Diskursive "Feuchtgebiete". Charlotte Roche und der vergesellschaftete Körper


Bachelorarbeit, 2014

50 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Theoretischer Rahmen: Der vergesellschaftete Körper
1. Versuch einer Definition
2. Normen, Werte und Tabus
3. Weiblichkeit und Repräsentation
3.1 Die Angst vor dem Unterleib
3.2 Körper en vogue

Diskursive Feuchtgebiete: Normalität und Natürlichkeit
1. Die Erzählung
2. Vater der Natur – Mutter der Kultur
3. Die intime Rebellion der Helen Memel
4. Poetik des (versehrten) Körpers
5. Die Lust am Leib

Fazit: Rebellion gegen den vergesellschafteten Körper

Bibliografie

Abstract

In 2008 Charlotte Roche published her debut novel Wetlands and achieved an unexpected success. Everybody in public and private sectors was talking about the pink book with the plaster on it. Wetlands did not only achieve positive feedback, rather it was much criticized. The record of bodily fluids, diseases and sex was titled as disgusting, repulsive and tasteless. One of the allegations was that Charlotte Roche’s novel was just a pure provocation by showing exaggerated execration to gain public attention. The given paper uses the controversial reactions and poses the question whether Charlotte Roche´s Wetlands evokes a social content or not. The research is working with the assumption that it is possible to read Wetlands as a counter-hegemonic script on the basis of the contemporary body conceptions. To verify the approach it is necessary to combine social and literary methods. Therefore the assignment will be divided into two parts. The theoretical part provides the analytical framework with general considerations on the coherence of society and the body, especially the works of Pierre Bourdieu and Michel Foucault will be relevant. This part is based on the assumption that firstly the body-discourse reflects social norms and secondly it builds taboos by concealing the naturalness of the body. On the basis of the previous the empirical part Discursive Wetlands Roche´s novel will be analyzed in order to the assumption. The mother of the protagonist Helen Memel serves as a representative of the socialized body and thus identifies her contradictory actions of the daughter as a rebellion against the transported social norms. It will be shown how Helen´ s story exceeds taboos by the topics hygiene and sexuality and by presenting a disfigured body in order to classify Wetlands as a literary rebellion against the socialized body.

Einleitung

„The aim of life is self-development. To realize one’s nature perfectly - that is what each of us is here for. People are afraid of themselves, nowadays. […] The terror of society, which is the basis of morals, the terror of God, which is the secret of religion – these are […] things that govern us.” (Oscar Wilde)[1]

Der Mensch in seiner Natürlichkeit, unterdrückt durch die Angst vor der Gesellschaft und somit entstehender Moral, Angst vor Gott und Angst vor dem Selbst – für Lord Henry aus Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray ist das eine unweigerliche Tatsache. Mit seinem Appell, an den noch unbeschriebenen Helden Dorian Gray, möchte er ihm aufzeigen, dass die Selbstentfaltung des Menschen innerhalb gesellschaftlich gesetzter Grundlagen von Moral und Normen nicht möglich ist und nur eine Loslösung von ebenjenen den Menschen zu seinem vollen Glück verhelfen kann.[2] Wildes Roman handelt im Weiteren von der äußerlichen, auf rätselhafte Weise unveränderlichen Schönheit des Dorian Gray und seiner Selbstentfaltung wider die Norm. In der Sozialstruktur um den Helden werden seine verübten Tabubrüche vermutet, doch angesichts des makellosen, jünglinghaften Äußeren wird er von jeder Schuld freigesprochen. Das literarische Beispiel aus dem Jahre 1891[3] tangiert schon hier die Relevanz des menschlichen Körpers in der Gesellschaft, sowie die Verwirklichung des eigenen Naturell anhand einer Verweigerung der Norm.

