Großstadt- und Fremdheitserfahrungen in Christoph Leistens "Marrakesch, Djemaa el Fna" und Reinhard Kiefers "Café Moka"


Bachelorarbeit, 2014

42 Seiten, Note: 2,5

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Hypothesenherleitung
2.1 Mythos Orient: Die realitätsferne Sichtweise im Westen
2.2 Der Einfluss des Okzidents auf den Orient
2.3 Ein neues Orient-Bild

3 Analyse von Christoph Leistens „Marrakesch, Djemaa el Fna“
3.1 Marrakesch: Ein authentisches Stadtbild
3.2 Heimat und Fremde
3.3 Kontrastive: Orient und Okzident in Marrakesch

4 Analyse von Reinhard Kiefers „Café Moka“
4.1 Stadtbild von Agadir
4.2 Orient und Okzident in Agadir
4.3 Interkulturelle Brücken zwischen Orient und Okzident

5 Darstellungsweisen und Erfahrungsinhalte von Leisten und Kiefer im Vergleich

6 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt heute in Städten. Die Bedeutung der Stadt ist in allen – insbesondere in sozialen, kulturellen und politischen – Bereichen gewachsen. In weiten Teilen der Welt ist diese Verstädterung überwiegend ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts, da heute mehr Menschen in Städten leben, als noch im 19. Jahrhundert.[1] Die steigende Mobilität und Vernetzung internationaler Städte und der Austausch kultureller Erfahrungen im Zuge der Globalisierung haben eine besondere Konsequenz für die Literatur der Moderne: Die neuen Großstadt- und Fremdheitserfahrungen werden tendenziell zum Programm der deutschen Literatur. Dabei spielt die stark politisch und religiös beeinflusste Konfrontation zwischen Orient und Okzident eine zentrale Rolle. In den zu analysierenden Werken konzentriert sich die Begegnung mit dem Fremden auf Städte mit orientalischen Wurzeln, wo die kulturellen Differenzen sich deutlicher voneinander abheben, als in den heimischen Städten. Der daraus resultierende Konflikt wird zwar literarisch verarbeitet, kann jedoch kaum wertfrei oder unbeschränkt objektiv wiedergegeben bzw. dargestellt werden. Damit etabliert sich das folgende Problem: Das Bild des Orients in der westlichen Welt ist oft realitätsfern und von den Medien stark karikiert. Demnach stellt sich die Frage, wie der Orientalismus als Fremde verarbeitet wird und inwiefern sich deutsche Autoren vom heutigen Bild orientalischer Kulturen befreien können.

Das Programm der Reiseliteratur als Gattung nimmt sich dieser Fremdheits- und Großstadtforschung an. Die Verschriftlichung der Reise verbindet und motiviert Erkenntnisse, Begebenheiten und Reflektionen unabhängig voneinander auf der stilistischen und inhaltlichen Ebene. Die literarische Gestaltung von Reiseberichten wirkt sich auf den Aufbau und Inhalt des Textes aus und verknüpft verschiedene Aspekte miteinander. Zur Reiseliteratur zählen nur solche Werke, die eine reale oder fiktive „räumliche Reisebewegung“ als Gegenstand haben, wodurch die Reise zur konkreten Vorgabe des Handlungsverlaufes wird.[2] Die Verschriftlichung und Vermittlung der Reise bedarf spezifischer Methoden, wie die Codierung, Dokumentation und Niederschrift.[3] Die Folge ist, dass die Reise literarisch erfahr- und analysierbar wird.

Das Ziel dieser Bachelorarbeit ist es, die Großstadt- und Fremdheitserfahrungen in den marokkanischen Städten Marrakesch und Agadir, in den Werken „Marrakesch, Djemaa el Fna“ von Christoph Leisten und „Café Moka“ von Reinhard Kiefer, zu analysieren und unter verschiedenen Aspekten miteinander zu vergleichen. Denn gerade in diesen Werken steht die Begegnung zwischen westlichen Vorurteilen gegenüber dem Orient und der Realität im Fokus. Das dokumentierte Aufeinandertreffen der Kulturen des Orients und Okzidents soll in beiden Städten, herausgestellt und die Folge der veränderten Bedingungen verdeutlicht werden. Die vorliegende Arbeit sieht sich als Beitrag zur Fremdheitsforschung der Gegenwart und literarischen Neuorientierung des vorbelasteten Bildes vom fremden Orient. Es ist nicht Anliegen dieser Untersuchung eine Vereinheitlichung deutscher Prosawerke zu diesem Thema vorzunehmen oder einen Literaturkanon zu erstellen. Vielmehr soll die Heterogenität und Vielschichtigkeit des Sujets aufgezeigt und die Perspektiven dieser beiden Autoren herausgestellt werden. Dabei soll verdeutlicht werden, welchen Einfluss die Fremde auf den Erfahrungsschatz der Autoren hat und wie diese literarisch verarbeitet wird.

Dazu wird die Thematik dieser Bachelorarbeit analytisch-interpretatorisch bearbeitet. In Anbetracht der Textsorte kann durch die Aufstellung von Hypothesen und Untersuchungspunkten konkret auf den jeweiligen Text eingegangen werden, da dieser sehr viel Platz für freie Interpretationen lässt. Nach der Einleitung wird diese Arbeit in einen theoretischen und einen methodischen Teil eingeteilt. Im theoretischen Teil werden die interpretatorischen Hypothesen aufgestellt und die inhaltlich relevanten Schlagwörter nähergebracht (Vorurteil, Fremde und Heimat, Großstadt). Trotz der theoretischen Vorüberlegungen, liegt der Hauptteil dieser Arbeit im darauf folgenden methodischen Teil, in dem beide Werke separat und jeweils nach drei Untersuchungspunkten analysiert werden.

Bei Christoph Leistens „Marrakesch, Djemaa el Fna“ wird zunächst das Stadtbild Marrakesch und sein berühmter Platz, Djemaa el Fna, durch die Aspekte Masse, Farb- und Geräuschkulisse sowie Darstellungsweise erläutert. Danach wird der Fremd- und Heimatbegriff im Kontext verschiedener Fragmente definiert. Dabei wird vor allem der Kontrast zwischen diesen beiden Begriffen verdeutlicht. Im Anschluss daran wird die Konfrontation der beiden Kulturen Orient und Okzident unter dem Aspekt der Omnipräsenz des Okzidents in Marokko analysiert und die Darstellungsweise des Orients in dem Werk näher betrachtet.

Die Analyse von „Café Moka“ verläuft ähnlich und die Untersuchungspunkte werden dem Werk angepasst. Zunächst wird auch hier das Stadtbild von Agadir erläutert. Dabei stehen die starken Gegensätze innerhalb der Stadt im Fokus sowie die Position des Café Mokas im Gesamtzusammenhang. Danach wird der bewusste Vergleich von Orient und Okzident analysiert und das Spiel mit den westlichen Klischees bezüglich des Orients verdeutlicht. Im Anschluss daran werden die Interkulturellen Vergleiche erläutert und interpretiert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Bezugspunkten zwischen Orient und Okzident, welche Reinhard Kiefer durch die Mythen von Sindbad und Odysseus verdeutlicht.

Die literarische Darstellungsweise der beiden Werke – sprachliche Mittel und Stile – und der Erfahrungsinhalt werden im vorletzten Teil dieser Bachelorarbeit voneinander abgegrenzt und deren Unterschiede hervorgehoben.

Zum Schluss wird das Fazit gezogen und einen Zukunftsausblick auf die Reiseliteratur als wachsende Gattung, mit ihrer Möglichkeit einen Zugang zu anderen Kulturen zu geben, erläutert.

