Das Ärzteurteil (1946) und das Kontrollratsgesetz Nr. 10 als Rechtsgrundlage der folgenden Verfahren


Seminararbeit, 1997

37 Seiten, Note: 13 Punkte


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einführung

Teil A: Der Ärzteprozeß und KRG 10 als Rechtsgrundlage
I. Der Ärzteprozeß
1. Einordnung und Inhalt
2. Die Verfahrensbeteiligten
a) Der Gerichtshof
b) Die Anklagevertretung
c) Die Angeklagten
3. Der Anklagevorwurf
a) Die Anklageschrift
b) Die Vorwürfe im einzelnen
4. Das Verfahren
a) Die Verordnung Nr.
b) Der Ablauf des Ärzteverfahrens
II. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10
1. Die Entstehung des KRG 10
2. Die Rechtsnatur des KRG 10 und der Tribunale
a) Teilweise vertretene Auffassung: Völkerrecht
b) Die Gegenauffassung: Besatzungsrecht
c) Der Charakter der Tribunale
3. KRG 10 und das Rückwirkungsverbot
a) Der Vorwurf des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot
b) Die Gegenauffassung: Kein Verstoß
c) Problem des KRG 10
4. Die einzelnen Bestimmungen
a) Verbrechen gegen den Frieden
b) Kriegsverbrechen
c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit
d) Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation
e) Teilnahmebestimmungen
f) Ausschluß der Berufung auf höheren Befehl
g) Sonstige Bestimmungen

Teil B: Das Urteil im Ärzteprozeß
I. Der formale Aufbau des Urteils
II. Die Urteilssprüche 10
III. Die Auffassung des Gerichts zu einzelnen Rechtsproblemen
1. Allgemeine Aussagen
a) Selbstverständnis des Gerichts
b) Die Haltung gegenüber den Experimenten
2. Beweisrechtliche Feststellungen
a) Der In-dubio-pro-reo-Satz
b) Die Verwendbarkeit von Indizienbeweisen
3. Die zehn Punkte von Nürnberg (Nürnberger Codex)
a) Der Zweck des Codex
b) Die inhaltlichen Aussagen
4. Verantwortlichkeit des Vorgesetzten für das Handeln von Untergebenen
5. Abgrenzung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
6. Der höhere Befehl („Superior Order“)
7. Subjektive Voraussetzungen der Strafbarkeit
8. Innerer Widerstand (geheimer Widerspruch)
9. Teilnahme
10. Experimente an zum Tode Verurteilten und Experimente als Strafersatz
11. Der Euthanasiebefehl

Teil C: Reaktionen der Lehre und kritische Stellungnahme
I. Kritik am KRG
II. Allgemeine Kritik am Ärzteurteil
a) Das Ausweichen vor grundsätzlichen Problemen
b) Die Nichtbeachtung einiger Verteidigungsargumente
c) Das Bemühen um einen „fair trial“
III. Kritik an einzelnen Punkten des Urteils
1. „Command Responsibility“ und Erfolgsabwendungspflicht
a) Der Fall Karl Brandt
b) Allgemeine Vorgehensweise des Tribunals
2. Bewertung des Nürnberger Codex
a) Der Codex als Mittel zur Urteilsfindung
b) Kritik an einzelnen Bestimmungen
c) Die Eignung des Codex als zukunftsweisende Grundlage
3. Probleme des subjektiven Tatbestandes
4. Die Kausalität des Tatbeitrags
5. Die Einwilligung des Verletzten
6. Innerer Widerstand
7. Strafbarkeit des Versuchs
IV. Das Grundproblem der Kritik aus kontinentaleuropäischer Sicht

Schlußbemerkung

Das Ärzteurteil und das Kontrollratsgesetz Nr. 10 als Rechtsgrundlage der folgenden Verfahren

Einführung

Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit dem Urteil des Amerikanischen Militärtribunals Nr. I gegen nationalsozialistische Ärzte bzw. hohe Verwaltungsbeamte des Gesundheitsdienstes (sog. Ärzteurteil) und dem ihm zugrundeliegenden Kontrollratsgesetz Nr. 10.

Als Einstieg in die Problematik wird zunächst ein Überblick über das Verfahren gegen die Ärzte und das Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10)[1] gegeben (Teil A). Danach soll das Ärzteurteil im Hinblick auf Kernaussagen des Gerichts zu bestimmten Problemkreisen dargestellt werden (Teil B). Im dritten Teil der Arbeit schließt sich eine Auseinandersetzung mit den Standpunkten des Urteils aus Sicht der Rechtslehre und eine eigene kritische Analyse der angesprochenen Probleme an (Teil C).

Allgemein werden in der Arbeit nur solche Probleme erörtert, zu denen sich auch das Urteil geäußert hat. Rechtsfragen, die im Ärzteurteil nur am Rande eine Rolle spielen, sollen dabei bewußt nur angedeutet werden, da sie möglicherweise den Schwerpunkt eines anderen Nachfolgeurteils bilden.

Teil A: Der Ärzteprozeß und KRG 10 als Rechtsgrundlage

I. Der Ärzteprozeß

1. Einordnung und Inhalt

Am 9. Dezember 1946 wurde im Nürnberger Justizpalast vor dem Amerikanischen Militärtribunal Nr. I das Verfahren der „Vereinigten Staaten von Nordamerika gegen Karl Brandt und andere“[2], der sog. Ärzteprozeß (Fall I), eröffnet. Dieses war der erste der 12 Nürnberger Nachfolgeprozesse des Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT).[3] Angeklagt waren 23 Ärzte bzw. hohe Verwaltungsbeamte des Gesundheitsdienstes wegen Verschwörung, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. Ihnen wurde unter anderem schwer verletzender Umgang mit Personen vorgeworfen, die in Konzentrationslagern verwahrt wurden.

2. Die Verfahrensbeteiligten

a) Der Militärgerichtshof Nr. I wurde am 25. Oktober 1946 auf Grund der allgemeinen Anordnung Nr. 68, die vom amerikanischen Militärgouverneur für Deutschland erlassen wurde, ins Leben gerufen. Er war der erste von ver­schiedenen Militärgerichtshöfen, die zur Aburteilung von Verbrechen gemäß KRG 10 in der amerikanischen Besatzungszone auf Grund der Verordnung Nr. 7 der Militärregierung geschaffen wurden.[4] Der Gerichtshof setzte sich aus drei amerikanischen Staatsrichtern zusammen, da Bundesrichter für diese Aufgabe nicht abgestellt werden durften.[5] Die Richter wurden vom amerikanischen Kriegsministerium ausgewählt und durch den Militärgouverneur ernannt.[6] Die Frage nach der Rechtsnatur des Militärgerichtshofes Nr. 1 sowie der anderen Nürnberger Militärtribunale soll in Zusammenhang mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 erörtert werden (siehe II.).

b) James M. McHaney war der Hauptanklagevertreter für Fall I, den Ärzteprozeß. Dennoch wurde die als besonders wichtig erachtete Eröffnungsansprache der Anklage noch vom Hauptanklagevertreter für Kriegsverbrechen Brigadegeneral Telford Taylor gehalten.[7]

c) Wie bereits erwähnt betrug die Zahl der Angeklagten 23, darunter eine Frau. Bis auf drei Angeklagte, die lediglich organisatorische Stellungen im Gesundheitsdienst des „Dritten Reichs“ innehatten, waren alle anderen medizinisch ausgebildet und nahmen in der Hierarchie des nationalsozialistischen Gesundheitswesens fast durchweg hohe Positionen ein. Die Auswahl der Angeklagten erfolgte somit nicht primär deliktsbezogen sondern durch Nachvollzug der Verantwortungskette zu den ranghöheren und ranghöchsten Trägern des Gesundheitswesens, also primär hierarchiebezogen.[8]

