Experiment und System in György Ligetis Musica Ricercata


Hausarbeit, 2004

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Analyseteil
I Sostenuto – Misurato – Prestissimo
II Mesto, rigido e ceremoniale
III Allegro con spirito
IV Tempo di Valse
V Rubato. Lamentoso
VI Allegro molto capriccioso
VII Cantabile, molto legato
VIII Vivace. Energico
IX Adagio. Mesto
X Vivace. Capriccioso
XI Andante misurato e tranquillo

Fazit

Quellen und Literatur

Anlagen

Einleitung

„1951 begann ich mit sehr einfachen klanglichen und rhythmischen Strukturen zu experimentieren und eine neue Art von Musik, sozusagen vom Nullpunkt ausgehend, aufzubauen; ich tat dies gleichsam auf cartesianische Art und Weise, indem ich mir bekannte und von mir geliebte Musik als für mein Vorhaben unverbindlich, ja ungültig ansah. Ich stellte mir Aufgaben wie: Was kann ich mit einem Ton anfangen? Was mit zwei Intervallen? Was mit bestimmten rhythmischen Beziehungen, die als Grundelemente eines rhythmisch-intervallischen Gebildes dienen könnten? So entstanden mehrere Stücke kleine Stücke, hauptsächlich für Klavier. Die Isolation allerdings, in der ich arbeitete, verurteilte meine mutmaßliche Selbstbefreiung zu teilweisem Scheitern, denn das vertraute Bartóksche Idiom schlug als stilistisches Kennzeichen... wie in meiner früheren Musik noch immer durch.“[1]

György Ligeti

1953 beendete György Ligeti die Arbeit an den elf Klavierstücken, die er zu dem Zyklus Musica Ricercata zusammenfügte. Mit der cartesianischen Art und Weise bezieht sich Ligeti auf René Descartes Methode des philosophischen Denkens. In den „Abhandlungen über die Methode“ - „Discours de la méthode“ –werden vier Regeln aufgestellt, nach denen man vorgehen müsse, um zum wahren Wissen zu gelangen:[2]

1. Nichts für wahr halten, was nicht so klar und deutlich erkannt worden ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann.
2. Schwierige Probleme in Teilschritten erledigen
3. Vom Einfachen zum Schwierigen fortschreiten
4. Stets prüfen, ob in der Untersuchung Vollständigkeit erreicht sei

Als Nullpunkt wird der Ton deklariert, also das Element, das nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann. Daraus folgt das zugrundeliegende Prinzip dieses Zyklus; die Stück für Stück systematisch-sukzessive Entfaltung des Tonvorrats von zwölf Tönen. So beginnt das erste Stück mit dem Tonvorrat von einem einzigen Ton, dem am Ende ein weiterer hinzugefügt wird. Dem zweiten Stück liegen drei Töne als Tonvorrat zugrunde usw., bis hin zum letzen Stück des Zyklus, wo alle zwölf Töne zur Verfügung stehen. Des Weiteren handelt es sich um die isolierte Behandlung einzelner Parameter und Kompositionsprinzipien, die hier in gleicher Weise behandelt werden. Die Stücke können also im Sinne einzelner Experimente aufgefasst werden, worauf sich auch der Titel dieses Zyklus bezieht (»ricercare« (ital.) - suchen, forschen). Es wird nicht ausschließlich mit einfachen klanglichen und rhythmischen Strukturen experimentiert, sondern auch mit verschiedenen Gattungen und Kompositionsprinzipien (IV, XI). Darüber hinaus lassen sich die Stücke der Gattung Charakterstücke zuordnen, wie sie vorwiegend im 19. Jh. als Einzelstücke oder Bestandteile eines Zyklus, hauptsächlich für Klavier beliebt waren.[3] Überdies finden sich auch hier, der Tradition dieser Gattung entsprechend, gehäuft Stücke mit tänzerischer Natur, starkem Ausdrucksgehalt, sowie charakterbezogenen Überschriften.

Die Aufgabe meiner Hausarbeit ist es, die Stücke, sowie den Zyklus als Ganzes, im Hinblick auf experimentelle Vorgehensweisen zu untersuchen und das cartesianische Vorgehen Ligetis aufzudecken. Das systematisches Prinzip, das dem Zyklus zugrunde liegt, gibt hier den Anlass, einzelne Stücke im Hinblick auf die Systematik, als allgemeingültiges Ordnungsprinzip dieses Zyklus, zu untersuchen. Dabei gilt das Augenmerk unter diesem Aspekt den einzelnen Kompositionstechniken und -prinzipien, die hier in diesem Sinne angewandt werden. Ferner werden weitere Relationen der Stücke untereinander untersucht und in Bezug auf den zyklischen Zusammenhang gedeutet. Vereinzelt wird hier Anlass gegeben, einige Stücke, sowie den Zyklus als Ganzes aus der kompositionsgeschichtlichen Perspektive zu betrachten.

Da sich die Entfaltung des Tonvorrats sukzessiv durch den Zyklus erstreckt, erscheint es mir Sinnvoll meine Untersuchungen entlang der Komposition anzuordnen und mit den Analysen einzelner Stücke zu gliedern.