2 Hypothesenherleitung

Die Aufstellung von Hypothesen ist ein zentrales Element bei der Analyse von literarischen Werken, denn diesen liegt die theoretische Grundlagenarbeit zugrunde. Um sich sowohl mit dem allgemeinen Wesen als auch mit den spezifischen Strukturen und Darstellungsmitteln eines literarischen Komplexes auseinandersetzen zu können, bedarf es einer theoretischen bzw. poetologischen Fundierung. Die Hypothesen zum westlichen Bild des Orientalismus werden in der anschließenden analytisch-interpretatorischen Untersuchung überprüft.

2.1 Mythos Orient: Die realitätsferne Sichtweise im Westen

Für deutsche Schriftsteller war im Laufe der Jahrhunderte das Fremde schon immer ein „Akt der existentielle[n] Herausforderung, der Bewährung und Befreiung.“[4] In der Literatur wird von Winckelmann bis zu Goethe, ein bestimmter Typus modifiziert, der seinen Intellekt nur in fremden Ländern reifen lassen kann. Dabei wird deutlich, dass er sich von kollektiven Gedanken, in Bezug auf den Wahrnehmungsgegenstand sowie der Art und Weise der Wahrnehmung des Fremden, loslösen muss:

[…] die Elaboriertheit des mitgebrachten Bildes von der Sache, wirft ein doppeltes hermeneutisches Problem auf. Wird der voreingenommene Blick auf die Dinge diese noch zum Sprechen bringen können, und wenn ja, in welcher Weise? Und wird ferner dieser Blick Dinge wahrnehmen, die außerhalb seiner Vorerwartung liegen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen?[5]

Bei der Auseinandersetzung mit dem westlichen Bild des Orients fällt auf, dass viele Assoziationen paradiesisch und klischeehaft sind:

Malerische Paläste, beladen mit Edelsteinen und kostbaren Teppichen. Schöne Haremsdamen, die mit ihrem Bauchtanz alle Blicke auf sich ziehen. Faszinierende Märchenerzähler mit Bart und Wasserpfeife, die ihre Zuhörer erschauern lassen. Basare voller Gewürze und edler Stoffe.[6]

Dieser Mythos des Orients entwickelte sich über Jahrhunderte im Westen und dominiert bis heute die Vorstellungen des Morgenlandes. Auf der einen Seite macht es die Fremde dadurch verlockend und verheißungsvoll, auf der anderen Seite scheitern diese Voreinstellungen jedoch maßgeblich an der Realität und verändern diese.

Das zentrale Problem ist in diesem Zusammenhang die westliche Überzeugung, dass die eigenen Großstädte der Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung seien.[7] Demnach werden alle anderen, fremden Städte mit solchen Vorurteilen behaftet. Dieses Denken lässt sich auf die Kolonialzeiten zurückführen, in der fremde Städte nach europäischen Maßstäben transformiert und zu Miniaturbildungen ihrer Metropolen wurden: „Die Großstädte Europas – industrialisierte, gigantisch diversifizierte Bevölkerungs-, Produktions- und Verwaltungszentralen – machten sich zum Scheitelpunkt menschlicher Ordnungsfähigkeit.“[8] Die europäischen Großstädte erhielten eine globale Symbolik, die unverwechselbar und immer gültig blieb. Doch in der Gegenwart ist der Großstadtbewohner ein „Nicht-Europäer“,[9] der die Verwandlung seiner nest-ähnlichen Heimat zur Metropole miterlebt hat. Es ist zu verzeichnen, dass immer mehr nicht-europäische Orte zu Großstädten heranwachsen: „Die Stadt Mexiko, von den Spaniern für maximal 15.000 Bewohner ausgelegt, nahm nach 1960 innerhalb von nur zwei Jahrzehnten erst drei Millionen Menschen auf, dann sechs, dann achtzehn Millionen.“[10] Die ersten Reaktionen auf diesen explosionsartigen Wachstum ausländischer Städte waren Ablehnung und Angst, die sich bis heute in der Verbreitung von apokalyptischen Szenarien der „Dritten Welt“ – über Krankheit, Invasion oder Naturkatastrophen – in Literatur und Filmen, wie „Bladerunner“ oder „District 9“ äußern.

