Kontingenz und Koinzidenz. W.G.Sebalds Kritik an der reinen Vernunft


Bachelorarbeit, 2006

43 Seiten, Note: 8+


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Intertextualität
1.1 Stil und Intertextualität
1.2 Eine kurze, historische Übersicht des Begriffs Intertextualität
1.3 Intertextualität nach Barthes
1.4 Literaturwissenschaftliche Anwendung
1.5 Literarische Anwendung

2 Biographie Sebalds

3 Schwindel. Gefühle. Beim Lesen
3.1 Struktur
3.1.1 Beyle – Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe
3.1.2 Kafka – Dr. K .s Badereise nach Riva
3.1.4 Tryptichon Beyle-Sebald-Kafka

4. Zusammenfassung und Ausblick

Anhang

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Einleitung

Die Sekundärliteratur zum am 14. Dezember 2001 bei einem Autounfall umgekommenen Schriftsteller W.G. Sebald hat inzwischen den Umfang einer kleinen Bibliothek erreicht. Sie behandelt hauptsächlich Teilaspekte seines Oeuvres, wie die Unzuverlässigkeit der Erinnerung und die vergeblichen Versuche des Individuums zu einem konsistenten Bild der eigenen Identität zu geraten, die wahrscheinlich unabwendbare Zerstörung der Erde und die Rolle des Menschen dabei, seine Geschichtsauffassung, seine Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust sowie seine komplexe Intertextualität mit dem eigensinnigen Gebrauch der Fotografie.

Wie interessant die Teilnahme an solch einem literaturwissenschaftlichen Diskurs auch sein mag, dem konsumierenden Durchschnittsleser werden damit ungenügend Anhaltspunkte für ein besseres Verständnis dieses besonderen Autors geboten. Es ist denn auch erstaunlich, dass W.G. Sebald nach der Veröffentlichung seines zweiten Romans Die Ausgewanderten, in kurzer Zeit in den englischsprachigen Ländern einen Status erworben hat, der nur mit dem von Günter Grass zu vergleichen ist.[1] Erstaunlich, weil der englische Leser außer den üblichen Eigenheiten von Übersetzungen wie Umstellungen, Änderungen und Auslassungen, noch ein kompliziertes Gewebe von intertextuellen Verweisen in den Werken Sebalds vorfindet. Sein internationaler Ruf kann deshalb nicht nur in der Qualität der Übersetzungen, sondern vor allem auf den Themen seiner Bücher gründen. Bei vielen Übersetzungen war Sebald übrigens selbst beteiligt. 1989 gründete er das British Center for Literary Translation, University of East Anglia.

W.G. Sebald hat keine Romane geschrieben, seine literarischen Werke sind nicht immer klar von seinen wissenschaftlichen Publikationen zu trennen und in den fast vierzig Jahren seiner Tätigkeit als Schriftsteller, Wissenschaftler und Dozent hat er sich mit Literatur beschäftigt. Seine Laufbahn hat ihm nicht nur große Kenntnisse der europäischen Literatur gebracht, sondern auch Erfahrung mit literaturwissenschaftlichen und philosophischen Fragen.

In mancher Hinsicht könnte man Sebalds literarisches Oeuvre als Fortsetzung seiner Tätigkeit in Forschung und Lehre betrachten.[2] Dies ließe sich an seinem Gesamtwerk aufzeigen, aber auch am Einzelwerk. Die Gefahr einer solchen Detailstudie liegt jedoch darin, dass sie ungenügend die großen Linien der aufeinander folgenden Publikationen berücksichtigt. Die vorliegende Arbeit analysiert ein Einzelwerk, zieht aber auch viele Veröffentlichungen heran, die die großen Verbindungslinien sichtbar machen. So wurde eine zu große Blickverengung vermieden.

Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass viele Aspekte in Sebalds Oeuvre dem unvorbereiteten Leser entgehen. Einige von diesen Aspekten werden hier im Rahmen der Intertextualität, wie dieser Begriff von Julia Kristeva und Roland Barthes geprägt wurde, behandelt, es wurden aber auch die Verbindungen (Themen, Motive) innerhalb des Gesamtwerkes Sebalds gezeigt. Das Ziel der vorliegenden Arbeit könnte damit folgendermaßen formuliert werden: Sie will die Frage beantworten, wie W.G. Sebald innerhalb dieser großen Vernetzung von Texten und besonders im Zusammenhang des eigenen Gesamtwerkes gelesen werden sollte.

