Laufsucht. Untersuchung ausgewählter Studien zur Ableitung der Diagnosekriterien


Bachelorarbeit, 2016

58 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition des Suchtbegriffes
2.1. Substanzgebundene Abhängigkeit
2.2. Rausch ohne Drogen - Verhaltenssucht

3. Theoriegeschichte der Laufsucht
3.1. „positive addiction“
3.2. „negative addiction“
3.3. „primary or secondary exercise addiction“

4. Literaturreview
4.1. Entwicklung und Validierung eines Messinstrumentes
4.2. Untersuchung der negativen Auswirkungen

5. Darstellung der ausgewählten Studien zum Thema Laufsucht
5.1. Studien zur Entwicklung von Messinstrumenten
5.2. Studien zu den negativen Auswirkungen

6. Zwischenfazit - Kriterien aus den dargestellten Studien
6.1. Studien zur Entwicklung von Messinstrumenten
6.2. Studien zu den negativen Auswirkungen

7. Weitergehende Untersuchung und Ableitung der Diagnosekriterien
7.1. Grundlegende Kriterien der international gültigen Diagnosesysteme
7.2. Diskussion der dargestellten Diagnosekriterien
7.2.1. Eingeschränkte Steuerung
7.2.2. Soziale Beeinträchtigung
7.2.3. Riskante Einnahme
7.2.4. Pharmakologische Kriterien
7.2.5. Weitere Kriterien
7.3. Ableitung der Diagnosekriterien

8. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Seite

Tab. 1. Sich wandelnde Sucht- und Sportfunktion in der fortschreitenden

Modernisierung

Tab. 2. Ausgewählte empirische Arbeiten zum Thema Laufsucht nach Jahren sortiert

Tab. 3. Definitionsgrundlage der empirische Arbeiten zur Entwicklung des jeweiligen Fragebogens

Tab. 4. Gefühlszustände, wenn ein Lauf ausgesetzt oder nicht ausgeführt werden konnte

Tab. 5. Mean Negative Addiction Scores of Runners Grouped by Length of Running History

Tab. 6. Measures of Addiction to Running by sex.

Tab. 7. Percentage of Total Negative Consequences of Running by Sex, Age and Martial Status...

Tab. 8. Tabellarische Aufstellung der Grundlagen der entwickelten Fragebögen.

Tab. 9. Tabellarische Aufstellung der Ergebnisse der Studien zu negativen Auswirkungen von Laufsucht

Abb. 1. Abhängigkeiten im ICD-10.

1. Einleitung

Laufen ist gesund. Laufen macht fit. Laufen ist ein guter Ausgleich zum stressigen Arbeitsleben. Laufen steht für eine gesunde Lebensführung. So oder so ähnlich sind die Konnotationen zu dem Begriff des Laufens – meist durchweg positiv. Wer viel läuft, muss demnach extrem gesund und fit sein.

Kann denn das Laufen auch negative Folgen haben? Ab wann läuft ein Mensch zu viel? Wann weicht das Gesunde dem Pathologischen? Wann wird Laufen zur Sucht und wie kann man diese diagnostizieren?

Die vorliegende Bachelorarbeit behandelt das Thema „Laufsucht“. Besonders problematisch ist bei dem Krankheitsbild der Laufsucht, dass es bislang keine international anerkannten Kriterien zur Diagnose einer solchen gibt. Die Laufsucht wurde bislang nicht in die einschlägigen Diagnosesysteme (DSM-5 sowie ICD-10) aufgenommen. Daher werden in der vorliegenden Bachelorarbeit die Diagnosekriterien einer Laufsucht anhand ausgewählter Studien aufgezeigt und dann mit den internationalen Kriterien für Verhaltenssucht bzw. stoffgebundener Abhängigkeit der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10th Revision ICD-10“ (World Health Organization, 2015) und dem „Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM 5)“ (American Psychatric Association, 2013) verglichen und ergänzt. Zielsetzung der Arbeit ist es also, die definitorischen Grundlagen und Diagnosekriterien für eine Laufsucht anhand der ausgewählten empirischen Arbeiten herauszuarbeiten und diese dann mit den international gültigen Diagnosekriterien für stoffgebundene Abhängigkeit und Verhaltenssucht zusammenzuführen, sodass das Krankheitsbild Laufsucht durch diese eindeutig aufgezeigt werden kann.

Zunächst (Kapitel 2) soll auf den Begriff der Sucht eingegangen und dabei die Verhaltenssucht zur stoffgebundenen Abhängigkeit abgegrenzt werden. Bei einer Sucht sind nicht nur die stoffgebundenen Abhängigkeiten gemeint wie zum Beispiel nach Alkohol oder anderen Drogen. 1954 hatte bereits von Gelbsattel festgestellt, dass jede Art des menschlichen Interesses in eine Sucht entarten kann (vgl. Grüsser & Thalemann, 2006, S.16). „Sucht ist primär ein psychologisches Problem. Als Problem existiert es ganz unabhängig von Suchtmitteln.“ (Weber, 1984, S.173).