Die westliche Akzeptanz dieser neuen Großstädte ging nur mit der Errichtung einer neuen Funktionalität einher: die Stadtessenz ausländischer Orte wurde ins Extreme geleitet und als solches fixiert. In den Städten außerhalb Europas sind somit die Grenzen zwischen „Armut und Reichtum, Despotie und Ohnmacht, Muße und Arbeitszwang, Willkür und Fremdbestimmung“[11] sehr viel größer. Während Europas Großstädte sich durch eine „nationale Essenz“[12] repräsentieren, wie z.B. Frankreich durch Paris und seinen Eiffelturm, liegt die Repräsentation von lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Städten in Kuriositäten[13]. In Leistens und Kiefers Werken wird dieser westliche Leitgedanke thematisiert und verdeutlicht. Mehr oder weniger wird bewusst die eingeschränkte und zumeist realitätsferne, klischeehafte Sichtweise des Westens auf den Orientalismus aufgezeigt, um diese kritisch zu hinterfragen. Nicht nur europäische Städte haben eine ästhetische Identität, auch die Städte außerhalb Europas zeichnen sich durch ästhetische Charakteristika aus. Diese „Kuriositäten“, wie schlafende Menschen unter Pappdächern, werden in beiden Werken aufgegriffen und mit neuem Inhalt versehen. Dabei wird jedoch deutlich, dass Marokkos Städte eine Gradwanderung zwischen Tausendundeiner-Nacht Modellen, islamischen Traditionen und verheerender Armut vollziehen.

In dem Werk „Marrakesch, Djemaa el Fna“ kommt dies besonders zum Ausdruck, denn Leisten konfrontiert die bereits erwähnten Vorurteile mit der Realität. Das lyrische Ich flaniert durch die Straßen Marrakeschs und seinem berühmten Platz, wodurch es mit all seinen Sinnen die Realität einfängt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Definition des Wortes „Vorurteil“. Im allgemeinen Konsens heißt es: „Vorurteile sind falsche, einseitige, negative Urteile, an denen, oft gegen bessere Einsicht, aus Bequemlichkeit fest-gehalten[sic] wird.“[14] Das Orient-Bild im Westen ist weniger negativ konnotiert, sondern mehr abstrakt und realitätsfern.

Dies wird in beiden Werken thematisiert und radikal überworfen. Während Kiefer sich ironisch mit der Materie der westlichen Vorurteile auseinandersetzt und diese damit entschärft, lädt Leisten dazu ein, diese mit einem realen Bild des Orients zu restaurieren. Leisten geht bewusst in den Kontakt mit der Fremde und schafft Berührungspunkte. Statt einer Stigmatisierung zwischen Eigenem (Okzident) und Fremden (Orient), fördert er eine Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit, welche wiederum zu gegenseitigem Kennenlernen und Sympathien führt.[15]

Demnach lautet die Hypothese, dass die Werke von Leisten und Kiefer bewusst die eingeschränkte und zumeist realitätsferne, klischeehafte Sichtweise des Westens auf den Orientalismus aufzeigen, um diese kritisch zu hinterfragen.

In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, welchen Einfluss die westlichen Klischees auf den Orientalismus haben. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer Erklärung des Heimat- und Fremdheitsbegriffs, sowie einer Erläuterung zur aktuellen Tourismus- und Reiseforschung, was im nachfolgenden Kapitel vorgenommen wird.