Dabei wird namentlich seinem ersten Prosawerk Schwindel. Gefühle Aufmerksamkeit geschenkt. Für diese Wahl gibt es einige Argumente. Sebalds Oeuvre wird nicht zu Unrecht mit dem Holocaust in Verbindung gebracht. So wird in Die Ausgewanderten und Austerlitz das persönliche Schicksal von Opfern der nationalsozialistischen Rassenpolitik betont, aber überall zeigt sich Sebald verbunden mit den vielen namenlos gebliebenen Beteiligten am tragischen Werdegang der Zivilisation.[3] Die Wahl für Schwindel. Gefühle verhindert die Betonung des Holocaust und erleichtert es, Sebalds Auffassungen zu verdeutlichen. Zweitens enthält Schwindel. Gefühle viele autobiographische Daten, an denen Sebalds Verfahren die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Traum und Wirklichkeit sich verwischen zu lassen, aufgezeigt werden kann. Und drittens sind hier nicht so viele intertextuelle Verweise auf weniger bekannte Autoren anzutreffen und ist die beschriebene Region den meisten Lesern nicht unbekannt: Es wird vor allem auf Stendhal und Kafka verwiesen und die Geschichte spielt hauptsächlich im Wiener Raum und in Norditalien. Die typische Form von Sebalds Intertextualität ist so besser erkennbar.

Im ersten Kapitel der Arbeit soll der Begriff Intertextualität präzisiert werden. Nach einem kurzen historischen Überblick wird besonders eingegangen werden auf die Ideen von Julia Kristeva und Roland Barthes. Dabei soll unterschieden werden zwischen deren Konzept von Intertextualität als Ansatz für eine mögliche literaturwissenschaftliche Methode einerseits und als Ansatz für die Produktion und Rezeption von Texten andererseits.

Biographische Daten Sebalds werden im Kapitel 2 erörtert, insofern sie relevant sind für ein besseres Verständnis des Textes und sie werden darum, wo möglich, im Zusammenhang mit dem Text besprochen.[4] Aber auch außerhalb des Lebensbereichs des Autors ereignete sich in konzentrischen Kreisen vieles, das in Schwindel. Gefühle nachhallt. Auf einiges davon wird in der Arbeit eingegangen werden.

In Kapitel 3 wird Schwindel. Gefühle erörtert. Dabei wird von der Voraussetzung ausgegangen, dass es sich hier nicht handelt um Essays und das Werk nicht in Kapitel eingeteilt ist. In erster Linie soll daher die Struktur behandelt werden. Danach wird eingegangen auf das Tryptichon Beyle - Sebald - Kafka und wird untersucht, in wiefern allgemeine Themen und Motive erkennbar sind. Zum Schluss wird nach dem Plot und dem Thema gefragt.

Kapitel 4 bietet eine Zusammenfassung und einen Vorschlag für weitere Forschungen. Im Anhang sind die mittlerweile aufgelöste Website Sebalds und ein bildlicher Prätext abgedruckt.

1. Intertextualität

1.1 Stil und Intertextualität

Einer Untersuchung der Intertextualität in Sebalds Oeuvre müssen einige allgemeine Bemerkungen über dessen Schreibstil vorangehen. Wenn nämlich der Stil den Leser nicht anspricht, wird dieser auch nicht das Bedürfnis empfinden, die intertextuellen Bezüge, die erst beim nochmaligen Lesen wahrgenommen werden, zu entwirren. Anders gesagt: Der Leser wird die intertextuelle Vernetzung nicht wahrnehmen, wenn der Schreibstil ihn nicht überzeugt und fesselt.[5] Der Nichtmuttersprachler muss sich bei der Besprechung von Sebalds Schreibstil aber notgedrungen auf einige Aspekte beschränken.[6] So ist es möglich, einen Unterschied im Stil zwischen seinen wissenschaftlichen und literarischen Veröffentlichungen festzustellen.

