Die Bild-Ton-Montage in Buñuels 'Belle de jour'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

18 Seiten, Note: 2 -


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kategorien der Bild-Ton-Montage

3. Analyse einzelner Sequenzen
3.1 Wirkung ohne Ursache
3.2 Stimmen im Kopf
3.3 Wiese in der Camargue
3.4 Der Asiat
3.5 Die Katzen
3.6 Meeresrauschen
3.7 Uhrzeit
3.8 Flashback
3.9 Klammer zwischen Traum und Realität

4. Schlussfolgerung

5. Bibliographie

1. Einleitung

"Im Kamin brennt ein Feuer, die Schritte des Dieners hallen. Er legt Séverines Kleidung beiseite und reicht der nackten 'Belle de Jour' den transparenten Trauerschleier. Im Sarg liegend, soll sie die nekrophile Sehnsucht des morbiden Hausherrn stillen. Die klappernden Dienerschuhe bilden einen harten Kontrast zu Séverines bloßen Füßen, die lautlos über den Boden gleiten. Donner grollt, Katzen miauen, der Schlossherr kommt, um kniend am Sarg zu monologisieren. Der Diener klopft an die Tür, ein kurzer, harscher Wortwechsel folgt. Geräusche und Stimmen sind Rhythmus genug, ihr Ton erzeugt den Soundtrack. Die Musik bleibt stumm. Sie klingt im Inneren."[1]

Kein Zweifel, die Tonspur von „Belle de jour“ entfaltet eine ästhetische Wirkung, sie fasziniert. Roland Mörchen vergleicht in seinem Aufsatz im „Filmdienst“ Buñuels akustisches Arrangement mit einer experimentellen, aber nie übertriebenen Geräuschkunst.[2] Doch Ästhetik ist nicht alles: Oft genug klaffen Bild und Ton auseinander, verwirren die Zuschauer und tragen dazu bei, dass die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen. Leitmotivisch kehrt von der Eingangssequenz bis zum Ende das eindringliche Läuten der Glöckchen am Pferdegeschirr der Kutsche wieder und wieder. Surreales Meeresrauschen und mysteriöses Katzenmiauen komplettieren das Arsenal Buñuelscher Klangbilder.

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist eine Analyse der Bild-Ton-Montage in Buñuels „Belle de jour“. Die bisherigen Untersuchungen des Films haben in diesem Bereich viele Fragen offengelassen, der Tonspur mit ihren markanten Geräuschen wird - erstaunlicherweise - kaum Beachtung geschenkt. Lediglich einzelne Phänomene, die über die Darstellung von Wirklichkeit hinausgehen, gewinnen das Interesse der Forschung. Zu nennen wären da vor allem die Glöckchen der Kutsche, die als wiederkehrendes Leitmotiv besonders ins Augenmerk rücken. In der Literatur fehlt indes eine umfassende Darstellung der Bild-Ton-Montage.

Am ausführlichsten widmet sich noch Jutta Schütz den akustischen Phänomenen in „Belle de jour“. Für sie hat der Ton in erster Linie die Funktion, Séverines Phantasien eindeutig zu markieren.[3] Darüber hinaus misst sie den Geräuschen eine symbolische Bedeutung zu.

Ihre Beschreibung konzentriert sich jedoch auf nur einen Teil der akustischen Phänomene, soweit sie dazu dienen, ihre inhaltliche Analyse zu stützen und Schütz ihre Symbolik interpretiert. Eine Betrachtung der Tonspur unter formalen Aspekten nimmt sie nicht vor.

Die mit „Pré en camargue“[4] („Wiese in der Camargue“) betitelte Szene wird zwar von Schütz beschrieben. Sie geht allerdings nicht darauf ein, welche Funktion es hat, dass die Protagonisten ihre Lippen nicht bewegen und ihr Dialog aus dem Off kommt.

Nicht bemerkt werden darüber hinaus in der für die vorliegende Arbeit zugänglichen Literatur einige extreme Dysfunktionen zwischen Bild und Ton: Die Glöckchen der Kutsche sind zwar deutlich zu hören, aber nicht zu sehen. Die Peitschenhiebe knallen auf Séverines Rücken, doch Spuren hinterlassen sie dort nicht. Und auch die Stiere haben keine Glocken um den Hals hängen, obschon sie, gleichwohl nicht sichtbar, so doch unüberhörbar sind.

Ein weiterer Autor, Michael Wood, liefert Hinweise für diese Arbeit. Er warnt davor, aus der Vielzahl von angebotenen Symbolen, zu denen insbesondere die Geräusche gehören, Séverines Persönlichkeit abzuleiten. Laut Wood versucht Buñuel die Freudsche Vorstellung von Psychologie zu dekonstruieren, die Symbole in „Belle de jour“ seien nur Bruchstücke dieser Psychologie.[5] Sämtliche psychologische Deutungen müssen in ihrer Gesamtheit folglich zwangsläufig ins Leere laufen.

Auch die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch auf eine vollständige Darstellung der akustischen Phänomene. Sie begeht aber den Versuch, anhand von Exempeln formale Kategorien für die Phänomene der Tonspur anzubieten, die nicht der Wirklichkeitsdarstellung dienen und so eine Abweichung von einer „Normalität“ repräsentieren. Dabei kristallisieren sich, so die These, im Wesentlichen drei Kategorien heraus: Geräusche sowie Stimmen aus dem Off. Eine wichtige Rolle spielt darüber hinaus überlappender Ton als Klammer zwischen zwei Szenen, der so eine Verbindung zwischen Realität und Traum schafft.

