessen, Nordrhein-Westfalen, NRW, Niedersachsen, Archäologie, deutsche Archäologie, Archäologie in Deutschland, Rom und die Germanen, Lahnau-Waldgirmes, Waldgirmes, Hedemünden, Marktbreit, Dorsten-Holsterhausen, Holsterhausen, Wilkenburg, bei Hannover, Oberaden, Oberaden-Horizont, Haltern, Haltern-Horizont, zivile Siedlung, Marschlager, Standlager, Rom, Feldzug, Feldherr, Okkupation, Eroberung, augusteische Lager, augusteische Römerlager in Germanien, augusteische Marschlager, augusteische Sgtandlager
Arbeit zitieren
Petra Rodloff (Autor:in), 2016, Vom Suchen und Finden. Art und Tiefe der römischen Eroberung des rechtsrheinischen Germaniens anhand neuentdeckter archäologischer Spuren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334735

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Titel: Vom Suchen und Finden. Art und Tiefe der römischen Eroberung des rechtsrheinischen Germaniens anhand neuentdeckter archäologischer Spuren



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