Im Februar 2008 veröffentlichte die Fernsehmoderatorin Charlotte Roche ihren Debütroman Feuchtgebiete[4]. In ihrem Werk stehen ebenfalls anomale Taten wie auch der repräsentierte, gleichwohl im Kontext gesellschaftlicher Vorstellungen nicht repräsentative Körper im Mittelpunkt. Ist es bei Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray noch der Kult des männlichen Ich, der „bei der sorgfältigen Pflege der eigenen Körperschönheit in elaborierten Toilettenritualen und bei der wechselseitigen Bewunderung vor allem männlicher Wohlgeformtheit“[5] ansetzt, so lässt sich Charlotte Roches Feuchtgebiete als Antonym dazu lesen. Mit Helen Memel, die sich aufgrund einer Analfissur im Krankenhaus aufhalten muss, stellt die Autorin eine Protagonistin vor, die ausführlich von ihrem versehrten Körper erzählt, Hygiene gerade im Intimbereich klein-[6] und Sexualität in jeglicher Ausübung großschreibt. Sie widersetzt sich dem Kult des weiblichen Ich, bewundert keine gesellschaftlichen Idealbilder und führt den Leser[7] mit ihren

Selbstexperimenten in verdrängte oder auch unbekannte Gebiete des Körpers, der Hygiene und der Sexualität. Der Versuch der Selbstentfaltung von Helen Memel basiert jedoch ebenso wie bei Dorian Gray auf einem alternativen Verhalten.

Die in Feuchtgebiete inszenierte Konfrontation mit Krankheit, Smegma, Fäkalien und Sex erregte nach der Erscheinung 2008 die Menschen in Deutschland. Nicht nur in Talkshows, Zeitungen und Magazinen, sondern auch im Arbeitsumfeld und Freundeskreis wurde über das pinke Buch mit dem Heftpflaster auf dem Cover gesprochen. Dreißig Wochen lang führte der Roman die deutschen Bestsellerlisten an und konnte sich nach nur einem Monat auf dem ersten Platz des internationalen Verkaufsranking vom weltweit größten Händlers Amazon platzieren[8]. „Charlotte Roches Roman ‚Feuchtgebiete‘ ist ein Phänomen“[9] schreibt der stern -Chefredakteur Thomas Osterkorn, und Ute Bauer, die Hauptabteilungsleiterin für Belletristik im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann berichtet, dass Feuchtgebiete „eine absolute Ausnahmeerscheinung“[10] auf dem Buchmarkt sei. Der große Erfolg lässt sich wohl nicht nur auf die Erzählung selbst zurückführen, sondern auch der Medienversiertheit der Autorin und ehemaligen Fernsehmoderatorin zuschreiben. Wochenlang nach der Publikation ist Charlotte Roche in den Massenmedien omnipräsent und nimmt Stellung zu Helen Memel, Feuchtgebiete und dem modernen Körperkult. In diesen Auftritten muss Roche immer wieder die Frage beantworten, wie viel von ihrem Buch autobiographisch sei. Mit der Enthüllung, dass 70% der Erzählung auf persönlichen Erfahrungen basierten, fördert sie den Voyeurismus der Leser.[11] Gerade die Gleichsetzung der Autorin mit der Protagonistin Helen Memel, die exhibitionistisch ihren versehrten Körper und ihre Seele offenbart, steigert das Interesse an dem Roman und somit auch die Verkaufszahlen. Wenige Monate später revidiert Charlotte Roche ihre Aussage[12] und lässt die Rezipienten über den tatsächlichen Sachverhalt von Realität und Fiktion, Erfahrung und Phantasie im Ungewissen. Der Rückruf hatte jedoch keinen destruktiven Einfluss auf den Erfolg des Romans und dem Interesse an der Autorin[13]: Feuchtgebiete wurde inzwischen fast drei Millionen Mal in Deutschland verkauft, in siebenundzwanzig Sprachen übersetzt, für das Theater adaptiert und zuletzt kam im Sommer 2013 der gleichnamige Film in die deutschen Kinos.[14]

Dem erfolgreichen Massenkonsum entgegen muss sich Charlotte Roche bis heute, aufgrund des öffentlichen Sprechens über Körperfunktionen, Sex und abstoßende Wunden, auch beträchtlicher Kritik stellen. „Die meisten Rezensenten urteilten reflexhaft und ließen sich von der schwer einzuordnenden Art der Obszönität, mit der die Autorin spielt, zu polemischen Tönen hinreißen“[15], schreibt die Literaturwissenschaftlerin Ingeborg Harms und bezieht sich damit auf die Gegner von Feuchtgebiete, die lautstark von reiner Provokation, Pornografie und übertriebenem Ekel sprechen[16]. Die Empörung intensivierte sich dahingehend, dass es in „den ersten Monaten, nachdem das Buch herausgekommen war, […] unzählige Anrufe von Privatpersonen […]“[17] in der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien gab, die ein Verbot des Romans erlangen wollten. Die Stadt Witten stellte schließlich einen offiziellen Indizierungsantrag.[18] Die Stellungnahme der Bundesprüfstelle[19] weist die Beschwerde zurück und argumentiert, dass keine Pornografie vorliegen würde, da die Rede über den menschlichen Körper und Sex in dem vorliegenden Roman deskriptiv sei und mögliche Ekelgefühle nicht als Reizung der Leser, sondern als Distanzierungsmoment von dem Inhalt gelesen werden könnten. Im Weiteren liest sich die Beurteilung wie eine Referenz für Feuchtgebiete, da auf die humoristische Sprache, den artifiziellen Charakter und auf die relevante Gesellschaftskritik hingewiesen wird[20]. „Es ist eben ein Buch, das polarisiert, das viele genial und manche einfach nur eklig finden.“[21], hält Annabell Wahba folgerichtig in ihrem Artikel Die Schmutzcampagne fest.