Seine literaturwissenschaftliche Laufbahn beginnt 1969 mit der Überarbeitung seiner Magisterarbeit, Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära, an. Darin weist der damals 25jährige Sebald nach, dass der jüdische Autor Carl Sternheim sich weitgehend mit der Ideologie von Macht und Gewalt, die so kennzeichnend für das Zeitalter war, identifizierte. Damit wurde nicht nur der gängigen Auffassung der Germanistik widersprochen: Die Arbeit zeigte auch schon einige typische Merkmale von Sebalds wissenschaftlichen Publikationen: Der Autor tritt deutlich hervor, bringt seine Ansichten mit voller Überzeugung, und selbst persönliche Idiosynkrasien schimmern durch.[7] Das persönliche Engagement mit dem Gegenstand ist auffallend.[8] Schwindel. Gefühle ist das erste Prosawerk, in dem ein anderer Schreibstil erkennbar wird. Der Autor tritt gleichsam zurück, nachdem er offensichtlich die richtige Tonart gesucht hat, bestimmte Themen an zu sprechen. Empathie verträgt eben keinen lautstarken Ton.[9]

Typisch für Sebald ist die Stellung des Zeitwortes in seinen Sätzen, die oft nicht wie üblich, am Satzende steht, sondern, wie auch bei Johann Peter Hebel, weiter vorne, so wie auch im Jiddischen.[10] Auch in Übersetzung überzeugt offenbar den Leser der typische Sebald-Satz. Er bildete auch Anlass für die nachfolgende Untersuchung seiner Intertextualität.[11]

1.2 Eine kurze, historische Übersicht des Begriffs Intertextualität

Text kommt vom lateinischen Wort „Textus“ (Gewebe, Geflecht, Netz), und Intertextualität hat es schon immer gegeben, weil Texte immer verbunden sind mit anderen Texten. In den sechziger Jahren jedoch wurde der Begriff „Intertextualität“ in einer sehr weiten Bedeutung durch Julia Kristeva eingeführt. Dank Roland Barthes wurde er Gemeingut. Julia Kristeva verband das objektive synchrone System von de Saussure mit der Vorstellung von Bachtin, dass sprachliche Äußerungen ihre Bedeutung einem sozialen Kontext entnehmen. Wie sie in L’avenir d’une revolte (1988) noch einmal zusammenfasst, ging es ihr darum, die Geschichte in den Strukturalismus einzuführen. Indem man ermittelt was Marcel Proust las, entdeckt man sein Interesse an der jüdischen Mystik des Sohar und an der Dreyfuss-Affäre.

Es kann aufgezeigt werden, wie viel die interne Welt des Textes der externen Welt verdankt, und es kann zugleich die Inauthentizität des schreibenden Subjekts freigelegt werden: „Der Autor ist ein Subjekt in Entwicklung, eine Polyphonie ohne mögliche Versöhnung“.[12] So bekommt der Begriff Intertextualität eine Konnotation von Unübersichtlichkeit, und wird der Text nicht mehr als autonome, begrenzte Konstruktion betrachtet, sondern als Knotenpunkt, in dem unendlich viele Diskurse zusammenkommen. Zu unterscheiden ist eine strukturalistische und eine poststrukturalistische Betrachtungsweise. Der Strukturalismus fand seinen Ursprung unmittelbar in der Semiologie de Saussures. Er betrachtet literarische und nichtliterarische Texte als Ausdrucksform der Struktur oder des Systems der Kultur, die sie hervorbrachte. Der Poststrukturalismus betont die unstabile Art der Sprache und ihre Bedeutung und zeigt, dass der Strukturalismus keine wissenschaftliche Objektivität und keine methodologische Stabilität bot.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann selbstverständlich kein vollständiges Bild der unterschiedlichen Positionen in Sachen Intertextualität vermittelt werden.[13] Wichtig ist, dass sich inzwischen zwei Modelle von Intertextualität herauskristallisiert haben: ein radikales, theoretisches Modell, das Julia Kristeva vertritt, und ein gemäßigtes, praxisbezogenes Modell, das sich ausschließlich mit den Beziehungen zwischen literarischen Texten beschäftigt.[14] Es sollte dabei nicht vergessen werden, dass das erste Modell Aussagen über eine Kultur machen will, die durch ein umfangreiches, aber begrenztes Geflecht von Texten vertreten wird. Dass dabei der Autor, als Vertreter der Kultur neutralisiert wird, liegt auf der Hand. Das zweite Modell untersucht Verbindungen zwischen literarischen Texten, um zu einer umfassenden Interpretation zu gelangen. Weil dabei die Intentionen des Autors bis zu einem gewissen Grad berücksichtigt werden, bekommt solch eine Untersuchung einen mehr oder wenig heuristischen Charakter. Anders gesagt: Für die literaturwissenschaftliche Erforschung eines Textes ist nur das zweite Modell brauchbar,[15] wie großartig das erste auch für das Verständnis unserer Kultur und den Platz des Subjekts in ihr sein mag.[16]