Analyseteil

I

Dem ersten Stück aus dem Zyklus Musica ricercata liegt der einzige Ton A, mit Ausnahme der letzten Takte, als Tonvorrat zugrunde. Entsprechend Descartes Grundregeln werden hier musikalische Parameter in der einfachen, „nicht mehr anzuzweifelnden“ Form dargestellt. So werden in der Einleitung (Takte 1-5) kompositorische Parameter wie Tonvorrat, Tonumfang, Klang, Nichtklang (Pause), Obertöne/Klangfarbe (Stumm niedergedrückte Tasten - Nachklang) eingeführt. Die isolierte Darstellung der Obertöne können an dieser Stelle verschieden interpretiert werden: 1. Der Ton wird als das kleinste musikalische Element angezweifelt, da die Obertöne als noch kleinere Elemente aufgefasst werden können. 2. Die Obertöne werden im Sinne von Klangfarbe isoliert, und somit als Eigenschaft eines Tones verstanden.

In dem darauffolgenden Abschnitt tritt die zweite Regel Descartes in Kraft. Es werden die Parameter Tempo, Rhythmus und Metrum schrittweise entwickelt. Zunächst treten nur die Achtel auf den schweren Zählzeiten auf (Takte 6-7), darauf folgen oktavversetzt die Achtel auf den leichten Zählzeiten (Takte 8-9). Die so gebildeten ostinaten Murkybässe bilden den Hintergrund, vor dem weitere Gestaltung von Rhythmus, Metrum, Tempo und Dynamik besonders deutlich hervortreten kann. Die rhythmischen Formeln A,B,C,D[4], deren Unterscheidungsmerkmale auf die Tondauer, Tonstärke und ihre rhythmische Beschaffenheit zurückzuführen sind, werden im Grundtempo eingeführt und stellen das motivische Material der Komposition dar. Der dritten Regel entsprechend wird der Schritt vom Einfachen zum Schwierigen vollzogen: Die Formeln werden nun abwechselnd an verschiedenen Zählzeiten positioniert, transponiert, oktavverdoppelt und abgespaltet, Tempo und Dynamik werden unterdessen gesteigert (Takte 24-51). Im Fortissimo angelangt, wird der dramaturgische Verlauf verstärkt zum Höhepunkt der Komposition geführt. Eine durch Abspaltung der Formel D gewonnene Variante D’ wird immer weiter abgespaltet und aneinandergereiht (Takte 52-60). Die Anzahl der Wiederholungen einer Variante der Formel entspricht dabei jeweils dem Achtelwert der gekürzten Formel; es wird also eine aus fünf Achteln bestehende Formel fünfmal wiederholt, die Vierachtelformel viermal, etc..[5] Ist die höchste Tempostufe erreicht, wird die Formel D’ zehn Mal aneinandergereiht und mit beiden Händen unisono ausgeführt (Takte 55-60) . Nach zehnfacher Aneinaderreihung hat die Formel D’ sämtliche Zählzeiten durchlaufen. Die Dynamik erreicht nun in diesem Stück ihre höchste Stufe. Dem bescheunigendem Tempo[6] folgt ein metrisch auskomponiertes Quasi-Accelerando, hervorgerufen durch systematisch stetig dichter werdende Anordnung der Achteln in den Takten. Dies ist die letzte Phase der langanhaltenden Kulmination, die abrupt von einer Pause unterbrochen wird. Dieser Abschnitt kann als Untersuchung der Vollständigkeit gedeutet werden. Der Quintton D tritt als das Quasi-Fazit auf; die Vollständigkeit ist nicht erreicht.

II

Das besondere Merkmal des Mesto, rigido e ceremoniale ist die Art der Gliederung und Anordnung musikalischer Parameter und Satztechniken. Einzelne Abschnitte ergeben sich durch eine symmetrische Gegenüberstellung einzelner Teile, in denen jeweils gleiche Parameter unterschiedlich behandelt werden[7]. Dadurch setzen sich immer neue Abschnitte zusammen, denen wiederum weitere symmetrisch gegenübergestellt werden[8]. Unterdessen werden die bereits behandelten Parameter variiert eingesetzt. Dieses Prinzip wird bis zum Schluss der Komposition beibehalten.