Der Hauptangeklagte Karl Brandt war eine Zeitlang einer von Hitlers privaten Ärzten gewesen und schließlich mit der höchsten medizinischen Stellung im Reich als Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Hitler direkt unterstellt. Weitere Hauptangeklagte waren der Chef des Heeressanitätswesens Siegfried Handloser, der Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe Oskar Schröder, der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes Karl Gebhardt und zwei andere angesehene Mediziner, Paul Rostock und Gerhard Rose. Sechs weitere Angeklagte waren Ärzte oder medizinische Berater der Luftwaffe, und sechs andere waren in medizinischen Einrichtungen der SS tätig. Ebenfalls angeklagt waren neben Himmlers persönlichem Adjutanten, dem promovierten Juristen Rudolf Brandt, zwei Nichtmediziner in hohen Verwaltungspositionen, einer davon war Wolfgang Sievers, Reichsgeschäftsführer der Gesellschaft „Ahnenerbe“, die von Himmler zum Zwecke der ideologischen und kulturellen Forschung errichtet worden war. Schließlich mußten sich noch zwei private Ärzte vor dem Tribunal verantworten.[9]

3. Der Anklagevorwurf

a) Die Anklage bestand aus vier Anklagepunkten, wobei Punkt II, die „Kriegsverbrechen“, der Hauptpunkt war. Punkt III betraf die gleichen Handlungen wie unter Punkt II, jedoch unter dem Gesichtspunkt der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gegen deutsche Staatsangehörige. Punkt I beinhaltete die Verschwörung („Conspiracy“) zu den in Punkt II und III beschriebenen Verbrechen. In Punkt IV wurden einige der Angeklagten der Mitgliedschaft in der SS beschuldigt, einer Organisation, die zuvor durch das IMT für verbrecherisch erklärt worden war.[10]

b) Der schwerwiegende Punkt II der Anklage betraf die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Ausführung von grausamen und häufig mörderischen medizinischen Experimenten, die ohne Zustimmung der betreffenden Opfer an Konzentrationslagerinsassen, Kriegsgefangenen und anderen Personen vorgenommen worden waren. Die Tatsache, daß diese Experimente und Verbrechen überhaupt in dieser Form und in diesem Umfang stattgefunden haben, ist anhand von akribisch geführten Protokollen, Berichten, Briefen und Aussagen eindeutig erwiesen und wurde selbst von den Angeklagten nicht in Zweifel gezogen. So stellte auch das Tribunal Nr. I fest, daß alle diese Versuche offensichtlich unter vollständiger Mißachtung internationaler Übereinkünfte und allgemeiner Strafrechtsprinzipien der zivilisierten Nationen ausgeführt wurden. „Ob irgendeiner der hier Angeklagten dieser Greueltaten schuldig ist, ist natürlich eine andere Frage.“[11]

Die meisten der durchgeführten Experimente fanden an Konzentrationslager­insassen statt, um Erkenntnisse für die deutsche Kriegsmaschinerie in Gestalt von Heer, Luftwaffe oder Marine zu gewinnen. Es handelte sich um Unterdruck- und Unterkühlungsversuche, Experimente mit Impfstoffen gegen epidemische Erkrankungen, Transplantationsexperimente, Massensterilisationsversuche und um Versuche mit Desinfektionsmitteln und Giftgasen. Die einzelnen Experimente können hier nicht im Detail beschrieben werden.[12] Sie wurden jedoch mit systematischer Brutalität ausgeführt, waren für die Versuchspersonen durchweg mit ungeheuren Qualen verbunden und hatten sehr oft einen tödlichen Ausgang. Außerdem wurde den Angeklagten die Beteiligung am nationalsozialistischen „Euthanasieprogramm zur Ausmerzung unerwünschten Volkstums“ vorgeworfen, das die systematische und geheime Ermordung von Alten, Geisteskranken, Kindern mit Mißbildungen und anderen Personen durch Vergasung, tödliche Einspritzungen und auf anderem Wege in Altersheimen, Hospitälern und Anstalten vorsah.[13] Auch die Verantwortlichkeit der Angeklagten für den Aufbau einer Jüdischen Skelettsammlung für die Reichsuniversität Straßburg, für die mindestens 86 Juden umgebracht wurden, hatte das Gericht zu klären.