1.3 Intertextualität nach Barthes

Am radikalsten hat sich Roland Barthes zur Intertextualität geäußert in seinem Essay La mort de l’auteur, aber man muss sich vergegenwärtigen, dass eine derartige Formulierung eine Stellungnahme in einem der vielen Diskursen über das Maß der Unabhängigkeit des Menschen bei der Konstitution der Welt und seiner selbst darstellt. Dabei waren Freud und der Marxismus für Barthes eine wichtige Inspirationsquelle. Barthes spricht sich in seinem Essay, der einige Monate nach der Pariser Studentenrevolte Mai 1968 geschrieben wurde, über Literatur aber vor allem über Kultur aus.[17] Er analysiert die Novelle Sarrasine von Balzac, in der von einem als Frau verkleideten Kastrat auktorial erzählt wird. Er fragt sich, wer im Grunde spricht: der Protagonist der Erzählung, der Autor Balzac, die Person Balzac, eine universelle Weisheit oder die romantische Psychologie. Letztendlich ließe sich das nicht ermitteln, da die Niederschrift jede Stimme zerstöre und jeden Subjekt in die Flucht treibe:

IL sera à tout jamais impossible de le savoir, pour la bonne raison que l’écriture est destruction de toute voix, de toute origine. L’écriture c’est ce neutre, ce composite, cet oblique où fuit notre sujet, le noir-et-blanc où vient ce perdre toute identité, à commencer par celle-là meme du corps qui écrit.[18]

Eine derart radikale Formulierung scheint dem Zeitgeist, der die Gesellschaft auseinander- fallen sah, zu entsprechen und hat einen pamphlettistischen Charakter.[19] Zwei Jahre zuvor hatte Barthes den strukturalistischen Standpunkt treffend in Worte gefasst. Er scheint dabei das literarische Verfahren Sebalds vorweggenommen zu haben, indem er das erzählte Werk als Geflecht einer unermesslichen Vielfalt darstellt:

Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.[20]

Um namhafte Autoren bildet sich rasch ein Kreis von Sachverständigen, der sich mit einer genauen Exegese ihrer Texte und Äußerungen beschäftigt, und in Barthes’ Falle ist dies auch bestimmt notwendig. Er hat sich nämlich auf mehrere Gebiete begeben und viele Aussagen gemacht, die einander manchmal zu widersprechen scheinen. Dabei soll der historische Kontext, in dem diese Aussagen gemacht wurden, selbstverständlich im Auge behalten werden. Der Einfluss von Barthes’„ großem Text“ auf Sebalds Intertextualität dürfte viel größer sein, als meistens in der Sekundärliteratur angegeben wird.[21]

1.4 Literaturwissenschaftliche Anwendung

Bei einer bewussten Benutzung von anderen Texten (Prätexten) wird der Autor selbstverständlich die Aufmerksamkeit des Lesers darauf zu richten versuchen. Dazu stehen ihm verschiedene Methoden zu Gebote, die gemeinsam als „Markierung“ bezeichnet werden. In ihrer Dissertation „ Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist ?“ zeigt Susan Schedel, dass das von Jörg Helbig entwickelte textanalytische Verfahren für eine Beschreibung von Sebalds Textbeziehungen gut geeignet ist. Besonders weil es die Möglichkeit berücksichtigt, dass Textbeziehungen ohne Beabsichtigung des Autors zu Stande kommen. Sebald selbst ist sich dessen auch bewusst.[22]