Die positive wie auch negative Resonanz, die der Roman Feuchtgebiete und somit auch die Autorin im Jahre 2008 erhielten, veranlasste den deutschen Sender ZDF dazu, Charlotte Roche als eine der „Menschen 2008“ auszuzeichnen. Zu diesem Anlass wurde der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gebeten, den Roman zu lesen und sich über dessen literarischen Anspruch zu äußern:

„Es ist keine Literatur, aber es ist ein pornografisches Buch. Ich muss mich fragen, warum ein solches Buch, das völlig literarisch wertlos ist, das sehr ekelhaft und widerlich ist, warum das so viel und so oft verkauft wurde – muss doch ein Grund haben.“[22]

Die vorliegende Untersuchung nimmt die ambivalente öffentliche Reaktion zum Anlass, nach dem sozialen Gehalt des Romans, jenseits des voyeuristischen Elements, zu fragen und diesen als einen Grund für den Erfolg zu manifestieren. Es wird von der Hypothese ausgegangen, dass Charlotte Roches Debütroman Feuchtgebiete als gegenhegemoniale Schrift in Bezug auf den zeitgenössischen Körperkult, spezifisch den >vergesellschafteten Körper<[23], gelesen werden kann. Zur Überprüfung der Hypothese ist es notwendig, interdisziplinär vorzugehen und beispielsweise sozial– sowie literaturwissenschaftliche Methoden zu kombinieren. Der theoretische Teil der Arbeit liefert mit allgemeinen Überlegungen zur Kohärenz von Gesellschaft und Körper den analytischen Rahmen. Er führt die Annahme aus, dass erstens Körperdiskurse soziale Normen reflektieren und zweitens damit einhergehende >Verkörperungen< von Idealen in modernen Gesellschaften Tabus sowie Gefühle von Scham und Ekel erzeugen. Desweiteren werden signifikante Zusammenhänge von Hygienenormen und Weiblichkeit vor dem Hintergrund aktueller Körper- und Schönheitsdiskurse erarbeitet. Auf dieser Grundlage wird im empirischen Teil Roches Roman im Sinne der Hypothese analysiert.

Es sei an dieser Stelle auf die Wahl des vorliegenden Titels verwiesen, der Feuchtgebiete als narrativen Diskurs zum Ausgang nimmt. Anhand der ausführlichen Erzählung der Protagonistin über ihren Körper und ihr Sexual– und Hygieneverhalten, gibt das Narrativ Aufschluss über die kollektiven Werte und Normen einer Sozialstruktur. Diskursive Feuchtgebiete bezieht sich auf das Prinzip der Sichtbarmachung des aktuellen Körperdiskurses.[24] Die Figur der Mutter fungiert als Repräsentantin des >vergesellschafteten Körpers< und präzisiert somit die kontradiktatorischen Handlungen der Tochter als Auflehnung gegen die transportierten sozialen Normen. Es wird zu zeigen sein, inwieweit Helen Memels Erzählung anhand der Topoi Hygiene und Sexualität und mittels der Darstellung des versehrten Körpers, Tabus hinterfragt, um schließlich die mit der Publikation einhergehende literarische Rebellion gegen den >vergesellschafteten Körper< zu verdeutlichen.

