Sterben und Tod im Alter. Alterssuizidalität als sozial abweichendes Verhalten in der Soziologie


Hausarbeit, 2012

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sterben und Tod

3. Begriffe und Definitionen
3.1 Suizid und suizidales Verhalten
3.2 Alter und Alterssuizid

4. Suizidtheorien aus der Soziologie
4.1 Emile Durkheim
4.2 Gibbs und Martin
4.3 Henry und Short
4.4 Lindener-Braun

5. Suizid im Alter
5.1 Selbstmordversuche bei alten Menschen
5.2 Selbstmordausführungen bei alten Menschen
5.3 Zahlen zum Altenselbstmord und ihre Fragwürdigkeit
5.4 Abschätzung der Suizidalität

6. Gesellschaftliche Akzeptanz und Ächtung des Alterssuizids

7. Forschungsbedarf

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Es lässt sich nicht leugnen: Für die Soziologie sind Zeit, Alterung, Tod und Erinnerung (bislang?) keine zentralen Themen. Der Eindruck, dass diese Sachverhalte […] in solchen Diskursen verhandelbar sind, [..] scheint zu aufdringlich zu sein, als dass Zeit, Alterung, Tod und Erinnerung auf den sprichwörtlichen ersten Blick hin auch soziologisch relevante Fragestellungen verkörpern oder aufwerfen könnten.“ (Meitzler, 2011, S. 7) „Zunächst ist festzuhalten, daß es in erstaunlichem Umfang gelungen ist, dem Alter in unserer Gesellschaft seinen Schrecken zu nehmen. Welche Gedanken und Gefühle haben die Deutschen, wenn sie sich mit ihrem eigenen Lebensabend auseinandersetzen? Wie stark beschäftigt man sich mit dem Gedanken, daß man selbst einmal alt sein wird? Fürchten sich die meisten vor dem Leben im Alter?“ (Klose, 1993, S. 200) Die gedankliche Auseinandersetzung hängt, wie vermutet, stark mit dem gegenwärtigen Alter ab. „Die Unterscheidung von Lebensaltersabschnitten ist ein ebenso altes wie weitverbreitetes gesellschaftliches Phänomen und als solches Gegenstand sozilogischen Interesses.“ (Vergänglichkeit, s. 63) Zieht man sich die Statistik der Altenselbstmorde zur Hilfe, so scheint der Suizid im höheren Lebensaltersabschnitt für viele der letzte Ausweg zu sein. Menschen über dem 60. Lebensjahr sind die einzige Personengruppe, in der die Selbsttötung zahlenmäßig zugenommen hat. „Zwischen 1880 und 1914 erreichte die öffentliche Aufmerksamkeit für das Problem der Selbsttötung einen Höhepunkt; ihre starke Thematisierung in der Tagespresse ist ein Indikator für das Interesse der Zeitgenossen, das durch die mediale Präsenz nochmals stimuliert und verstärkt wurde.“ (Medick, 2005, S. 115) Und auch in unserer heutigen Gesellschaft ist der Altenselbstmorde ein großes Thema. Er steht als Todesart unter 50 Todesursachen nach internationalen Statistiken an neunter Stelle. Damit bringen sich ungefähr genauso viele Menschen um, wie Menschen Opfer von Verkehrsunfällen werden. In der Selbstmordforschung, -diskussion, wie auch -praxis unterscheidet man oft nicht zwischen Ursachen, Gründen und Auslösern. Bei Menschen, denen der Selbstmord „gelingt“ erfährt man gelegentlich ihr Auslöser, wenn er beispielsweise in einem Abschiedsbrief genannt wird. Sonst bleibt er unbekannt. Bei Menschen, bei denen es beim „Versuch“ blieb, ist er in Gesprächen zu erfahren. „Es ist ein Vertrauensbeweis, wenn (vor allem alte!) Patienten über die Suizidauslöser sprechen. Dieser Einstieg gibt die Möglichkeit, die eigentliche, die dahinter liegende Problematik zu betrachten: die Isolation, die Kränkungen, die körperlichen Erschwernisse, die nie erörterten Verletzungen aus der Vergangenheit, den Lebensüberdruss und die Sinnlosigkeit des Daseins.“ (Swientek, 2008, S. 41-42) Selbstmordhandlungen resultieren meist aus einer Einengung der Anpassungsfähigkeit des Menschens an reale, erfüllbare Lebensnotwendigkeiten und der eingeschränkten Möglichkeit zur Gestaltung sozialer Beziehungen. Der Alterssuizid, sowie das Altern selbst sind zwar individuelle Prozesse; werden aber von zahlreichen Faktoren mit gestalten, wie epochale, kulturelle, politische undgesellschaftliche Gegebenheiten. So soll sich diese Arbeit nicht mit psychologischen oder persönlichen Ursachen, Gründen und individuellen Schicksalen beschäftigen, sondern, mit dem sozialen Phänomen und soziologischen Theorien des Altenselbstmords. Es wird nach Definitionen gesucht und soziologische Theorien herausgearbeitet. Die Arbeit kann nicht alle Aspekte eines so umfassenden Themas leisten; es wird lediglich versucht ein Überblick über die Alterssuizidalität in Bezug auf die Soziologie zu geben. Ist der Altenselbstmord auch hier präsenter, als wir glauben?