2.2 Der Einfluss des Okzidents auf den Orient

Wo endet das Eigene und wo beginnt das Fremde? Diese Frage beschäftigt seit längerer Zeit die Fremdheits- und Kulturforschungen und wird zum zentralen Sujet in der Reiseliteratur. Es gibt keine eindeutige Antwort mehr auf diese diskutable Frage, denn in der modernen Welt ist durch die Globalisierung eine Grenzaufhebung zu verzeichnen. Mit einem „Klick“ kann man die Welt im „World Wide Web“ besuchen und sich miteinander austauschen. Die steigende Mobilität des Menschen verbindet Kontinente und macht größere Strecken zu Katzensprüngen. Im 21. Jahrhundert verschwimmen die Grenzen zwischen „Eigenem und Fremden, Zugehörigkeit- und Beziehungslosigkeit, sowie Authentischem und Inszeniertem.“[16] Durch diesen Zerfall und der kulturellen Angleichung bedarf es einer neuen Definition von „fremd“ und „eigen“. Demnach stellt sich die Frage, was denn Heimat und was Fremde ist.

Zunächst ist das Wort „Heimat“ so alt, wie die deutsche Sprache selbst, denn seine Wurzeln lassen sich bis ins Alt- und Mittelhochdeutsche zurückführen.[17] Es hat sehr viele Wandlungen innerhalb der Geschichte erlebt, wie sich aus dem Grimm’sche Wörterbuch entnehmen lässt. Nach Bienek sind in seinem Begriffssinn Wörter wie „Seele, Sentimentalität, Nostalgie, Treue“[18] enthalten. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der Terminus „Heimat“ ein emotionsloser Begriff, der das Land meint, in dem man geboren wurde oder einen bleibenden Aufenthalt hatte. Doch im Verlauf der Industrialisierung wurde die Heimat zum Innbegriff von Sicherheit und zu einem Rückzugsort vor der Bedrohung der wachsenden, technologisierten Welt.[19] Heute wird dieser Terminus literarisch regelmäßig auf den Prüfstand gestellt – wie in Jean Amérys „Wie viel Heimat braucht der Mensch?“ – und gewinnt an neuer Bedeutung: „Im Heimatbegriff steckt die Forderung nach Identifizierung. Der, dem die Übereinstimmung verlorenging fühlt sich als >Fremdling<[sic].“[20] Der Begriff Heimat stellt sich allerdings auch als ambivalent heraus, denn mit der Sicherheit und Verwurzelung geht eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit des Individuums einher. Es vertraut lieber auf das „heimatliche“, statt sich mit der Fremde auseinander zu setzen. Doch Heimat ergibt sich aus der Bewusstseinserweiterung und der Offenheit gegenüber der Fremde, „[…] denn eine Heimat, wo die Flüchtlinge, Asylanten und Gastarbeiter also, wie Dienstboten um 1800, wenn nicht noch schlechter, behandelt werden, hört auf, Heimat auch für die Autochthonen zu sein.“[21] Nur durch die Berührung mit dem Fremden wird die Heimat und die Identifizierung mit dieser erst bewusst. In „Café Moka“ von Reinhard Kiefer schafft die Nähe zur Fremde einen Zugang zur eigenen und der angetroffenen Kultur in Agadir. Als Fremdling in einem fremden Land wird beim Schreiben eine andere Perspektive eröffnet, als bei der Beobachtung und Dokumentation der Fremde aus der Ferne. Kiefer gelingt es die Besonderheiten beider Kulturen – Orient, wie auch Okzident – freizulegen und Bezugspunkte zu finden. Orient und Okzident berühren sich und kommen somit in das kritische Blickfeld des Reisenden in Agadir. Was genau ist jedoch unter dem Terminus „Fremde“ gemeint?