Theoretischer Rahmen: Der vergesellschaftete Körper

„Wo auch immer ein Individuum sich befindet und wohin auch immer es geht, es muß [sic!] seinen Körper dabeihaben.“ (Erving Goffman)[25]

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist es ein sozialwissenschaftlicher Gemeinplatz, dass eine signifikante Korrelation zwischen dem menschlichen Körper und der Gesellschaft besteht. Obwohl der Körper als Gegenstand der Sozialwissenschaften schon vermehrt in den 60er und 70er Jahren erfasst wurde[26], vollzog sich erst ab 1990 eine „systematische Integration der Kategorie ‚Körper‘ in die Konzeption von Sozialität“[27]. Die einschneidende Wende hin zum sozial konstruierten menschlichen Leib[28] lässt sich demnach als body turn konstatieren[29], innerhalb dessen sich mit den zwei Kategorien Körper als Produkt von Gesellschaft und Körper als Produzent von Gesellschaft auseinandergesetzt wird[30]. In der Realität kann jedoch eine explizite Trennung dieser Art nicht ausgeführt werden, weil „der menschliche Körper und […] körperliches Handeln immer sowohl Produkt als auch Produzent gesellschaftlicher Strukturen“[31] sind.

Vor dem Hintergrund dieser Annahme bildet der theoretische Teil die Grundlage für die folgende Analyse des Romans Feuchtgebiete. Es gilt vorerst den Begriff des >vergesellschafteten Körpers< zu erarbeiten. Hierfür wird sich im Wesentlichen auf körperspezifische Aussagen von den Soziologen Pierre Bourdieu, Norbert Elias und Michel Foucault bezogen, die mitunter den Begriff des vergesellschafteten Körpers charakterisierten. Ihre Theorien diesbezüglich boten innerhalb des body turns bedeutende Zugänge zu den künftigen Forschungen und Diskussionen. Im weiteren Verlauf soll aufgezeigt werden, wie der Gegebenheit der >Vergesellschaftung des Körpers< den sozialen Alltag von Individuen prägt und Normen und Tabus etabliert, welche die Natürlichkeit[32] des Leibes im Verborgenen zu halten versuchen. Das Sprechen über den Körper ist auch immer zugleich ein Sprechen über Geschlechter. Aufgrund der Tatsache, dass Charlotte Roche sich einer weiblichen Hauptfigur bedient, ist eine Auseinandersetzung mit der Repräsentation des weiblichen Körpers unentbehrlich.

In diesem Kontext werden im Kapitel Weiblichkeit und Repräsentation imaginierte Weiblichkeitsbilder aus dem gesellschaftshistorischen Diskurs und der Moderne im Hinblick auf die Kategorien Hygiene, Schönheit und Sexualität rekonstruiert.

1. Versuch einer Definition

„Der Leib ist Teil der Sozialwelt – wie die Sozialwelt Teil des Leibes.“[33], deklamiert Pierre Bourdieu 1982 in seiner Antrittsvorlesung Leçon sur la Leçon am Collège de France. Der französische Soziologe gliederte schon Jahrzehnte vor dem body turn den Körper in seine Untersuchungen ein und löste ihn aus dem Kontext einer absoluten Natürlichkeit heraus indem er ihn zum soziologischen Forschungsgegenstand bestimmte. Er betrachtet den menschlichen Leib als einen Punkt in einem sozialen Raum, der „als solche[r] der konstituierenden und prägenden Kraft des Sozialen unterworfen“ ist[34]. Es ist die Theorie des Habitus mit der Bourdieu zu einer Vereinigung von Gesellschaft und Körper, entgegen den damaligen sozialwissenschaftlichen Gesinnungen, gelangt. Habitus, im Griechischen héxis: Haltung, Erscheinung; im Lateinischen se habere: sich Verhalten, wird im Allgemeinen verwendet, um den typischen Verhaltensstil eines Menschen zu beschreiben[35]. Bourdieu bedient sich dieser Vokabel und definiert den Habitus „als ein soziales Verhaltensmuster […], das, durch Sozialisation erworben, den spezifischen Lebensstil von Individuen und sozialen Gruppen strukturier[t]“[36]. Er beruht auf Dispositionen, die „in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata“[37] auftreten und sich in den verschiedenen Körpertechniken manifestieren[38]. Zentral für die Habitustheorie ist die Einflussnahme einer sich in der Sozialisation widerspiegelnden, äußeren Struktur auf den individuellen Körper. Der Habitus eines Menschen ist nach Bourdieu kein zufälliges Endprodukt, „sondern bildet (und verändert) sich in dem Umfeld, in dem der soziale Akteur lebt oder, präziser gesagt, sozialisiert wird“[39]. So fungiert

„[d]as inkorporierte kulturelle Kapital der vorausgehenden Generationen […] als eine Art Vorschuß [sic!] und Vorsprung: indem es dem Neuankömmling ohne weiteres das Beispiel einer in familiären Mustern realisierten Kultur und Bildung gewährleistet, wird diesem von Anbeginn an und von Grund auf […] der Erwerb der Grundelemente der legitimen Kultur ermöglicht, […].“[40]

Auch in Bourdieus Ausdruck der „Einverleibung des Sozialen“[41] scheint die Relation der sozialen Welt zum Körper noch einmal auf. Mögliche Anhaltspunkte für eben jene Relation können aus der Studie Über den Prozeß der Zivilisation von Norbert Elias herausgelesen werden. Der deutsche Soziologe verweist im Kontext seiner Analyse des abendländischen Zivilisationsprozesses auf die zunehmende Bevölkerungsdichte[42], die wachsenden Interdependenzen und den damit einhergehenden Konkurrenzdruck[43]. Infolgedessen wird

„das Gewebe der Aktionen […] so kompliziert und weitreichend, die Anspannung, die es erfordert, sich innerhalb seiner >> richtig<< zu Verhalten, […] so groß, daß [sic!] sich in dem Einzelnen neben der bewussten Selbstkontrolle zugleich eine automatisch und blind arbeitende Selbstkontrollapparatur verfestigt.“[44]

Hier setzt der Terminus des >vergesellschafteten Körpers< an, denn „selbst eine scheinbar autonome Handlung ist nicht als eine von der sozialen Welt losgelöste zu verstehen“.[45] Die beiden Soziologen Elias und Bourdieu betonen letztlich das wechselseitige Verhältnis von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstruktur.

In seinem Werk Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses konzipiert der französische Philosoph Michel Foucault das Bild vom disziplinierten Körper.[46] Im Zentrum stehen dabei für den Postrukturalisten die sich mit dem 18. Jahrhundert entwickelnden „politischen und juristischen Instrumentarien“[47], die auf den menschlichen Körper einwirken und dessen Disziplinierung zum Zwecke einer „gesteigerte[n] Tauglichkeit [im gesellschaftlichen Zusammenleben] und einer vertiefte[n] Unterwerfung“[48] vorantreiben.

„Es formiert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchwühlt, zergliedert und wieder zusammensetzt.“[49]

Der Begriff Politik der Zwänge wird hier, im Sinne Foucaults, nicht als strukturierte, einseitige Machtausübung von oben nach unten[50], sondern im Kontext moderner Gesellschaften in Verbindung zur relationalen und produktiven „Disziplinierungsmacht“[51] verstanden. Einer Politik der Zwänge folgend produziert die Disziplinierungsmacht „normierende Sanktionen“[52], die den Körper einschränken und das Normale als Zwangsprinzip etablieren.[53] Das Normale ist nach Foucault in Diskursen enthalten, und zwar in Form von „zeit- und kulturspezifischen Denkschemata, Deutungsmuster[n], Kategorien, Ideen, Konzepte[n] und Wissensformen“[54].

Mit der gesellschaftlichen Durchsetzung einzelner Elemente von Diskursen entfaltet sich eine Definitionsmacht, in der das Zusammenspiel von Wissen, Macht und Sprache von wesentlicher Bedeutung ist.[55] Der Körper ist in Hinblick auf Foucaults konstruktivistischen Ansatz immer als diskursiver Körper zu verstehen, dessen Untersuchungen sich darauf konzentrieren, wie dieser wahrgenommen und bewertet wird[56], wobei stets nach den darunter liegenden gesellschaftlichen Wissensordnungen zu fragen ist. Als „verkörperte[r] Schnittpunkt von Wissen, Macht und Sprache“[57] ist der Körper diskursiv >vergesellschaftet<.

Mit den genannten theoretischen Auszügen lässt sich insgesamt eine spezifische Art des Sprechens über den vergesellschafteten Körper ausmachen. Dieser wird als Ergebnis von den Körper strukturierenden und formenden Mechanismen und Techniken verstanden, die in engem Zusammenhang mit spezifischen gesellschaftlichen Denk-, Deutungs-, und Bewertungsschemata stehen.