Im ersten Kapitel nach dieser Einleitung sollen Kategorien für die zu behandelnden Phänomene definiert werden. Im zweiten erfolgt eine Einzelanalyse der entsprechenden Szenen. Schließlich soll in einem Ausblick versucht werden, die Bild-Ton-Montage ansatzweise in eine inhaltliche Interpretation einzuordnen.

2. Kategorien der Bild-Ton-Montage

„Belle de jour“ ist ein Film, der von vorneherein Imaginäres und Realistisches vermischt. Die Trennung von Traum und Wirklichkeit wird überschritten, beide Ebenen lassen sich irgendwann nicht mehr trennen, so jedenfalls der Anspruch Buñuels[6]. Für eine Betrachtung der Bild-Ton-Montage bei „Belle de jour“ ist es daher von Interesse zu untersuchen, ob und wie die Tonspur zur Darstellung von Traum und Wirklichkeit beiträgt.

Grundsätzlich ist vorweg zur Bild-Ton-Montage zu bemerken: Wenn Bild und Ton synchron sind, also die Geräusche im Bild lokalisierbar sind, wird der Wirklichkeitseindruck des Bildes verstärkt. Stehen die Geräusche dagegen im Widerspruch zum Bild, dann haben sie in der Regel symbolischen Charakter.[7]

Während die Synchronität also die Realität, sozusagen die „Normalität“, repräsentiert, markieren die Abweichungen etwas Imaginäres und tragen so zur Trennung von Realität und Traum bei. Das Augenmerk dieser Arbeit richtet sich folglich auf die Widersprüche in der Bild-Ton-Montage.

Die widersprüchlichen akustischen Phänomene lassen sich dabei in zwei Kategorien einteilen. Auffällig in „Belle de jour“ ist erstens die Vielzahl von Geräuschen in der Tonspur. Tatsächlich sind bei vielen Geräuschen Widersprüche in der Bild-Ton-Montage zu erkennen, bis hin zu extremen Dysfunktionen: Glöckchen sind zu hören, aber nicht zu sehen; Peitschen knallen, hinterlassen aber keine Spuren.

Zweitens setzt Buñuel häufig Stimmen aus dem Off ein, die Lautquelle ist nicht im Bild zu sehen. Dazu gehören unter anderem der innere Monolog Séverines am Strand mit Pierre, die Stimme Hussons in Séverines Kopf oder die Kindheitserinnerungen Séverines.

Übergreifend ist die Funktion der Tonspur als verbindende Klammer zwischen zwei Szenen. Séverines Visionen werden oftmals mit überlappendem Ton eingeleitet. Noch in den letzten Bildern der vorangegangenen Einstellung ist der Ton der nächsten Szene zu hören. Die Bild-Ton-Montage deutet ein bruchloses hinübergleiten in eine andere Realitätsebene an. Die Vision wird ein Teil der Realität, die Realität ist ein Teil der Vision.

Die Auflistung in Tabelle 1 am Ende dieses Kapitels zeigt die Phänomene, die im folgenden Kapitel noch im Einzelnen betrachtet werden. Alle erfüllen die Grundbedingung für die Darstellung einer Irrealität, sie weisen Widersprüche in der Bild-Ton-Montage auf. Die Phänomene lassen sich in zwei Kategorien einordnen: Geräusche und Stimmen aus dem Off. Zusätzlich übt der Ton oftmals eine Klammerfunktion aus.

Ein Phänomen fällt allerdings aus dieser Betrachtung heraus, hängt aber eng mit ihr zusammen: Die Schellen, die der asiatische Kunde in Madame Anaïs Etablissement mit seinen Fingern betätigt, bevor er die Dienste Séverines in Anspruch nimmt. Hier liegt kein Widerspruch zwischen Bild und Ton vor, die Klangquelle ist eindeutig im Bild zu lokalisieren. Durch die Verbindung mit einer vermutlich folgenden sexuellen Handlung und der Assoziation zu den zahlreichen Glockengeräuschen im Film wird auch eine Verknüpfung zum Visionärem geschaffen, eine Art Hinweis auf eine andere Realitätsebene.

[...]


[1] Roland Mörchen: Das Leben schreibt die Musik. Luis Buñuel und die Kunst der Töne. In: Filmdienst, 53. Jg. (2000), H. 4, S. 20.

[2] vgl. ebd.

[3] vgl. Jutta Schütz: Außenwelt - Innenwelt. Thematische und formale Konstanten im Werk von Luis Buñuel. Frankfurt/M. u.a. 1990, S. 71.

[4] Zur besseren Überprüfbarkeit werden Sprachbelege und Szenentitel im Folgenden zitiert aus: Luis Buñuel: Belle de jour. L’Avant-Scène du Cinéma, Nr. 492 (2000).

[5] vgl. Wood, Michael: Belle de jour. London 2000, S. 44-58.

[6] vgl. Schütz, S. 70.

[7] vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart, Weimar 1993, S. 94 f.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Bild-Ton-Montage in Buñuels 'Belle de jour'
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Neuere deutsche Literatur und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Luis Buñuel
Note
2 -
Autor
Jahr
2004
Seiten
18
Katalognummer
V33377
ISBN (eBook)
9783638338691
ISBN (Buch)
9783638802130
Dateigröße
562 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bild-Ton-Montage, Buñuels, Belle, Luis, Buñuel
Arbeit zitieren
Lutz Benseler (Autor:in), 2004, Die Bild-Ton-Montage in Buñuels 'Belle de jour', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33377

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Bild-Ton-Montage in Buñuels 'Belle de jour'



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden