Studienmotivation und Technikverständnis von Studierenden des Maschinenbaus an der RWTH Aachen

Das qualitative Interview als Forschungsinstrument der Gender/Technology Studies


Hausarbeit, 2015

47 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Darstellung und Begründung der Forschungsfrage

3. Gewinnung einer Theorie - Das methodische Vorgehen
3.1 Das Leitfadeninterview
3.2 Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM)
3.3 Operationalisierung - Der Leitfaden
3.4 Die Erhebung und der Datensatz
3.5 Die Analyse des Datenmaterials

4. Erste Ergebnisse
4.1 Den Weg der Logik und Eindeutigkeit gehen
4.2 Maschinenbau als „normaler männlicher Weg“

5. Diskussion und Ausblick

6. Literatur

Anhang

Anhang 1: Urheberrechtliche Erklärung

Anhang 2: Interviewleitfaden

Anhang 3: Dokumentationsbogen

Anhang 4: soziodemografischer Fragebogen

Anhang 5: Transkript (Originalformatierung)

1. Einleitung

Am 18.02.2015 hat das Social Media Team der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hoch- schule Aachen am Nachmittag eine Auflistung der derzeit am häufigsten vertretenen Namen an der Universität bei Facebook veröffentlicht. Darin heißt es: „Übrigens: Der häufigste weib- liche Name in absoluten Zahlen kommt erst auf Platz 21. Davor sind nur Männernamen, wir sind halt eine technische Uni ;)“. Erst auf Drängen des Projektteams für Gleichstellung an der Universität wurde der Post folgendermaßen ergänzt: „... Uuuuund um Missverständnissen vor- zubeugen, hoffen wir, dass in Zukunft mehr junge Frauen den Weg an die RWTH finden. Und der erste weibliche Vorname dann nicht erst auf Platz 21 kommt!“ (RWTH Aachen University 2015: https://www.facebook.com/RWTHAachenUniversity/photos/a.252518883447. 181621.134659563447/10153598139908448/?type=1&theater, aufgerufen am 23.02.2015). Der „soziale Ausschluss von Frauen aus zahlreichen Berufsfeldern im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung“ (Paulitz 2012, S. 64) kann kaum deutlicher zum Ausdruck kommen. In diesem Fall gilt offensichtlich der Ingenieurberuf als Männerberuf und eine Begründung dafür scheint es nicht einmal zu brauchen. Wie der Facebook-Post zeigt, ist es gerade in Aachen für einen Mann gewöhnlich (und für eine Frau ungewöhnlich), Maschinenbau zu studieren. Aber wa- rum? Und ist das Geschlecht einzige Begründung für die Wahl eines Studienfachs wie den Ma- schinenbau?

Auf Grundlage des gegenwärtigen Wissensstandes kann dies nicht beantwortet werden und daher wurde ein „offener, sinnverstehender Zugang mittels qualitativer Verfahren zum empirischen Feld [gewählt]“ (Mey und Mruck 2009, S. 100). Für die vorliegende Hausarbeit wurde die Methode des Leitfadeninterviews genutzt, um mit einem Studenten aus dem Maschinenbau der RWTH über sich zu sprechen. Genauer geht es dabei um die Beantwortung der Frage, welche Motive und welches Technikverständnis Ingenieursstudierende mit an die RWTH bringen und wie sie dieses im Verlauf des Studiums reflektieren.

Diese Forschungsarbeit dient zum einen dem Erproben qualitativer Methoden, wie dem leitfadengestützten Interview und der Arbeit mit der Grounded Theory. Zum anderen wurden in einer Studie von Götsch (2013) ganz ähnliche Fragen an Informatikstudierende ge- stellt, sodass u.a. in Anlehnung daran aus dem vorliegenden Datenmaterial heraus Hypothe- sen aufgestellt und geprüft wurden. Diese Arbeit kann einen kleinen Beitrag zur Forschung von Männlichkeit und Technik leisten, da bisher der Fokus grundsätzlich auf den Sichtweisen von und Defiziten für Frauen und Mädchen innerhalb der technischen, ingenieurswissenschaftlichen Gebiete lag (u.a. Endepohls-Ulps 2013, S. 61).