2. Normen, Werte und Tabus

Auf den Versuch einer Definition des >vergesellschafteten Körpers< muss auch der innerhalb dieses Kapitels verwendete Term der Norm und deren Begleiter Werte und Tabu erklärt werden. Norm bezieht sich in der vorliegenden Arbeit auf sozial-gesellschaftliche Normen, wie sie im Sinne des foucaultschen Macht-Wissens-Komplexes zustande kommen. Für alle Bilder des Normativen gilt, dass diese in einer spezifischen Form diskursiv kodiert sind, das heißt, um weiterhin mit Foucault zu sprechen, dass sie bestimmten Wissensordnungen folgen und ihre Legitimation gerade in der Übernahme oder Kopie erfahren. [58] Normen sollen diesbezüglich als Teil eines „Systems von Normalitätsgraden“ verstanden werden, „welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken“[59]. Dies bedeutet, dass alles, was einen niedrigen Grad an Normalität aufweist, herabgestuft wird. So konstituiert die Norm immer auch ihre Abweichung und das Bild der Normalität ein Bild des Abnormalen.[60] Basierend auf der Vorstellung, dass Normen zusammen mit Werten das moralische Fundament einer zusammengehaltenen Gesellschaft bilden, wird auch die Schwere normativer Brüche verständlich.[61] Die Sozialisation in einer spezifische Gruppe oder Gesellschaft geht mit der Sozialisation in einen ebenso spezifischen Moralkomplex einher, dessen Ressourcen im massenmedialen Diskurs[62] „geschaffen und öffentlich zugänglich gemacht werden“[63]. Private Moral-Diskurse können sich auf diese Weise den ihnen öffentlich präsentierten Norm-Angeboten auf dem Moral-Markt [64] bedienen.

In der Orientierung an gesellschaftlichen Normen geht der individuelle Körper eine spezifische Beziehung zu bestehenden Herrschaftsverhältnissen ein, da die >Vergesellschaftung des Körpers< durch Übernahme von Normen zur ideologischen Absicherung dieser Verhältnisse beiträgt.[65] So entsteht am menschlichen Körper „das mikrokosmische Abbild der [Normalitätsvorstellungen der] Gesellschaft“[66].

„Jedes Kind lernt im Lauf des Sozialisationsprozesses seine körperlichen Vorgänge unter Kontrolle zu bringen. Die unter dem Gesichtspunkt des formalen sozialen Umgangs irrelevantesten und unerwünschtesten sind die Ausscheidungsprozesse, die Defäkation, das Urinieren, das sich Erbrechen; diese Vorgänge haben dann auch im Kontext des Umgangs einen pejorativen Sinn – und können bei Bedarf verwendet werden, um diesen Kontext zu sprengen.“[67]

Mit dem pejorativen Sinn ist auch die Spiegelung des Abnormalen, also des Abweichens von der Norm, verbunden. In diesem Kontext geht der Verlust der Kontrolle über den Körper spiegelbildlich zur Sozialisation mit „eine[r] Angst vor sozialer Degradierung einher“[68]. Dieser Angst gibt Norbert Elias den Namen Scham-Angst.[69]

Gerade im Kontext von körperlichen Praktiken in Form von Ausscheidungen wie Erbrechen oder Urinieren spielt außerdem Ekel eine zentrale Rolle, fungiert er doch als „affektiver Operator elementarer zivilisatorischer Tabus und sozialer Fremd-eigen-Differenzen“[70]. Bereits das Sprechen über derartige körperliche Vorgänge wird im Kontext normativer Vorstellungen von Reinheit zu einem abendländischen Tabu. Es handelt sich bei diesem Tabu um ein bestimmtes, ungeschriebenes moralisches Verbot, das dennoch zur Einhaltung drängt. Als Wesen des Tabus lässt sich demnach „das gesellschaftlich nicht Ausgesprochene, das Verborgene und Geheime“[71] identifizieren. In Das große illustrierte Wörterbuch der deutschen Sprache findet sich dazu folgender Eintrag: „ Ta | bu, […]: […] ungeschriebenes Gesetz, das auf Grund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbietet, bestimmte Dinge zu tun: ein T. verletzen; an ein T. rühren […]“[72] Die Überschreitung dieser Art von Tabu, als Verstoß gegen ein „internalisiertes Norm-Wertesystem“[73] ist zumeist mit sozialen Konsequenzen verbunden.[74]

[...]