2. Sterben und Tod

„Der Mensch erlebt sich in seinem körperlichen Leben zeitlich begrenzt. Er lebt mit dem Wissen um sein eigenes Sterben.“ (Schmitz-Scherzer,1994, S. 544) Die bisherigen Forschungsergebnisse verstehen Sterben als einen individuellen Prozess, „der in vielfältige und komplexe biographische, kognitive, emotionale, gesellschaftliche und situative Bezüge eingebettet ist.“ (ebd.) Scherzer nimmt ebenfalls an, dass es auch ein ähnlich komplexes Beziehungsgefüge für die Motivation zum Suizid im Alter gibt. Die historische Entwicklung von Einstellungen zum Sterben und zum Tod ist über Jahre von verschiedenen Autoren dargestellt worden. Dabei nimmt die Suizidalität im Alter einen stetig wachsenden Stellenwert ein, denn viele ältere Menschen wollen ihrem Leben selbst ein Ende setzen und nicht warten, bis sie auf natürlichem Wege sterben. So erklären sich auch die Suizidraten älterer Menschen, die erheblich höher liegen als die der Durchschnittspopulation, wie statistische Erhebungen der letzten Jahre zeigen. „Die physiologischen Altersvorgänge sind gekennzeichnet einmal durch die Verringerung der körperlichen Möglichkeiten, welche zu einer ständigen Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der körperlichen Existenz bis hin zu hypochondrischer Selbstbeobachtung führt. Diese unlust betonte Hinwendung zum eigenen Körper mag in die Tendenz eingehen, den eigenen Körper auszulöschen. Im weiteren ght der physiologische Alterungsprozeß mit einer Reduktion der geistigen Fähigkeiten einher, wie verringerte Lernfähigkeit, Absinken des Gedächtnisses und der Merkfähigkeit, die zu einem angstbesetzten Erleben der Einengung der persönlichen Möglichkeiten führen können. Der Alternde wird auf sich selbst zurückgeworfen und zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem eigenem Selbst gedrängt. Eine situative, d.h. von außen aufgedrängte Reduktion zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die stark reduzierte Fähigkeit des alten Menschen, neue Bindungen zu knüpfen, führen in zunehmende Isolation hinein. Durch verstärkten Konservatismus, Verschärfung der Charakterzüge, verringertes Interesse an Neuem, Hinwendung zur Vergangenheit bei gleichzeitiger Abwendung von der Gegenwart und Zukunft erhält das Eingeengtsein einen dynamischen Charakter. Die normalerweise zukunftsorientierte Blickrichtung geht verloren, weil diese Zukunft mit dem Sterben gleichgesetzt wird.“ (Eser, 1976, S. 91) Oft ist die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben und Tod durch persönliche, situative und soziale Momente ausgelöst worden, denn auch das Verhalten der Angehörigen nimmt Einfluss auf die Situation. Häufig entstehen die Gedanken für einen Suizid aufgrund des mangelhaften oder gar fehlenden sozialem Umfeld. Diese zunehmende Isolation Sterbender im Vorfeld ihres Todes bezeichnen Glaser und Strauss als „sozialen Tod“. Jenen erleiden ältere Menschen lange vor ihrem biologischen Tod. „Sozialer Tod“ meint nicht „Nachlässigkeit“ oder „böser Wille“, sondern die Scheu der Bezugspersonen vor offener Kommunikation mit Sterbenden. Auch Wittkowski (1978) verdeutlichte in seiner Analyse, dass beispielsweise negative Lebensumstände, mangelnde soziale Integration und eine gering ausgeprägte Zukunftsperspektive die Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Selbstmord beeinflussen.