2. Darstellung und Begründung der Forschungsfrage

Ausgehend von einer qualitativen Studie von Götsch (2013) über die Motive und Wege von Männern und Frauen in ein Informatikstudium, wurde ein Seminar ins Leben gerufen, das mit- hilfe von Leidfadeninterviews die Werdegänge in das Maschinenbaustudium an der RWTH Aachen erforscht. Götsch beschreibt sehr gut, wie komplex eine Entscheidung für ein Studium und Studienfach ist: „In der Bildungssoziologie werden hierfür die soziale Herkunft aus einem akademischen bzw. nichtakademischen Elternhaus, die Geschlechtszugehörigkeit, die u. a. durch die Schule geweckten Interessen und erlebten Fähigkeiten sowie die Berufsorientierung angeführt“ (S. 267).

Götsch (ebd.) fand fünf zentrale Kategorien, warum Studierende den Weg in die Infor- matik einschlagen. Diese fünf Wege stellen sich bei ihr wie folgt dar (vgl. S. 272): Der erste Weg ist der des Schicksalhaften (1), den zumeist die männlichen Interviewpartner beschreiben. Sie (und ihre Freunde) haben sich schon früh mit Technik, Computern oder Informatik beschäftigt und möchten verstehen, wie die Informatik funktioniert. Der zweite Weg beschreibt die Wahl des Informatikstudiums als Mittel zum Zweck (2), für das sie sich aktiv und bewusst aufgrund rationaler Kriterien entschieden haben. Mit der Informatik als Kompromiss (3) schlagen einige Studierende den dritten Weg ein. Sie sind zumeist vielseitig interessiert und sehen in der In- formatik ein ebenso vielseitiges Fach und die Gelegenheit, ihre Interessen auf unterschiedliche Weise dort einzubringen. Oft studieren diese Personen noch ein zweites Fach nebenbei. Den- noch bleibt für sie Informatik das Fach der Logik, des klaren Richtig und Falsch und der Objek- tivität. Ein sehr kleiner Teil Studierender erleben die Informatik als ihre visionäre Leidenschaft (4) und entscheiden sich daher für dieses Studium. Den fünften Weg, den Götsch ausmacht, gehen vor allem Frauen: Das Informatikstudium stellt eine bessere Alternative (5) dar. Sie haben zunächst ein anderes Fach vorher studiert, z.B. Mathematik und entscheiden sich dann erst für die Informatik.

Götsch beschreibt in dieser Studie, dass die Entscheidung für ein Informatikstudium von den männlichen Interviewpartnern nur noch als logische Folge ihrer Biografie einsortiert wird und kaum erklärt werden muss, wohingegen die Frauen eine vielschichte Begründung liefern (vgl. S. 273). Der „‘normale-männliche‘ Weg“ steht gegen den „außergewöhnlichen ‘weiblichen‘ Umweg“ (ebd., S. 271). Bei aller Komplexität der Studienfachwahl1 konzentriert sich diese Hausarbeit auf wenige, markante Motive des interviewten Studenten, und wirft da- bei in Anlehnung an Götsch einen genaueren Blick auf (implizit) geschlechtsspezifische Wege in das Maschinenbaustudium. In Folge dessen soll diese Arbeit im Speziellen dazu beitragen, eine Lücke innerhalb der feministischen und Männlichkeitsforschung zu schließen - nämlich die enge Verbindung von Männlichkeit und Technik „als hartnäckigen Mythos des Alltagswis- sens“ (Paulitz 2012, S. 63).