Nach Schätzungen sind durch die Humanversuche in der NS-Zeit insgesamt etwa 2000 Menschen und durch die Euthanasieaktion mindestens 60.000 bis 70.000 Menschen ermordet worden.[14]

4. Das Verfahren

a) Das Verfahren des Ärzteprozesses richtete sich ebenso wie das aller Nachfolgeprozesse nach der „Verordnung Nr. 7 der amerikanischen Militärregierung für Deutschland über Verfassung und Zuständigkeit gewisser Militärgerichte“[15] vom 18. 10. 1946, da das dem Prozeß materiell zugrundeliegende Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10) selbst keine Verfahrensregeln enthielt. Inhaltlich basierte die Verordnung Nr. 7 mit Ausnahme einiger Vorschriften, die im IMT-Prozeß gemachte Erfahrungen nahegelegt hatten, auf dem Londoner Statut vom 8. August 1945, war also das Ergebnis der dortigen Diskussionen gewesen. Sie war ein Gemisch aus Elementen anglo-ameri­kanischer und kontinentaler Verfahrensregeln, wobei allerdings das anglo-ame­ri­kanische Rechtsverständnis deutlich überwog.[16]

b) Im November 1946 wurde den Angeklagten die Anklageschrift zugestellt. Daraufhin bekannten sich alle Angeklagten bei einer Anhörung durch den Gerichtshof als „nicht schuldig“. Das Hauptverfahren wurde auf Deutsch und auf Englisch geführt, wobei jeder Angeklagte über den gesamten Prozeß hinweg durch einen von ihm ausgewählten Anwalt vertreten wurde. Allgemein wurde, so das Urteil, der Verteidigung weiter Spielraum in der Vorlage von Beweismaterial gewährt und Anträgen der Verteidiger auf persönliches Erscheinen von Personen, die eidesstattliche Versicherungen für die Anklage abgegeben hatten, stattgegeben, so daß diese verhört werden konnten.[17] Der Fall wurde am 19. Juli 1947 abgeschlossen, das Urteil folgte am 19. August.[18] Die Verteidigung reichte nach der Urteilsverkündung Anträge auf „Nachprüfung des Urteils“ und Gnadengesuche an den amerikanischen Militärgouverneur in Deutschland und den Supreme Court der Vereinigten Staaten ein.[19] Die Urteile wurden durch den Militärgouverneur bestätigt, und nachdem auch der Supreme Court die Nachprüfung mit fünf zu drei Stimmen abgelehnt hatte, wurden die Hinrichtungen im Gefängnis in Landsberg am Lech vollzogen.[20] Bemerkenswert ist, daß alle verhängten Zeitstrafen später herabgesetzt wurden, so daß keiner der Betroffenen seine volle Strafe abbüßte.[21]

II. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10

1. Die Entstehung des KRG 10

Vor allem auf amerikanisches Betreiben fand nach dem Kriegsende in London eine Konferenz von Rechtsexperten der vier Besatzungsmächte statt, die eine Einigung darüber erzielen sollten, nach welchen Modalitäten und auf welcher Rechtsgrundlage die Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher geschehen solle.[22] Das dabei getroffene Londoner Abkommen vom 8. August 1945 regelte Statut und Verfahren des IMT (Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher) und legte die drei Verbrechenskategorien fest, über die das Gericht verhandeln sollte: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Um auch nach dem IMT-Prozeß ein einheitliches Agieren der vier Mächte beim Vorgehen gegen die deutschen Kriegsverbrecher zu gewährleisten, und um insbesondere auch die Strafbarkeit von Mitgliedern einer durch das IMT als verbrecherisch erklärten Organisation und die von Deutschen an Deutschen begangenen NS-Verbrechen mit einzubeziehen, wurde am 20. 12. 1945 das Kontrollratsgesetz Nr. 10 verabschiedetet.[23] Es stellte somit nicht nur eine Abgrenzung und Koordination der verschiedenen Gerichtsbarkeiten dar[24], sondern war eine teilweise Weiterentwicklung des IMT-Statuts in materieller Sicht, die auch von deutschen Gerichten angewendet werden sollte.