Helbig unterscheidet vier Ebenen der Markierung: 1.Eine Nullstufe (unmarkierte Intertextualität), 2.Eine Reduktionsstufe (implizit markierte Intertextualität), 3.Eine Vollstufe (explizit markierte Intertextualität) und 4.Eine Potenzierungsstufe (thematisierte Intertextualität).[23]

Diese Einteilung wird in folgenden nur selten gehandhabt.[24] Laut Schedel können Prätexte sprachlich oder bildlich evoziert werden. Als Herkunft von Prätexten nennt sie Literatur, autobiographische Aufzeichnungen oder Materialien, Wissenschaft, Bildende Kunst, Philosophie, Zeitungsartikel, Gebrauchspapiere und fingierte Fremdmaterialien, aber die Liste ließe sich gewiss noch erweitern. Prätexte können auch mündlich übermittelt werden, mit anderen Sinneserfahrungen, auditive oder olfaktorische etwa, aber auch ohne solche. Im folgenden wird das Wort „Text“ im breiten Sinne von Barthes und Kristeva gebraucht und es besteht deswegen kein Grund für die Anwendung des Terminus Intermedialität

1.5 Literarische Anwendung

Das Ausmaß, in dem intertextuelle Verweise vom Leser wahrgenommen werden, ist selbstverständlich einerseits abhängig von der Menge der innerhalb seiner Gemeinschaft als wichtig geltenden Texte, andererseits von seiner eigenen Kenntnis davon. Es ist hier nicht der Ort, einen historischen Abriss des europäischen Kanons zu geben, aber die Vertrautheit mit ihm ist zurückgegangen. Die Zahl der Texte an sich hat jedoch zugenommen. In der Kunst ist es sinnlos zu untersuchen, wer neue Wege eingeschlagen hat,[25] aber die Autoren der klassischen Moderne (z.B. T.S. Eliot, Ezra Pound, James Joyce) scheinen anders und auf andere Texte verwiesen zu haben, als die Autoren früherer Zeiten. Es wurde zwar nach wie vor auf maßgebliche Texte verwiesen, aber zugleich wurden populäre Liedertexte, Zeitungsartikel, Äußerungen von nur Lokalpolitikern, Texte anderer Kulturen, aber auch Namen unbekannter Personen einbezogen.[26] Benutzt wurden auch die Notenschrift, chinesische Schriftzeichen, nicht existierende Wörter, unbekannte Sprachen. Bei näherer Betrachtung fällt doch auf, dass fast immer auf Prätexte verwiesen wird, die, wenn sie aufgefunden und analysiert sind, Bedeutung hinzufügen und den Text vertiefen. Je breiter man den Begriff Intertextualität definiert, desto mehr Bedeutung wird hinzugefügt. Und damit wird das Rätsel auch manchmal größer, denn es wird nicht nur eine Verbindung mit einem Text, sondern mit einem ganzen Geflecht von Bedeutungsträgern hergestellt. Im folgenden wird davon ausgegangen, dass Sebald ein solcher Beziehungsgeflecht anstrebt. Durch Sinnkomplexion[27] wird der Leser in seinem Werk konfrontiert mit der Komplexität des Lebens und der Kontingenz des Daseins.

[...]


[1] Die Reihenfolge der Publikationen ist : Schwindel. Gefühle, 1990, Die Ausgewanderten, 1992, Die Ringe des Saturns, 1995. Erst nach dem Erfolg der englischen Übersetzung von Die Ausgewanderten 1996 und Die Ringe des Saturns 1998 folgte Schwindel. Gefühle, 1999. Austerlitz wurde sofort nach der deutschen Veröffentlichung ins Englische übersetzt: 2001. Vgl. für eine Übersicht der Rezeption im englischen Sprachraum: Mark McCulloh: Understanding W.G. Sebald. Columbia SC 2003, S. xv und S. 138; Susanne Schedel: ” Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?” Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald. Würzburg 2004, S. 9. Die beiden Arbeiten ergänzen sich.