Das Fremde ist geografisch nicht festgelegt, sondern wird als Wahrnehmungs- und Deutungsnorm verstanden. Der Mensch ist dort in der Fremde, wo er neue Erkenntnisse entwickeln muss: „Die Bezeichnung Fremde kann die Angehörigen entfernter Kulturen meinen oder ihre Lebensform, sie kann aber auch eine Metapher für das Unzugängliche oder für die Ferne sein.“[22]

Somit ist der Fremde nicht mehr jemand, der aus der Ferne kommt, sondern beispielsweise der Nachbar, der eine andere Kultur auslebt. Diese Fremdheitsdefinition ist der ausschlaggebende Punkt in kulturellen Konflikten generell und besonders zwischen dem Okzident und Orient. In „Café Moka“ konzentriert sich Kiefer auf diese beiden Kulturen, die in der marokkanischen Stadt Agadir stark konkurrieren. Er spielt mit den im Westen verlorengegangenen Vorstellungen von Ländern, die ihre Religion noch stark im Alltag ausleben. Der Orient wird somit als „fremd“ dargestellt, an dessen Sonderbarkeit sich die westlichen Bewohner oder Touristen in Marokko nur schwer gewöhnen oder sich kaum von ihren initiierten Werten frei machen können. Dabei geht er auf die Klischees der Touristen ein und verdeutlicht, welchen Einfluss diese auf den Orient haben. Kiefer beschreibt, wie die orientalischen Länder aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Tourismus versuchen, dem Westen und seinen Reisenden immer weiter gerecht zu werden und verlieren dabei ihre Wurzeln. Hans Magnus Enzensberger stellt in seinem Werk „Eine Theorie des Tourismus“ fest, dass sich zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Art Massentourismus manifestierte. Die Folgen waren die Verringerung von räumlichen Distanzen, die Angleichung kultureller Unterschiede, sowie Massenbewegung in Reiseorte und eine inszenierte Fremde.[23] Durch diesen Wandel ging die Faszination für das Fremde verloren, denn die exotischen Vorstellungen wurden erfüllt und weitere Forschungsneugierde im Keim erstickt.

Ein Beispiel dafür ist die Hafenstadt Agadir. Diese lebte neben dem Bergbau von der Fischerei und Fischverarbeitung, sowie von Metallwaren. Im Jahr 1960 kam es zu einem schweren Erdbeben, dem rund 10.000 bis 15.000 Menschen zum Opfer fielen und die Altstadt zerstörte.[24] An dem Wiederaufbau waren viele Nationen beteiligt, sodass heute nur noch die Kasbah als historisches Monument übrig ist. Doch die Altstadt wurde nicht originalgetreu nachgebaut, sondern durch viele Vorstellungen aus dem Okzident bestimmt:

Nach dem Wiederaufbau, in den 60’er[sic] Jahren, wurde Agadir zum Referenzpunkt des Landes, ihre Sonne, ihre Strände und ihre Möglichkeiten, machten aus Agadir, was es heute ist, eines der bevorzugten Touristenziele in Marokko. Eine Stadt wo die Fischerei und Landwirtschaft einen wichtigen ökonomischen Stellenwert haben und wo die sehr westliche Modernität der Stadt, Dynamik und Vitalität versprüht.[25]

Vor allem der Fremdenverkehr wurde in den vergangenen Jahren durch gezielten Bau von Ferienanlagen in und außerhalb der Stadt stark gefördert. Durch den Einfluss des Okzidents wurde aus dem Provinznest eine touristische Metropole. Kiefer nimmt den Wandel in Agadir zum Leitbild seines Werkes und versucht hinter der Inszenierung den realen Orientalismus zu finden. Während Leisten in „Marrakesch, Djemaa el Fna“ bei dem unreflektierten Moment bleibt, gelingt es Kiefer die Folgen des Okzidents auf den Orient darzustellen.

Demnach lautet die Hypothese, dass die Realität im Orient, durch das Bild im Westen stark beeinflusst und verändert wird.

Im Rahmen dieser Hypothesenaufstellung wird dieses Thema erst später in Kapitel 5 analytisch genauer erläutert und belegt. Des Weiteren bedarf es einer Erläuterung der Intention von Leistens und Kiefers Werken: die Widerlegung des westlichen Orient-Bildnisses und die Anfertigung eines neuen.