2. Die Rechtsnatur des KRG 10 und der Tribunale

Das KRG 10 war von den Alliierten so intendiert, daß es auch deutschen Gerichten als Grundlage zur Aburteilung von Kriegsverbrechen dienen sollte. Aus diesem Grund bestanden über die Rechtsnatur des KRG 10 und der auf seiner Grundlage urteilenden Militärtribunale divergierende Ansichten:

a) Teilweise wurde die Auffassung vertreten, das KRG 10 stelle in jedem Fall kein Landesrecht, sondern dem deutschen Recht übergeordnetes Völkerrecht dar, da das Condominium der Siegermächte die übernommene Staatsgewalt nach völkerrechtlichen Grundsätzen durchführte und es an der notwendigen Transformation des Völkerrechts in staatliches Recht fehle.[25] Diese Ansicht vermag jedoch ebensowenig zu überzeugen wie die von der Staatsanwaltschaft im Flick-Prozeß (Fall V) vertretene Meinung, das KRG 10 habe ein doppeltes Gesicht und sei sowohl Völker- als auch Landesrecht.[26]

b) Beide erstgenannten Auffassungen verkennen, daß auch völkerrechtliche Verträge nur inter partes wirken, also nur die unterzeichneten Vertragsparteien zu berechtigen und zu verpflichten vermögen. Geht man also davon aus, daß das IMT-Statut, aus dem heraus sich das KRG 10 entwickelte, Völkerrecht zwischen den vier Mächten des Londoner Abkommens und den 19 beigetretenen Regierungen darstellt, so sind die betreffenden Tatbestände durch ihre Aufnahme in das Statut im Verhältnis zu Deutschland nicht Völkerrecht geworden[27]. Nach dieser vorzugswürdigen Ansicht ist das KRG 10 somit weder Völker- noch Landesrecht. Die in ihm enthaltenen Tatbestände verkörpern vielmehr allgemeines Besatzungsstrafrecht, welches die Folge einer Rezeption des im IMT-Statut enthaltenen besonderen materiellrechtlichen Be­satzungsstrafrechts ist.[28]

c) Entsprechendes gilt auch für die auf der Grundlage des KRG 10 urteilenden Militärgerichte. Auch hier überzeugt die von amerikanischer Seite vertretene Ansicht, die Tribunale seien internationale Gerichte[29], nicht. Stattdessen besteht in der deutschen Lehre weitgehende Einigkeit darüber, daß die Tribunale als amerikanische Besatzungsgerichte (sog. Military Commissions) anzusehen sind.[30] Dem ist zuzustimmen, denn sowohl die Tatsache, daß sich England, Frankreich und die UdSSR für die Militärtribunale nicht verantwortlich fühlten, als auch die amerikanische Färbung der gesamten Verfahren, stützen diese These.[31]

3. KRG 10 und das Rückwirkungsverbot

a) Es ist bekannt, daß dem IMT-Statut vorgeworfen wurde, es sei eine gegen das Rückwirkungsverbot verstoßende „Ex-post-facto-Gesetzgebung“, denn es stelle zum Tatzeitpunkt straffreie Taten nachträglich unter Strafe.[32] Der Nullum-crimen-Satz sei ein allgemein anerkannter und absolut geltender Grundsatz im innerstaatlichen und internationalen Recht, so daß das IMT-Statut und das KRG 10 nicht hätten angewendet werden dürfen. Vielmehr hätte deutsches Strafrecht zur Anwendung kommen müssen[33]. Eine genaue Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumenten kann hier nicht erfolgen.