3. Begriffe und Definitionen

3.1 Suizid und suizidales Verhalten

Der Begriff „Suizid“/ (Suicide) stammt aus dem Lateinischen („sui caedere“), wird im Angloamerikanischen und Französischen genutzt und bedeutet so viel wie „sich selbst töten“. „Er umschreibt sachlich distanziert den Akt der Selbsttötung. Als Suizid werden Todesfälle bezeichnet, bei denen der Verstorbene und der Todesverursacher identisch sind. Der Tod wird in diesem Falle auf eine „nicht natürliche“ Ursache zurückgeführt. Die Vorsätzlichkeit und die gezielte Absicht des Todes wird demnach für die/ bei der Definition betont. Der deutsche Ausdruck „Selbstmord“ wurde von Martin Luther geprägt und schliesst bereits eine Wertung mit ein, handelt es sich beim Mord doch um eine grausame und kriminelle Tat.“ (Hirzel-Wille, 2002, S. 17) Wie über alles, was mit Selbstmord zu tun hat, wird auch über den „richtigen“ Begriff gestritten und diskutiert. „Selbstmord“ und „Freitod“ sind auf den ersten Blick gegensätzliche Begriffe, jedoch geht es auch beim „Mord“ um eine freiwillige Entscheidung. Durkheim definierte den Selbstmord folgendermaßen: „Mann nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte.“ (Durkheim, 1973, S. 27) So soll die Verwendung des Begriffs oft den psychologisch-psychiatrisch-philosophischen Standort des Nutzers kennzeichnen. „Der Begriff „Selbstmord“ wird von vielen abgelehnt, weil dem Handeln die strafrechtlich relevanten Merkmale des „Mordes“ nach § 211 StGB fehlen wie z.B. Heimtücke, Mordlust oder niedrige Beweggründe.“ (Swientek, 2008, S. 26) Jedoch gibt es auch Autoren, die den Begriff „Selbstmord“ ablehnen und sich den Diskussionen entziehen wollen; sich so auf keine der moralischen, sprachlichen oder philosophischen Erwägungen festlegen und so alle Begriffe synonym gebrauchen.

Doch nicht jeder herbeigeführte Tod ist auch ein Suizid. „Aufgrund unterschiedlicher Modellvorstellungen fehlt in der Suizidforschung eine allgemeine Klassifikation suizidaler Verhaltensweisen. Bevorzugt in der klinischen Praxis werden Suizide, Suizidversuche und Suizidideen unterschieden. […] Suizidale Verhaltensweisen von alten Menschen ziehen sich nicht selten über einen längeren Zeitraum hin und enden mit keinem eindeutigen Akt der Selbsttötung. Diese Suizidarten werden umschrieben mit den Begriffen wie chronischer Suizid, larvierter oder verdeckter Suizid. Im hohen Alter – aber nicht nur dann – kommen auch Bilanzsuizide und Doppelsuizide bzw. erweiterte Suizide vor.“ (Hirzel-Wille, 2002, S. 17)