[1] Wilde, Oscar (2001): The Picture of Dorian Gray. Hertfordshire. S. 18.

[2] Vgl. ebd. S. 18f.

[3] Vgl. ebd. S. 12.

[4] Vgl. Roche, Charlotte (2009): Feuchtgebiete. Berlin. S. 18.

[5] Pfister, Manfred (1986): Oscar Wilde >>The Picture of Dorian Gray<<. München. S. 53.

[6] Vgl. Roche (2009): S. 18.

[7] Aus Gründen der Lesbarkeit wurde die männ­li­che Form ge­wählt. Die Angaben be­zie­hen sich aber stets auf An­ge­hö­ri­ge aller Ge­schlech­ter.

[8] Vgl. Werner, Hendrik (2008): Die Bestseller - Methoden der Charlotte Roche. URL: http://www.welt.de/kultur/article1888908/Die-Bestseller-Methoden-der-Charlotte-Roche.html. Letzter Zugriff: 02.03.2014.

[9] Osterkorn, Thomas (2008): Editorial. Warum das Wohl der Kinder oft auf der Strecke bleibt. stern. Ausgabe: 19. S. 3.

[10] Bauer, Ute zitiert in: März, Ursula (2011): Bestseller mit Ansage. URL: http://www.zeit.de/2011/27/Roche-Roman. Letzter Zugriff: 19.02.2014.

[11] Vgl. Wahba, Annabel (2008): Die Schmutzkampagne. Zeit Magazin Leben. Ausgabe: 22. S. 12ff.

[12] Vgl. ebd.

[13] Vgl. ebd.

[14] Die angegebenen Informationen beruhen auf Angaben des DuMont-Verlages, welche in einem Gespräch mit der Verfasserin dieser Arbeit mitgeteilt wurden.

[15] Harms, Ingeborg (2008): Charlotte Roche - Sexualität ist Wahrheit. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/charlotte-roche-sexualitaet-ist-wahrheit-1544560.html. Letzter Zugriff: 04.03.2014.

[16] Zum Beispiel: Werner, Hendrik (2008).

[17] Titze, Markus zitiert in: Ernst, Anna (2011): Witten war gegen Charlotte Roche. URL: http://www.derwesten.de/staedte/witten/witten-war-gegen-charlotte-roche-id4950761.html. Letzter Zugriff: 25.02.2014.

[18] Vgl. ebd.

[19] Untersuchungsbericht der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien: Dörre, Marco (2011): Feuchte Schoßgebete. URL: http://www.pornoanwalt.de/wp-content/uploads/2011/04/20090212-kjm-feuchtgebiete.pdf. Letzter Zugriff: 03.03.2014.

[20] Vgl. ebd. S. 5.

[21] Wahba (2008): S. 12.

[22] Reich-Ranicki, Marcel zitiert aus : Menschen 2008. ZDF. (07.12.2008) URL: http://www.youtube.com/watch?v=2rYU0MEi6jw. (01:01-1:24) Letzter Zugriff: 21.02.1014.

[23] Das sozialwissenschaftliche Verständnis des vergesellschafteten Körpers wird ausführlich im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit erklärt.

[24] Vgl. Genette, Gérard (2010): Die Erzählung. Berlin. S. 13.

[25] Goffman, Erving (2001): Interaktion und Geschlecht. Frankfurt am Main; New York. S. 152.

[26] Ansätze hierfür lassen sich in den Werken von Pierre Bourdieu, Norbert Elias, Marcel Mauss u.a. verzeichnen.

[27] Gugutzer, Robert (2006 ): Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung. In: Ders .: Body turn. Perspektiven des Körpers und des Sports. Bielefeld. S. 11.

[28] Die Begriffe Leib und Körper werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet.

[29] Vgl. Gugutzer (2006): S. 9.

[30] Vgl. ebd. S. 13.

[31] Vgl. ebd.

[32] Der Terminus Natürlichkeit bezieht sich im Verlauf der Arbeit auf biologische Körperfunktionen und den Körper im Urzustand, ohne gesellschaftliche >Optimierungspraktiken<.

[33] Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und >>Klassen<<. Leçon sur la leçon. Frankfurt am Main. S. 69.

[34] Moldenhauer, Benjamin (2010): Die Einverleibung der Gesellschaft. Der Körper in der Soziologie Pierre Bourdieus. Köln. S. 11.