[2] Vgl. die Website der University of East Anglia weiter unten, S. 38.

[3] Wie zum Beispiel in Die Ringe des Saturn, wo Sebald mit den Lebensgeschichten Roger Casements und Joseph Conrads den Millionen Männern, Frauen und Kindern, die im Sklavenstaat Kongo Leopolds II. umgebracht wurden, ein sprachliches Denkmal gesetzt hat (Sebald.: Ringe, S.125-163).

[4] Die biographischen Daten sind teils der Sekundärliteratur über Sebald, teils den Interviews mit ihm entnommen worden. Eine zuverlässige Biographie gibt es bislang nicht. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden keine Aussagen seiner ehemaligen Studenten benutzt.

[5] Sebalds Leser ist Nabokovs “rereader”: „ A good reader, a major reader, an active and creative reader is a rereader” (Vladimir Nabokov: Lectures on Literature Introduced by John Updike. London 1983, S.3).

[6] Sebald wies öfters auf seine besondere Beziehung zu den schwäbisch-alemannischen Sprachen und Dialekten hin. Seine schwäbisch-alemannische Herkunft sowie sein langjähriger Aufenthalt in England habe subtile Anomalien im Wortgebrauch und in der Syntax zufolge, die dem Nichtdeutschen wahrscheinlich entgehen. Vgl. Uwe Pralle: “Mit einem kleinen Strandspaten Abschied von Deutschland nehmen.“ SZ vom 22.12.01. Für eine Beschreibung seines Sprachgebrauchs vgl. Andreas Isenschmidt: Der Sebald-Satz. In: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald. Eggingen 1997, S.235.

[7] Vgl.W.G. Sebald: Bis an den Rand der Natur. Versuch über Stifter. In: Die Beschreibung des Unglücks. Frankfurt a.M. 2003, S. 15-37. Hier: S.34 : „ eine korrespondierende Pathologie von Liebe und Lieblosigkeit, wie sie den heiligen Stand der Ehe auszumachen scheint“. Dazu Ulrich Wienzierl: Die Angst der Dichter bei den Frauen. In: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald. Eggingen 1997, S. 53-54. Hier: S. 54.

[8] Pralle: Strandspaten: “Das Wissenschaftsideal, mit dem wir alle aufgewachsen sind, ist ja eine sehr abstrakte Sache gewesen. Wir wissen alle, dass wir in unseren Universitätsarbeiten nie „ Ich“ schreiben durften, das wurde uns von Anfang an eingebildet, dass das die falsche Annäherung an die Gegenstände des Studiums sei….“

[9] Vgl. Jonathan Coe: Takt. In: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald. Eggingen 1997, S. 238-243. Hier S. 241.

[10] Sebald: Es steht ein Komet am Himmel. In: Ders.: Logis in einem Landhaus. Frankfurt a. M. 2003, S.11-41.

[11] Andreas Isenschmid: Der Sebald-Satz. In: Loquai: W.G. Sebald. S. 235-236.

[12] Julia Kristeva: De toekomst van een revolte. Amsterdam 1999, S. 79.

[13] Vgl. Graham Allen: Intertextuality (London 2003).

[14] In Deutschland wird dieses Modell u. a. vertreten von Manfred Pfister. Es ermöglicht es z.B., Texte aus der Frühneuzeit zu erforschen. Georg Braungart: Intertextualität und Zeremoniell. In: Wilhelm Kühlmann u. Wolfgang Neuber: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. usw. 1994, S. 309-324.

[15] Die gängige Auffassung wird jedoch von Susanne Schedel nuanciert. Sie weist darauf hin, dass Intertextualität auch unmarkiert und sogar unbeabsichtigt sein kann. Susanne Schedel: „ Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?“. Würzburg 2004, S. 29-30.

[16] Wie sehr eine solche Annäherung zu einer Umwertung überlieferter Ansichten führen kann, zeigt Michel Foucault in Histoire de la folie à l’âge classique-folie et déraison (1961) und Surveiller et punir-la naissance de la prison (1975). In ersterer Studie wird das Selbstbild der Psychiatrie kritisch untersucht, in letzterer zeigt er, wie ein humanes Gefängnismodell (Bentham) durch Machthaber zweckentfremdet werden kann. Die zwei Werke werden hier genannt, weil sie in Schwindel.Gefühle als Prätext verwendet werden.