3.2 Alter und Alterssuizid

„Man ist erst dann berechtigt, von Alterssuizidalität zu sprechen, wenn sich besondere, alterstypische Merkmale des suizidalen Erlebens und Verhaltens alter Menschen ausmachen lassen, die sich von denen jüngerer Altersgruppen unterscheiden.“ (Erlemeier, 1992, S. 1) In den letzten Jahren hat sich das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland fortlaufend erhöht. Diese Alterung der Bevölkerung wird auch nicht aufzuhalten sein. So kommt es, dass man in der graphischen Darstellung der Altersstruktur in den modernen Industriegesellschaften nicht mehr eine Alterspyramide, sondern vielmehr eine Altersglocke wahrnehmen muss. „In Anbetracht dieser quantitativen Entwicklung ist es angezeigt, ja notwendig, die Gesamtheit der alten Menschen differenzierter zu betrachten, um der Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe gerecht zu werden.“ (Hirzel-Wille, 2002, S. 21) So hat sich schon eine Einteilung in „Junge“ und „Alte“ bei uns eingebürgert. Ab wann genau man aber als „alt“ gilt, ist nicht genau festgelegt. Dies liegt daran, dass es bisher keine eindeutige Beschreibung oder Festlegung biologischer Alterungsprozesse eines Menschen im fortgeschrittenen Leben gibt. Nach der Weltgesundheitsorganisation gilt ein Mensch als „alt“, wenn er das 65. Lebensjahr vollendet. Dies ist auch die geläufigste Abgrenzung zum „Alter“. So gilt derjenige als „alt“, der bestimmte Aufgaben nicht mehr voll erfüllen kann.

Da es nun eindeutig einen wachsenden Anteil alter Menschen in der Gesamtbevölkerung gibt, ist auch ein Anstieg der Alterssuizide zu beobachten. „Die Befunde zu Suizid und Suizidversuch lassen vermuten, dass suizidales Verhalten ein altersspezifisches Phänomen ist, das differenziert nach Altersklasse und -kohorte und nach Lebenslage, Lebensläufen oder Lebensstilen bewertet werden muss.“ (Hirzel-Wille, 2002, S. 22) Denn die Suizidhandlungen alter Menschen weisen eigene besondere Kennzeichen des Suizidverhaltens auf, die sich wesentlich von denen jüngerer Menschen unterscheiden. So ist auch festzustellen, dass ein Rückgang der Suizidversuche in dieser Kohorte zu verzeichnen ist; die Suizidrate nach dem 60. Lebensahr aber laut epidemiologischer Daten deutlich zunimmt (vgl. ebd.)

4. Suizidtheorien aus der Soziologie

Seit Jahrhunderten befassen sich Professionen mit dem Phänomen des Selbstmords. „Insbesondere die Theologen waren um die gefährdeten Menschen bemüht – nicht unbedingt, um ihnen das irdische Leben zu erleichtern, sondern um ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten.“ (Swientek, 2008, S. 36) „Der Mensch lässt sich nicht nur von übergeordneten philosophischen Prinzipien oder religiösen Instanzen in seinem Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, sondern auch von gesellschaftlichen Strömungen, politischen undwirtschaftlichen Umwälzungen und den Geschehnissen in seiner unmittelbaren Umwelt.“ (Hirzel-Wille, 2002, S. 31) Neben persönlichen Gründen, treten vor allem Verlusterlebnisse im Alter auf, die einschneidende Veränderungen im sozialen Gefüge von Personen mit sich ziehen. Rollenwechsel oder Neuorientierungen sind so beispielweise geprägt durch Pensionierung oder Verwitwung.

Selbstmorde und deren Versuche sind also kein psychologisch-pathologischrs, sondern eher ein soziales Problem. Die Soziologie beschäftigt sich mit diesen individuellen Geschehnissen und Verhaltensmustern im Zusammenhang der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Betrachtung und Beurteilung führte zu verschiedenen soziologischen Theorien, die den Suizid bzw. suizidales Verhalten versuchen zu erklären.

[...]

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Sterben und Tod im Alter. Alterssuizidalität als sozial abweichendes Verhalten in der Soziologie
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Bevölkerungswissenschaften - Was ist Alter(n)?
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
20
Katalognummer
V323987
ISBN (eBook)
9783668231689
ISBN (Buch)
9783668231696
Dateigröße
625 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Alter, Altern, Suizid, Alterssuizidalität, Sterben, Tod, abweichendes Verhalten, Demographischer Wandel, Was ist Alter(n)?, Soziologie, Selbsttötung, Selbstmord
Arbeit zitieren
Kathi Klebe (Autor:in), 2012, Sterben und Tod im Alter. Alterssuizidalität als sozial abweichendes Verhalten in der Soziologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323987

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