Das Forschungsdesign dieser Hausarbeit, auf das im folgenden Kapitel genauer eingegangen wird, ist so angelegt, dass mit dem Interview selbst erst Hypothesen und theoretische Ansätze zu den Motiven der Studienwahl gebildet werden. Daher werden diese auch erst als Teil des Ergebniskapitels vorgestellt. Götschs Untersuchungen zum Informatikstudium dienen dabei als Aufhänger und geben erste Anhaltspunkte in der Interpretation des vorliegenden Datenmaterials2. Die Forschungsfrage selbst kann und soll nach diesen Ausführungen nicht erschöpfend beantwortet sein, da nur ein Interview als Grundlage für die Analyse dient. Dies ist gerade erst der Startschuss für die Gewinnung einer Theorie.

3. Gewinnung einer Theorie - Das methodische Vorgehen

In der qualitativen Forschung ist die zentrale Idee, den „Relevanzstrukturen der Befragten“ (Strübung 2013, S. 93) aufzuspüren. Hier soll die Selbstreflexion der Interviewten gefördert werden (vgl. ebd., S. 88), indem sie die Möglichkeit bekommen, von ihren eigenen Erfahrungen und Sichtweisen zu erzählen und diese miteinander zu verknüpfen (vgl. ebd., S. 93).

Eine beliebte Form ist das Leitfadeninterview, das auch für die vorliegende Arbeit als Forschungsdesign gewählt und in Ansätzen durch die Methodik der Grounded Theory in der Auswertung unterstützt wurde. Um das methodische Vorgehen innerhalb dieser Forschungs- arbeit zu verstehen, wird im Folgenden zunächst einmal Grundlegendes zu beiden Forschungspraktiken ausgeführt, um dann auf das genaue Design zu sprechen zu kommen.

3.1 Das Leitfadeninterview

Wie der Name bereits verrät, ist diese Form des Interviews stets an einen Leitfaden gebunden. Der Vorteil dabei ist, dass zwei gegensätzliche Anforderungen, nämlich strukturiertes Fragen und Offenheit des Gesprächsverlaufs berücksichtigt werden (vgl. Strübung 2013, S. 92). In ihm sind alle zentralen Fragen ausformuliert, ebenso sind dort Ergänzungs- und Vertiefungsfragen sowie mögliche Antwortalternativen festgehalten. „Die Handlungsanweisung in der Interviewsituation [lautet] nicht, die Fragen nacheinander vorzulesen oder gar Antworten zur Auswahl zu stellen“ (ebd.), sondern thematisch und fragenbezogen zu moderieren, das Gespräch am Laufen zu halten und dabei keines der geplanten Themen zu vergessen (vgl. ebd., S. 92-93)

3. Dabei muss der Interviewende auch noch situationsgerechte Fragen finden, denn „die beste Frage steht nicht im Leitfaden, sondern man leitet sie aus dem bereits Gesagten ab“ (Kaufmann 1999, S. 72). Dies ist eine komplexe Aufgabe für die interviewende Person.

Hinzu kommen zwei weitere Schwierigkeiten in der Arbeit mit einem Leitfaden. Zum einen besteht bei einem solchen die Verlockung, die vorbereiteten Fragen vorzulesen und nur lustlos abzuhaken. Gefährlich ist dies deshalb, weil die interviewte Person „mit ihren Antworten sehr schnell auf denselben Stil einschwenken und sich auf kurze Antworten beschränken [wird], die nur ihre oberflächlichen Gedanken wiedergeben und ihr am leichtesten zugänglich sind“ (ebd. S. 70). Doch genau das Gegenteil ist gewollt: ein Prozess der Offenheit, des Erzählens und der Reflexion soll in Gang kommen. Zum zweiten muss sich der Interviewende von der Vorstellung eines perfekt geführten Interviews verabschieden, ansonsten führt seine Angespanntheit das Interview weg von einer „normalen Situation“, die gerade so selbstverständlich sein soll, dass der Informant sich auf das Gespräch und die Reise einlässt (vgl. ebd., S. 111).

Ein qualitatives Interview im Allgemeinen soll zwar eine vertraute und freundliche Atmo- sphäre schaffen, spiegelt jedoch keine alltägliche Situation wider, da die Sprecherrollen ungleich verteilt sind und es (stillschweigend) klar ist, wer die Fragen stellt und wer sie beantwor- tet. Außerdem fehlt eine „gemeinsame Sozialwelt“ (Strübung 2013, S. 87) im Interview, auf die nicht aufgebaut werden kann. Innerhalb dieser besonderen Gesprächssituation stößt der Interviewer häufig auf das Problem, dass der Informant sich wie in einer Prüfungssituation fühlt (vgl. ebd., S. 88). Das „Selbstbild der Gesprächskandidatinnen, eigentlich nicht viel von der Sache zu verstehen“ (ebd.), steht im Konflikt mit der Einstellung des Interviewenden, dass gerade dieser Informant wichtige Informationen zum jeweiligen Thema liefern kann.

Um trotz aller Zweifel und Unsicherheiten die wesentlichen Informationen zu erhalten, muss der Interviewer dem Stil eines Gesprächs (unter Freunden) nahekommen und den Infor- manten überzeugen, dass es sich um ein zwangloses Gespräch handelt. Er muss aufmerksam zuhören und „bereit [sein], ohne zu zögern von seinem Leitfaden abzuweichen“ (Kaufmann 1999, S. 71). Fühlt sich der Interviewte gehört und in seinem „Wissen“ geschätzt, entsteht ein intensiver Austausch und der Informant gibt ihm die gewünschten Informationen (vgl. ebd.).

Zu Beginn eines Interviews steht zumeist die Erlaubnis, das Gespräch aufzuzeichnen, um an- schließend eine Abschrift dessen nach bestimmten Richtlinien anzufertigen, das sogenannte Transkript. Damit bleiben sowohl das Gesagte als auch gewisse Emotionen und Stimmungen (wie Lachen oder Überraschung) „dauerhaft und beliebig wiederholbar der wissenschaftlichen Analyse zugänglich“ (Strübung 2013, S. 106). Anhand dieses Transkripts (oder auch den Ton- bandaufnahmen) kann und muss der Forschende Interpretationsarbeit leisten und sich dem Material damit sowohl nähern als auch stückweit davon Abstand nehmen. Kaufmann (1999) formuliert es wie folgt:

„Während sich der Forscher in seine Bücher vertieft (oder die Transkripte liest), trifft er fortwährend Entscheidungen: Er beurteilt, ob die Person ehrlich ist oder nicht, er stellt eine seiner Hypothesen in Frage oder erhält sie aufrecht, er richtet seine Aufmerksam- keit entweder auf die Biographie des Informanten oder auf ein theoretisches Konzept oder auf seine Gliederung etc. […] Diese Interpretationen sind unausweichlich; ohne sie ist keine Forschung möglich. […] Beschränkt sich nun der Forscher auf den Grund, der ihm von seinem Informanten genannt worden ist, hindert er sich selbst daran, The- oriearbeit zu leisten. Stattdessen muß er das Risiko der Interpretation auf sich nehmen“ (S. 135).

Hier beschreibt Kaufmann das, was die Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss (1967) innerhalb ihrer Grounded-Theory-Methodologie (GTM) vorschlagen und Anwendung in der vorliegenden Forschungsarbeit gefunden hat: Die Entwicklung "eine[r] in den Daten gegründete[n] [grounded] Theorie" (Mey und Mruck 2009, S. 108).

3.2 Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM)

Die GTM selbst wurde von Glaser und Strauss aus der Forschungstätigkeit heraus entwickelt und stieß bei vielen Forschenden, auch anderer Forschungsfelder, auf Zuspruch (vgl. ebd., S. 100). Sie ist mehr als nur ein Auswertungsverfahren, auch wenn dieses Potenzial in der vorlie- genden Arbeit nicht gänzlich genutzt werden konnte (dazu Kapitel 4 und 5). Sie ist ein For- schungsstil, der sich durch den gesamten Forschungsablauf durchzieht, „weil Konzept- und Theoriebildung während der Datenerhebung stattfindet“ (Ebeling, Jäckel, Meßmer, Nicoleyszik, Schmitz, 2006, S. 318).

Mit dieser Methode stellt sich der Forschende drei großen Fragen nach dem Sinn (Mey und Mruck 2009, S. 104). Erstens, welchen subjektiven Sinn spricht die interviewte Person an. Das heißt, auf welche Weise werden individuellen Handlungen und Erlebnisse von „subjekti- ven Selbst-, Welt- und Fremddeutungen“ (ebd.) gedeutet. Zweitens, welche Alltagsroutinen und Interaktionen in „spezifischen sozialen Handlungsfeldern und Milieus“ (ebd.) lassen sich finden und damit den sozialen Sinn erklären. Die dritte Ebene untersucht den vorgedeuteten Sinn, der danach fragt, wie Menschen eine historisch und sozial vorgeprägte Welt kontinuier- lich deuten und verändern (vgl. ebd.). Durch derartige Inhaltsanalysen können zunächst neut- ral wirkende Aussagen „die mitgeführten Kontexte und Bedeutungen … extrahieren“ (Ebeling et al. 2006, 318).

Das grundlegende Konzept der GTM ist es, immer wieder das Datenmaterial zu befra- gen, „wofür der einzelne empirische Vorfall steht oder worauf er verweist“ (Mey und Mruck 2009, S. 109). Das heißt, das Datenmaterial wird in kleine Teilelemente („Kodes“) zerlegt und auf diese Weise für das „Dahinterliegende“ aufgebrochen, um nicht lediglich wiederzugege- ben, zusammenzufassen oder als verdichtete Beschreibung zu paraphrasieren (vgl. ebd.). Es geht also um das permanente Vergleichen und Zusammenführen der einzelnen empirischen Ereignisse, um deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede und letztendlich wieder darum, was Kaufmann innerhalb der Interpretationsarbeit angesprochen hat: „[B]ei allen Vergleichen [müssen] die Forschenden mit ihrem Wissen, Meinen, Mögen und Verstehen Wahlen treffen“ (ebd.).

Neben dem Kodieren, auf das in Kapitel 3.5 genauer eingegangen wird, ist eine weitere Auswertungshilfe das Schreiben von Memos. Darin werden (plötzliche) Gedanken zum Daten- material festgehalten und schrittweise ergänzt und angepasst. Sie helfen, die Bedeutungen von einzelnen Wörtern, Sätzen oder Passagen zu extrahieren, Hypothesen auch aus „unerwar- teten Verknüpfungen“ (Kaufmann 1999, 127) aufzustellen und eine Theorie zu entwickeln (vgl. Mayring 1996, 82).

Zusammenfassend ist eine Sache, sozusagen als Überbau aller genannten methodischen Vor- gehensweisen, zentral: Innerhalb des geführten Interviews thematisiert sich der Informant selbst, indem er Teile aus seiner Lebensgeschichte erzählt. Er bildet seine Identität (in Teilen) ab, während er ins Reden kommt und Verknüpfungen zwischen sich und der Welt schafft. „Geht man davon aus, dass Muster des Erzählens auf vorherrschende Konventionen zurück- greifen, dann sind Selbst-Konstruktionen als gemeinschaftliches Produkt innerhalb lebensge- schichtlicher Zeit und innerhalb verschiedener sozialer Begegnungen zu begreifen, bei denen sich das sprechende Subjekt in aktuellen Diskursen konstituiert“ (Hackmann 2006, S. 115). Auf diese Weise entsteht das große Potential einzelfallanalytischer Betrachtungen (vgl.ebd.).

3.3 Operationalisierung - Der Leitfaden

Der Leitfaden (siehe Anhang 2) beinhaltet im Groben vier Erzählaufforderungen zu (1) dem Blick zurück auf die Zeit vor dem Studium und den Weg in das Maschinenbaustudium, zur (2) konkreten Vorgeschichte zur Studienwahl, zum (3) Erleben der ersten Studienzeit und schließ- lich zum (4) eigenen Verständnis von Technik und der Reflexion darüber. Im Speziellen wurde der Leitfaden mit Fragen zu möglichen Vorbildern, genauen Zeitpunkten, Gefühlen und kon- kreten Bespielen unterfüttert, um das Gespräch aufrechterhalten bzw. steuern zu können (vgl. Helfferich 2005, S. 166). Gerade das genaue „Nachhaken“ erfährt eine große Bedeutung in einem solchen Interview, da „ wir uns nicht mit den ersten Antwortversuchen zufrieden [ga- ben], sondern setzten immer wieder neu an, um an die tieferen Gründe heranzukommen und die Informanten auf direktem Wege zum Zentrum der Untersuchung zu bugsieren“ (Kaufmann 1999, S. 64). Damit spiegelt der Leitfaden die vorgestellte Forschungsfrage wider und gibt dem Interviewten einen Rahmen für die spätere Auswertung vor.

3.4 Die Erhebung und der Datensatz

In der Arbeit mit der GTM ist es zentral, dass die „Konzept- und Theoriebildung während der Datenerhebung stattfindet“ (Mayring 1996, S. 82). Das bedeutet, dass entlang des aktuellen Datenmaterials Kategorien und Konzepte gebildet werden (siehe Kapitel 3.5). Damit geht aber einher, dass die Fallauswahl sukzessive geschieht, denn auf die erste Erhebung folgt die erste Auswertung und auf dieser Basis kann erst eine Entscheidung für die nächste Erhebung getrof- fen werden (vgl. Mey und Mruck 2009, S. 110). Im Mittelpunkt steht damit nicht die Frage nach der statistischen Repräsentativität des Datensatzes, „sondern die Frage, ob das Wissen über den Untersuchungsgegenstand erweitert wird“ (Mayring 1996, 82) und ihm damit eine theo- retische Relevanz im aktuellen Forschungsstand zukommt. Diese Vorgehensweise nennt man das Theoretical Sampling4 .

Die vorliegende Hausarbeit stellt den Beginn eines solchen Forschungsprozesses dar, in dem relevante Kategorien und Vergleichsgrößen erst „im Zuge der Annäherung an das Feld und sukzessive im Prozess des Auswertens“ (Mey und Mruck 2009, S. 111) aufgestellt werden. Daher behandelt das Kapitel 4 lediglich die Ergebnisse eines (ersten) Interviews, auf dessen Grundlage dann in Kapitel 5 ein Ausblick auf die Auswahl möglicher weiterer Fälle gegeben wird.

Für das erste Datenmaterial wurde entschieden, einen Studierenden des Maschinenbaus an der RWTH Aachen im fünften Semester zu befragen, da diese sich zu dem Zeitpunkt bereits fachlich vertieft haben und einen entsprechenden Einblick in das Ingenieursfach besitzen. Das Geschlecht, die soziale Herkunft oder ähnliches haben nach Maßgabe des theoretical Samplings bei der Auswahl noch keine Rolle gespielt.

Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Maschinenbaustudenten aus dem fünf- ten Semester, der der Autorin über die gemeinsame Mitgliedschaft bei der studentischen Un- ternehmensberatung der RWTH Aachen „aixsolution e.V.“ (oberflächlich) bekannt ist. Das In- terview wurde am 15.01.2015 um 14:30 Uhr durchgeführt und dauerte 48 Minuten. Der Stu- dent ist 22 Jahre alt und in Düsseldorf geboren und aufgewachsen. Er hat das Abitur in den Schwerpunktfächern Physik und Mathematik abgelegt. Die Mutter des Informanten ist eben- falls Deutsche, ausgebildete Krankenschwester und derzeit als ehrenamtliche Altenbetreuerin tätig. Sein Vater stammt ursprünglich aus Großbritannien und hat sein Studium dort als Master of Finance abgeschlossen und arbeitet auch weiterhin im Finanzbereich5.

Generell wirkte der Informant mit zittrigen Händen und zittriger Stimme sehr nervös und unsicher, wenn auch offen dem Gespräch und den Fragen gegenüber6. Diese Stimmung hat sich auch trotz Small Talk und der ruhigen Atmosphäre im Aachener Café durch das gesamte Interview gezogen. Dadurch kam es innerhalb des Gesprächs zu vielen Brüchen, weil sich der Informant z.B. nicht mehr an die Ausgangsfrage erinnern konnte. Dabei schien das Problem nicht zu sein, dass er ins ausschweifende Erzählen gekommen war und dabei den Ausgangspunkt vergessen hatte (das wäre eher wünschenswert gewesen), sondern dass er keinen roten Faden (für sich) entwickeln konnte.

Im Interview hat sich nur stellenweise eine Geschichte aufgebaut, weshalb es umso schwerer für die Interviewerin war, sich in die Tiefe zu fragen. Das Datenmaterial spiegelt dies auch wieder: Die Redeanteile von Interviewerin und Interviewpartner sind in etwa gleich ver- teilt, was sicherlich auch durch den Versuch der Interviewerin entstanden ist, dem Informan- ten ein sicheres Gefühl zu geben. Es hat aber nicht nur die Interviewerin viel gesagt, sondern der Informant auch sehr wenig. Er wirkte ideenlos oder gar unreflektiert. Damit bilden sowohl Gesagtes als auch Ungesagtes die Grundlage der Analyse. Es muss aber noch einiges mehr bei der Auswertung des Datenmaterials beachtet werden, um sich nicht von scheinbar Offensicht- lichem einnehmen zu lassen.

3.5 Die Analyse des Datenmaterials

In der Analyse dieses Datenmaterials wurde in drei Schritten kodiert, wobei sich diese teilweise überschneiden. Die Arbeit begann mit dem offenen Kodieren. Durch das Setzen von sogenann- ten In-Vivo-Kodes wurde nahe am Wortlaut des Datenmaterials gearbeitet. Dafür wurden Passagen und sogar einzelne Sätze in Sinneinheiten zerlegt, um diese systematisch „zu befra- gen“: Über welches Phänomen und welche Aspekte dessen wird hier gesprochen? Welche Ak- teure sind beteiligt und welche Rollen nehmen sie dabei ein? Mit welchen Konsequenzen rechnet der Informant? Solche und ähnliche Fragen dienten nicht nur dem systematischen Befragen des gesamten Datenmaterials, sondern helfen auch, dass eine prinzipielle „Perspektive des Fragens überhaupt erst etabliert [wird], mit der weiter und neu an zusätzliches Material herangegangen werden kann" (Mey und Mruck 2009, S. 120).

Zwei Dinge dürfen bei der Arbeit in der qualitativen Forschung nicht unterschätzt wer- den. Zum einen, dass „[a]uch banale Sätze viel aussagen [können], wenn es gelingt, sie zum Sprechen zu bringen“ (Kaufmann 1999, S. 64). Häufig banale7, aber wiederkehrende Äußerun- gen können von starkem Interesse für den Forschenden sein, der damit eventuell einer „ge- sellschaftlichen Markierung“ (ebd., S. 142) auf den Spuren ist. Damit ist sowohl in die Analyse ist eingeflossen, was als auch wie etwas geäußert wurde. Zum zweiten ist gerade auch jenes interessant, was nicht gesagt wurde: „Was schwingt latent mit?“ und „Was bleibt ungesagt und ausgeblendet?“ (Paulitz 2012, S. 89) oder „Was erscheint widersprüchlich ?“ (vgl. Kaufmann 1999, S. 123, 144).

Um sich einer Theorie zu nähern, wurden die In-Vivo-Kodes schließlich miteinander verglichen und zusammengeführt, um Kategorien als „Konzepte höherer Ordnung“ (Mey und Mruck 2009, S. 114-115) zu bilden8. Darauf folgte das axiale Kodieren, bei dem die zuvor erarbeiteten Kategorien erneut geprüft und verfeinert wurden und folglich als „Bausteine der sich bildenden Theorie [stehen]“ (ebd., S. 133).

Für gewöhnlich schließt sich in der GTM jetzt noch ein dritter Schritt an, der des selek- tiven Kodierens. Dabei weitet sich der Blick auch auf anderes Datenmaterial, um gebildete Ka- tegorien systematisch auszuarbeiten und zuzuspitzen. Auf diese Weise werden Schlüsselkate- gorien ausfindig gemacht und damit die eigentliche Reichweite des aufgestellten Konzepts ge- sehen (vgl. ebd., S. 134). Dies ist ein sehr wichtiger Schritt hin zur Etablierung einer Theorie. Da im Zuge dieser Hausarbeit jedoch nur ein Interview analysiert wurde, kann das selektive Kodieren lediglich in Ansätzen durch den Vergleich mit Götschs Aussagen betrieben werden.

[...]


1 „Die Entscheidung für ein Studium sowie für ein bestimmtes Studienfach ist von vielerlei komplexen Faktoren abhängig. In der Bildungssoziologie werden hierfür die soziale Herkunft aus einem akademischen bzw. nichtakademischen Elternhaus, die Geschlechtszugehörigkeit, die u. a. durch die Schule geweckten Interessen und erlebten Fähigkeiten sowie die Berufsorientierung angeführt“ (Götsch 2013, S. 267).

2 Aus diesem Grund und der beschränkten Seitenzahl wird auf einen theoretischen Exkurs zu Gender und Wissenschaft verzichtet, obgleich bisherige Forschungen dazu im Ergebnisteil anzutreffen sein werden.

3 Aufgrund der Seminarstruktur wurde ein Leitfaden von der Dozentin bereits vorgegeben, weshalb auf eine detaillierte Beschreibung der Anforderungen an Interviewleitfäden verzichtet wird. Eine solche Aufschlüsselung ist bei jedoch bei Helfferich 2005, S. 160-161 zu finden.

4 Das theoretical Sampling kommt dann zum Erliegen, wenn es zu einer „theoretischen Sättigung“ im Datenmaterial kommt (vgl. Mey und Mruck 2009, S. 112).

5 Genauere Informationen konnte der Interviewpartner nicht geben.

6 Durch die gemeinsame Tätigkeit im genannten Verein ist diese Unsicherheit durchaus bekannt und spricht dafür, dass der Informant an sich bereits ein etwas unsicherer Charakter ist und das Interview als eine Art Prüfung erlebt hat.

7 „Es sind die banalsten und beiläufigsten Sätze, die gesellschaftlich gesehen die wichtigsten sind. Was die Arbeit des Forschers nicht gerade leicht macht, denn wie lassen sich diese banalen Sätze ausmachen?“ (Kaufmann 1999, S. 141-142).

8 „Zudem können […] Kategorien […] entlang von Dimensionen beschrieben werden, die sowohl qualitativ (z. B. informell - formell, persönlich - unpersönlich) als auch quantitativ (z. B. viel - wenig, hoch - niedrig) ausgerichtet sein können“ (Mey und Mruck 2009, S. 114-115).

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Studienmotivation und Technikverständnis von Studierenden des Maschinenbaus an der RWTH Aachen
Untertitel
Das qualitative Interview als Forschungsinstrument der Gender/Technology Studies
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Gender und Technik
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
47
Katalognummer
V323167
ISBN (eBook)
9783668226432
ISBN (Buch)
9783668226449
Dateigröße
678 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gender, Qualitative Forschung, Qualiatives Interview, Transkribieren, Männlichkeit, Maschinenbau, Leitfaden, Fragebogen, Hypothesenbildung, Ingenieur, Technik, Soziologie, Geschlechterforschung
Arbeit zitieren
Laura Röhrs (Autor:in), 2015, Studienmotivation und Technikverständnis von Studierenden des Maschinenbaus an der RWTH Aachen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323167

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