[17] In den Augen der linken Intellektuellen wurden die drei französischen Revolutionen 1791, 1848 und 1871 durch das Bürgertum verraten. Das Wort „Bourgeoisie“ hat darum bei Barthes und Kristeva, sowie übrigens auch bei Sartre eine negative Bedeutung. Während der Studentenrevolte schien das System, die Struktur der Gesellschaft zur Debatte zu stehen.

[18] Vgl. Roland Barthes: La mort de l’auteur. In: Ders.: La bruissement de la langue. Paris 1984, S. 61-67. Hier S. 61: ” C’était la femme, avec ses peurs soudaines, ses caprices sans raison, ses troubles instinctifs, ses audaces sans cause, ses bravades et sa délicieuse finesse de sentiments.”

[19] Hier scheint ein poststrukturalistischer Standpunkt, der keine feste konzeptionelle Ordnung von Bedeutungsträgern anerkennt, eingenommen zu werden. Roland Barthes wird sowohl Strukturalist als auch Poststrukturalist genannt, aber „ one may easily make too much of this difference“, so Jonathan Culler, der Barthes übrigens als Literaturgeschichtsschreiber, Mythologen, Kritiker, Polemiker, Semiologen, Hedoniker, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler einstuft. Vgl. Jonathan Culler: Barthes A very short introduction. Oxford, New York 2002, S. 74.

[20] Als Einführung in die strukturelle Analyse von Erzählungen zum ersten Mal in „Communications“, einer Veröffentlichung der maßgeblichen École Pratique des Hautes Études, veröffentlicht. Vgl. Roland Barthes.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M. 1988, S. 102.

[21] In der Sekundärliteratur wird vor allem verwiesen auf La chambre claire, die über Fotografie handelt. Vgl. z.B. Heiner Boehnke: Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): W.G. Sebald (= Text+ Kritik Nr. 158), S. 42-62.

[22] W.G. Sebald: Le promeneur solitair. Zur Erinnerung an Robert Walser. In: Ders.: Logis in einem Landhaus. Frankfurt a.M. 2003, S. 127-168. Hier: S. 138-139.

[23] Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung. Heidelberg 1996.

[24] Für eine ausführliche Erörterung vgl. Schedel: „Wer weiß,…“, S. 42-65.

[25] Vgl. Ezra Pound: ABC des Lesens. Berlin, Frankfurt a. M. 1957, S. 56: “Es ist schwer, den einen oder anderen homerischen Dialog, Ironie und all das zu beschreiben, ohne auf sprachliche Neubildungen zu kommen, die meine Verleger mir zu meiden empfahlen.“

[26] Ein typisches Beispiel davon ist der Name Mr. Edwards in der 74. Pisaner Canto, Verse 317-320: ein schwarzer Mitgefangener Pounds, der für ihn einen kleinen Schreibtisch aus einem Kistchen herstellte. Auf den Verzicht der Markierung wird übrigens von Jörg Helbig ausführlich eingegangen. Jörg Helbig: Intertextualität. S. 155-161.

[27] Der Begriff stammt von Renate Lachmann. Vgl. Renate Lachmann: Intertextualität. In: Ulfert Ricklefs (Hg): Das Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2 Frankfurt a. M. 2002, S. 794-809. Hier: S. 807.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Kontingenz und Koinzidenz. W.G.Sebalds Kritik an der reinen Vernunft
Hochschule
Radboud Universiteit Nijmegen  (Faculteit der Letteren)
Note
8+
Autor
Jahr
2006
Seiten
43
Katalognummer
V323215
ISBN (eBook)
9783668221543
ISBN (Buch)
9783668221550
Dateigröße
557 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
W.G. Sebald, Gesamtwerk, Kritik an der reinen Vernunft
Arbeit zitieren
Edo Essed (Autor:in), 2006, Kontingenz und Koinzidenz. W.G.Sebalds Kritik an der reinen Vernunft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323215

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