So stehen im ersten Takt zwei Achtelpaare einander gegenüber. Hier wird der Parameter Tonhöhe behandelt; das erste Achtelpaar steigt die Sekunde Eis/Fis hinauf, das darauffolgende steigt das gleiche Intervall wieder hinab. Die beiden Paare zusammen bilden damit einen neuen Abschnitt, dem ein weiterer gegenübersteht. In diesem insgesamt eintaktigen Abschnitt geht es um den Parameter der Artikulation, anfänglich l egato und anschließend non legato/ T enuto. Dem nun gebildeten Motiv steht die Umkehrung seiner Tonhöhen gegenüber. In der viertaktigen Einheit (Takte 1-4) erfolgt der Taktwechsel. Die zweitaktigen Teile dieser Einheit sind zwar insgesamt gleich lang (zusammengerechnet jeweils zehn Vierteln), die Taktart ändert sich jedoch mehrmals. Unterdessen lässt sich der weitere Verlauf der motivischen Arbeit beobachten. Die viertaktige Einheit bildet nun das „Thema“ der Komposition, das im Anschluss mit veränderter Dynamik und Klangfarbe, oktavversetzt und –verdoppelt, mit beiden Händen, unisono erneut ausgeführt wird (Takte 5-8). Der darauffolgende, achttaktige Abschnitt unterscheidet sich nur in den ersten vier Takten von dem vorherigen Teil. Es wird zum ersten Mal die Vortragsbezeichnung geändert in quasi parlando. Das f is’’ bricht im Sforzato dreimal in die Oktav höherliegende Lage aus. Die weiteren vier Takte (Takte 13-16) sind identisch mit den gegenüberstehenden Viertakter des vorhergehenden Abschnitts (Takte 5-8). Diese Wiederholung schließt die erste Hälfte des Stückes ab. Die Pause in Takt 17 teilt die insgesamt dreiunddreißigtaktige Komposition in der Mitte in zwei exakt gleichlange Teile, die wiederum durch den Eintritt des neuen Tones, einander gegenüber stehen. Wie in der ersten Komposition des Zyklus erfolgt der Eintritt des neuen Tones nach einer Pause, akzentuiert, im mehrfachen Forte und wirkt hier wie ein Fremdkörper. Der Ton G steht dabei autonom und isoliert im Kontrast zu den vorherigen beiden Tönen. Der neue Ton G wird unter dem Einsatz des bereits im ersten Stück verwendeten analogen Verfahrens, dem „auskomponierten Accelerando“, präsentiert und unter steigernder Dynamik zum Kulminationspunkt geführt. Dort angelangt, verliert sich der Ton im freien Tempo unter der Vierundsechzigstel-Repetition in dem Bereich des kaum Hörbaren. In dem Abschnitt Intenso, agitato werden unter der Verwendung des gesamten Tonvorrats das oktavverdoppelte Thema und den Vierundsechzigstel-Repetition einander gegenübergestellt. Durch den mehrfachen Wechsel der Taktarten und der Augmentation der Haltetöne wird das Thema verlängert. Daraufhin setzt das Thema aus den Takten 5-8 erneut unverändert ein und knüpft an den letzten Takt, der wiederrum im freien Tempo steht. Sämtliche Parameter nehmen nun in ihrem Einsatz in dem Schlusstakt allmählich ab.

[...]


[1] Burde, Wolfgang. S. 92

[2] Ziegenfuss, Werner: Bd.1, S. 225-232.

[3] Brockhaus-Riemann Musiklexikon: Bd. 1,Charakterstück, S. 234

[4] Burde, Wolfgang S.262, Fußnote I

[5]. (eeeq = eeeee) 5X 5 Achteln, 4X 4 Achteln, 3X 3 Achteln

[6] stringendo poco a poco sin al Prestissimo

[7]. (A ßà A’)

[8] (A ßà A’ = B; B ßà B ’= C; C ßà C’=D usw .) Vergleiche Takte 1-8

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Experiment und System in György Ligetis Musica Ricercata
Hochschule
Universität zu Köln  (Musikwissenschaftliches Institut)
Veranstaltung
Klaviermusik - Kulturen im 20. Jahrhundert
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
18
Katalognummer
V33076
ISBN (eBook)
9783638336482
Dateigröße
804 KB
Sprache
Deutsch
Arbeit zitieren
Kirill Semkow (Autor:in), 2004, Experiment und System in György Ligetis Musica Ricercata, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33076

Kommentare

  • Gast am 30.9.2007

    Bemerkung zum Artikel "Experiment und System in G. Ligetis musica ricercata.

    An Alle, die sich auf diesem Weg über Ligeti´s Werk "musica ricercata" informieren wollen:

    Herr Kirill Semkow hat in seiner Arbeit zwar bis ins Detail versucht, den Verlauf der einzelnen Stücke zu beschreiben, kommt meiner Meinung nach aber selten darüber hinaus. Vieles wurde sicherlich richtig analysiert und mag durchaus im Sinne des Komponisten sein. Einges hingegen, was hinter der Fassade auf Entdeckung wartet, bleibt in seiner Abhandlung im Verborgenen. Zudem sind einige Behauptungen schlichtweg falsch. Das Gesprächsbuch "Träumen sie in Farbe?", erschienen im Zsolnay Verlag, gibt hingegen einen vertieften Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt des Komponisten und zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Freimütigkeit und Aufrichtigkeit der Aussagen aus. Dadurch findet jeder Interessierte seinen eigenen, unvoreingenommenen Weg zu Ligeti´s fantastischer Musik. Ich stehe weder mit dem Verlag noch mit dem Autor in irgendeiner Verbindung, weshalb ich das Buch an dieser Stelle ohne persönlichen Nutzen wärmstens empfehlen möchte!
    Andreas Sobczyk

Blick ins Buch
Titel: Experiment und System in György Ligetis Musica Ricercata



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