b) Vorzugswürdig erscheint jedoch der Standpunkt der Tribunale und eines Großteils der Literatur, daß Statut und KRG 10 nicht gegen den Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ verstießen. Dieser Satz ist danach ein Grundsatz der Gerechtigkeit, der besonders im „Common Law“ der anglo-amerikanischen Rechtsordnungen nicht absolut gilt. Er ist auf völkerrechtlicher Ebene nicht anwendbar, da das Völkerrecht dynamischer Natur ist und sich der sich wandelnden Welt anpassen muß. Zudem waren die fraglichen Bestimmungen auch bereits bei Tatbegehung in den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts und den Rechtsordnungen aller zivilisierten Nationen kraft Gebrauch und Gewohnheit enthalten und wurden durch das IMT-Statut und KRG 10 lediglich schriftlich festgehalten.[34]

c) Der Streit um das Rückwirkungsverbot in Verbindung mit dem IMT-Statut und dem KRG 10 ist, was die Anwendung von Besatzungsrecht durch die Besatzungsgerichte angeht, weitgehend ausdiskutiert. Allerdings könnte die Anwendung des KRG 10 durch deutsche Gerichte noch weitreichendere Probleme aufwerfen[35], die hier jedoch nicht im Vordergrund stehen.

4. Die einzelnen Bestimmungen

In Art II 1. a)-d) enthält das KRG 10 die Verbrechenstatbestände:[36]

a) Das Verbrechen gegen den Frieden faßt zwei Arten von strafbaren Handlungen zusammen: einmal das Individualverbrechen des Kriegplanens und des Kriegführens, zum andern das Kollektivverbrechen der Verschwörung gegen den Frieden. Hier ist vor allem der Begriff der Verschwörung problematisch, da in Ausführung eines verbrecherischen Zusammenschlusses geschehene strafbare Handlungen jedem Verschwörer unabhängig von seinem eigenen Tatbeitrag zugerechnet werden sollen.[37] Im Ärzteurteil spielten die Verbrechen gegen den Frieden keine Rolle, wohl aber im Krupp- und Wilhelmstraßenprozeß (Fälle X und XI).

b) Kriegsverbrechen ist jede mit dem Kriege, seiner Führung und seinen Zielen in Verbindung stehende, gegen Personen oder Sachen gerichtete Handlung, die durch völkerrechtliches Gewohnheitsrecht oder durch geltende völkerrechtliche Vereinbarung verboten ist.[38] Kriegsverbrechen können grundsätzlich nur während des Krieges gegenüber dem Kriegsgegner bzw. seinen Angehörigen begangen werden, wobei hier das Problem auftritt, ob und inwieweit auch gegenüber Neutralen Kriegsverbrechen begangen werden können.[39] Die Kriegsverbrechen waren im Ärzteprozeß unter Punkt II angeklagt und hauptsächlicher Gegenstand des Verfahrens.

c) Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde im IMT-Statut und im KRG 10 zum ersten Mal als ein neuartiger selbständiger Tatbestand kodifiziert.[40] Sein spezifischer Unrechtsgehalt ist in der kollektiven Verfolgung ganzer menschlicher Gruppen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen zu sehen.[41] Kriegsverbrechen und Humanitätsverbrechen überschneiden sich in einem breiten Sektor. Die meisten Kriegsverbrechen erfüllen zugleich den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, jedoch nicht umgekehrt. Das Humanitätsverbrechen ist also weiter gefaßt, denn es schließt auch Handlungen mit ein, die ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der Kriegführung begangen wurden.[42] Ein wichtiges Problem stellt sich hier auch im Ärzteurteil mit der Frage, ob auch Taten von Deutschen gegen Deutsche Humanitätsverbrechen i. S. d. Art. II 1. c) KRG 10 sein können.[43]

[...]


[1] S. Anhang I.

[2] US vs. Brandt, TWC Band I und II: The medical case.

[3] Er endete allerdings erst als zweiter, nach dem Prozeß gegen Generalfeldmarschall Milch (Fall II), TWC Band II S. 301 ff.

[4] Vgl. TWC, Band II S. 171.

[5] Taylor S. 54.

[6] Jescheck S. 146.

[7] Annas/Grodin, S. 63.

[8] Benzenhöfer, Dt. Ärztebl. 1996; 93: A-2929-2931 (Heft 45).

[9] Vgl. Taylor S. 54, 55.

[10] Vgl. Taylor S. 55.

[11] TWC Band II S. 183.

[12] Ausführliche Dokumentation bei Mitscherlich/Mielke MoM.

[13] Lifton S. 45 ff.

[14] Peter S. 248.

[15] Amtsblatt der Militärregierung Deutschland, Amerikanische Zone, Ausgabe B vom 1. 12. 1946, S. 10 ff. bzw. Ausgabe C vom 1. 4. 1947, S. 11.

[16] Jung S. 23; v. Knieriem S. 206.

[17] TWC Band II S. 172.

[18] So Taylor S. 57 und Bader DRZ 1947 S. 401; Mitscherlich/Mielke MoM bezeichnen den 20. 8. 1947 als Verkündungstermin (S. 281).

[19] Vgl. Mitscherlich/Mielke MoM, S. 292 bzw. Taylor S. 60.

[20] Dies ist das gleiche Gefängnis, in dem Hitler nach seinem Putschversuch von 1923 einen Teil seiner Strafe abbüßte und „Mein Kampf“ schrieb (Annas/Grodin S. 106).

[21] USHMM, Sentences, S. 3.

[22] Broszat, VfZ 29 (1981) S. 484.

[23] Broszat, VfZ 29 (1981) S. 485; Kraus KRG 10 S. 128, 129.

[24] So Kaufmann S. 13 u. 15.

[25] Haensel, S. 15, 16; ders., NJW 1947/48 S. 55; so auch Kraus KRG 10 S. 29.

[26] Vgl. Kraus KRG 10 S. 21.

[27] Jescheck S. 177.

[28] Jescheck S. 178; v. Weber, MDR 1948 S. 41.

[29] So bei v. Velsen S. 122.

[30] So das Ergebnis von Jescheck S. 177, 288-294; v. Velsen S. 122; v. Knieriem S. 206.

[31] Vgl. v. Velsen S. 122.

[32] Vgl. Ambos, StV 1997 S. 40.

[33] Entschieden hierzu v. Knieriem S. 205, 206.

[34] So das IMT und z.B. die Urteile im Juristen-, Einsatzgruppen- und OKW-Prozeß (s. Heinze/Schilling S. 4-7; zust. Kiesselbach, MDR 1947 S. 3; Graveson, MDR 1947 S. 280; Schönke, NJW 1947/48 S. 673, 674; Strucksberg, DRZ 1947 S. 278; vgl. auch Triffterer S. 127; Oberndörfer, FoR 1996 S. 85.

[35] Grewe S. 31; Feldmann S. 7-11.

[36] S. Anhang I.

[37] Kraus KRG 10 S. 38.

[38] Kraus KRG 10 S. 56.

[39] Kraus KRG 10 S. 63, 64.

[40] Radbruch, SJZ 1947 S. 133; vgl. Jescheck S. 317.

[41] Jescheck S. 184; Kraus KRG 10 S. 75; Feldmann S. 32-35..

[42] Grewe S. 25/26; Kraus KRG 10 S. 76; Ginsburgs/Kudriavtsev S. 198; Feldmann S. 124.

[43] Hierzu Woetzel S. 183-185; Feldmann S. 27; Kraus G.-Tag in N. S. 20, 21; ablehnend Ruff, NJW 1947/48 S. 284.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Das Ärzteurteil (1946) und das Kontrollratsgesetz Nr. 10 als Rechtsgrundlage der folgenden Verfahren
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Juristische Fakultät)
Veranstaltung
Völkerstrafrechtliches Seminar
Note
13 Punkte
Autor
Jahr
1997
Seiten
37
Katalognummer
V3344
ISBN (eBook)
9783638120470
Dateigröße
619 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kontrollratsgesetz, Rechtsgrundlage, Verfahren, Völkerstrafrechtliches, Seminar
Arbeit zitieren
Tobias Runge (Autor:in), 1997, Das Ärzteurteil (1946) und das Kontrollratsgesetz Nr. 10 als Rechtsgrundlage der folgenden Verfahren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3344

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