[...]


[1] Vgl. Lenger, Friedrich: Metropolen der Moderne, 2013: S. 11.

[2] Vgl. Schaefer, Stephanie: Unterwegs in der eigenen Fremde, 2008: S. 35.

[3] Vgl. Schaefer, Stephanie: Unterwegs in der eigenen Fremde. S. 37.

[4] Wiedemann, Conrad: Rom – Paris – London: Erfahrungen u. Selbsterfahrung dt. Schriftsteller u. Künstler in d. fremden Metropolen, 1988: S. 9.

[5] Ebd. S. 15.

[6] Kaufmann, Sabine: Mythos Orient. http://www.planet-wissen.de/laender_leute/naher_und_mittlerer_osten/ mythos_orient/index.jsp (Letzter Aufruf: 04.August.2014)

[7] Vgl. Daus, Ronald: Großstadtliteratur. S. 10.

[8] Daus, Ronald: Großstadtliteratur. S. 10.

[9] Ebd.

[10] Ebd. S. 11.

[11] Ebd.

[12] Daus, Ronald: Großstadtliteratur. S. 11.

[13] Vgl. Ebd. S. 12.

[14] O.V.: Soziale Identität: Kategorisierung, Stereotypisierung, Vorurteile. http://www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/phil_Fak_II/ Psychologie/Thomas/lehre/Intkultpsychologie/Folien0506/Kapitel_08.PDF (Letzter Aufruf: 27.08.2014)

[15] O.V.: Soziale Identität: Kategorisierung, Stereotypisierung, Vorurteile. http://www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/phil_Fak_II/ Psychologie/Thomas/lehre/Intkultpsychologie/Folien0506/Kapitel_08.PDF (Letzter Aufruf: 27.08.2014)

[16] Schaefer, Stephanie: Unterwegs in der eigenen Fremde. S. 41.

[17] Hinck, Walter: Heimatliteratur und Weltbürgertum. Die Abkehr vom Ressentiment im neuen Heimatroman. In: Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas, 1985: S. 42.

[18] Bienek, Horst: Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas, 1985: S. 7.

[19] Ebd. S. 15.

[20] Hinck, Walter: Heimatliteratur und Weltbürgertum. Die Abkehr vom Ressentiment im neuen Heimatroman. S. 42.

[21] Bienek, Horst: Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. S. 25.

[22] Kalatehbali, Narjes Khodaee: Das Fremde in der Literatur. Postkoloniale Fremdheitskonstruktionen in Werken von Elias Canetti, Günter Grass und Josef Winkler, 2005: S. 1.

[23] Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: Eine Theorie des Tourismus, 1962: S. 152 und 167 ff.

[24] Vgl. Exler, Patrick: Geschichte von Agadir. http://www.agadir-net.com/agadir/geschichte.htm. (Letzter Aufruf: 08.08.2014)

[25] O.V.: Geschichte, Agadir, Marokko. http://agadir.costasur.com/de/geschichte.html. (Letzter Aufruf: 08.08.2014)

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Großstadt- und Fremdheitserfahrungen in Christoph Leistens "Marrakesch, Djemaa el Fna" und Reinhard Kiefers "Café Moka"
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Komparatistik)
Note
2,5
Jahr
2014
Seiten
42
Katalognummer
V334593
ISBN (eBook)
9783668243163
ISBN (Buch)
9783668243170
Dateigröße
782 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Großstadt, Fremdheit, Fremde, Heimat, Orient, Okzident, Marrakesch, Agadir, Interkulturell, Christoph Leisten, Reinhard Kiefer
Arbeit zitieren
Anonym, 2014, Großstadt- und Fremdheitserfahrungen in Christoph Leistens "Marrakesch, Djemaa el Fna" und Reinhard Kiefers "Café Moka", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334593

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