[35] Vgl. Nünning, Ansgar (Hrsg.) (2008): Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart; Weimar. S. 271.

[36] Ebd. S. 272.

[37] Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main. S. 101.

[38] Ein zentrales Beispiel für eine Körpertechnik, im Kontext zu dem vorliegenden Forschungsthema, ist die Art der Verrichtung der Körperhygiene.

[39] Moldenhauer (2010): S. 14.

[40] Bourdieu, Pierre (1996): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. S. 129.

[41] Bourdieu (1985): S. 69.

[42] Vgl. Elias, Norbert (1997): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main. S. 122.

[43] Vgl. ebd. S. 127f.

[44] Ebd. S. 328.

[45] Moldenhauer (2010): S. 18.

[46] Der Überblickscharakter des vorliegenden Definitionsversuchs begründet die knappe Auseinandersetzung mit dem Begriff und die Betonung einzelner Aspekte. Es wird deshalb im Wesentlichen auf die für die Bachelorarbeit bedeutungsvollen Verbindungen zwischen Macht, Körper, Individuum und gesellschaftshistorischen Diskursen eingegangen.

[47] Gugutzer, Robert (2004): Soziologie des Körpers. Bielefeld. S. 60.

[48] Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. S. 177.

[49] Foucault (1976): S. 176.

[50] Foucault (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt am Main. S. 93ff.

[51] Foucault (1976): S. 178.

[52] Ebd. S. 229ff.

[53] Vgl. ebd. S. 237.

[54] Gugutzer (2004): S. 76.

[55] Diese Verstrickung konkretisiert Foucault beispielsweise in seinen Studien der Sexualität, in der er die Menge von Aussagen [hier nicht nur als sprachlich, sondern auch als sich in Praktiken äußernd zu verstehen] genealogisch untersucht, die zum Formationssystem Sexualität gehören und eine spezifische diskursive Wahrheit >Sexualität< produzieren. Vgl. Gugutzer (2004): S. 74.

[56] Vgl. ebd. S. 77.

[57] Ebd. S. 76.

[58] Gugutzer (2004): S. 77.

[59] Foucault (1976): S. 273.

[60] Vgl. Lutz, Petra; Macho, Thomas; Staupe, Gisela; Zirden, Heike (2003): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Köln. S. 11.

[61] Ebd. S. 15ff.

[62] Im modernen, normativen Diskurs nehmen die Medien einen hohen Stellenwert ein. Deutlich wird dies, wenn man sich vor Augen führt, dass „Medien als Sozialisationsinstanzen [fungieren], die soziale Kontrolle ausüben und moralischen Konsens schaffen“. Stehr, Johannes (1998): Sagenhafter Alltag. Über die private Aneignung herrschender Moral. Frankfurt am Main; New York. S. 9.

[63] Ebd.

[64] Ebd. S. 10.

[65] Vgl. ebd. S. 19.

[66] Douglas, Mary (1986): Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt am Main. S. 109.

[67] Douglas (1986): S. 109.

[68] Elias (1997): S. 408.

[69] Vgl. ebd. S. 408f.

[70] Menninghaus, Winfried (1999): Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main. S. 8.

[71] Guzy, Lidia (2008): Tabu - Die kulturelle Grenze im Körper. In: Ute, Fritsch, Jennifer John, u.a. (Hrsg.). Geschlecht als Tabu: Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht. Bielefeld. S. 21.

[72] Das große illustrierte Wörterbuch der deutschen Sprache. M-Z. (1995). Stuttgart; Zürich; Wien. S. 1477.

[73] Guzy (2008): S. 19.

[74] Vgl. Seibel, Karin (1990): Zum Begriff des Tabus. Eine soziologische Perspektive. Frankfurt am Main. S. 1.

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Details

Titel
Diskursive "Feuchtgebiete". Charlotte Roche und der vergesellschaftete Körper
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
50
Katalognummer
V323675
ISBN (eBook)
9783668233799
ISBN (Buch)
9783668233805
Dateigröße
689 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
diskursive, feuchtgebiete, charlotte, roche, körper
Arbeit zitieren
Sarah Baeblich (Autor:in), 2014, Diskursive "Feuchtgebiete". Charlotte Roche und der vergesellschaftete Körper, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323675

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Titel: Diskursive "Feuchtgebiete". Charlotte Roche und der vergesellschaftete Körper



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