Auch stoffungebundene Bedürfnisse können demnach zu einer Sucht führen, wie etwa Arbeiten, Sammeln, Machtstreben, Kaufen, Spielen, Sexualität oder Sport. Abhängigkeiten und Rauschzustände werden vom Verhaltenssüchtigen durch die Ausführung der bestimmten Tätigkeit herbeigeführt. Nachdem die Sucht und dabei besonders die Verhaltenssucht definiert wurden, wird im Kapitel 3 auf die Laufsucht eingegangen. Es wird die Theoriegeschichte der Laufsucht dargestellt. Es sollen in diesem Kapitel vor allem die Definitionen der Laufsucht als „positive addiction” (Glasser, 1976) und “negative addiction” (Morgan, 1979) und auch die Einteilung in „primary and secondary exercise dependence“ (de Coverly Veale, 1987) vorgestellt werden. Im folgenden Kapitel (Kapitel 4) wird die Literaturrecherche dargestellt. Es wird ein grober Überblick und eine Einordnung der ausgewählten empirischen Arbeiten gegeben. Mit diesem Vorwissen können dann im nächsten Kapitel (Kapitel 5) die siebzehn ausgewählten Studien (zum Thema Laufsucht) und deren Ergebnisse leichter betrachtet und untersucht werden. Die Studien werden zunächst nochmal unterteilt in:

- ausgewählte Studien zur Fragebogenentwicklung zur Diagnose einer Laufsucht,

- ausgewählte Studien zu den negativen Auswirkungen einer Laufsucht.

Die entwickelten Fragebögen werden besonders auf die zugrundeliegenden Diagnosekriterien einer Laufsucht untersucht. Die sieben ausgewählten Fragebögen, die der Diagnose einer Laufsucht dienen sollen, werden auch im Hinblick auf die Anzahl der Items (Anzahl der Items: 6-30) betrachtet. Außerdem werden die negativen Auswirkungen von Laufsucht durch die Ergebnisse der ausgewählten Studien dargestellt. Die aus den Studien und Fragebögen resultierenden Diagnosekriterien einer Laufsucht werden dann in einem tabellarischen Zwischenfazit (Kapitel 6) kurz zusammengefasst. Im folgenden Kapitel (Kapitel 7) werden diese Ergebnisse mit den Kriterien aus den internationalen Diagnosesystemen ICD-10 (WHO, 2015) sowie DSM-5 (APA, 2013) verglichen und ergänzt. Viele Autoren, wie etwa Morgan (1979), de Coverly Veale (1987), Grüsser und Thalemann (2006) sowie Drescher et al. (2013), ziehen die Kriterien der substanzgebundenen Abhängigkeit heran, um eindeutige Kriterien für eine Laufsucht zu finden. Diesem Schema folgend werden zunächst die Kriterien der stoffgebundenen Abhängigkeit nach dem ICD-10 sowie DSM-5 dargelegt. Als Verhaltenssucht wurde bis dato nur das pathologische Glücksspiel in die internationalen Diagnosesysteme aufgenommen. Diese Kriterien werden zusätzlich dargestellt, da es sich hierbei um die einzige anerkannte vergleichbare stoffungebundene Sucht handelt. Im Weiteren wird dann über den Vergleich (Kapitel 7.2.) der verschiedenen dargestellten Diagnosekriterien eine Zusammenführung und Ableitung (Kapitel 7.3.) dieser erfolgen. Abschließend erfolgt die Bewertung der Ergebnisse in einem Fazit (Kapitel 8).

Die „Endorphin-Hypothese“ wird in dieser Arbeit nicht betrachtet. Dieser weithin populäre Zugang zum Phänomen der Laufsucht wurde bereits durch einige empirische Arbeiten als Grundlage der Krankheit ausgeschlossen (vgl. Schack, 2000, S. 3ff.; March, 2004, S. 254 f.; Allmer, Knobloch & Schack, 2000, S. 191 f.; Castillion, S. 13f.).

Aufgrund der spezifischen Themenstellung der Arbeit bleibt auch die „sekundäre“ Laufsucht (Anorexia athletica), die durch das Krankheitsbild einer Essstörung ausgelöst wird, weitgehend unberücksichtigt. Laufsucht stellt hierbei lediglich eine Begleiterscheinung zur Essstörung dar.

Aus Gründen der Vereinfachung wird die männliche Form verwendet, dies schließt das weibliche Geschlecht mit ein.

2. Definition des Suchtbegriffes

Sucht kann als unabweisbares starkes Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebens-, oder Bewusstseinszustand definiert werden (vgl. Frey & Hoyos, 2005, S.172). Nach Laubenthal (1964) ist Sucht ein passives, begierdemäßiges, zwanghaftes Verhalten, wobei das Merkmal einer freien Entscheidungsmöglichkeit fehlt. Physische und/oder psychische Abhängigkeit von einer Substanz oder einem Verhalten führen vom normalen Verlangen zu einem abnormen, unerträglichen Verlangen. Dieses starke Verlangen kann durch die Befriedigung des Bedürfnisses nur kurzzeitig aufgehoben werden und wiederholt sich dann gesteigert.

Sucht kann daher ganz allgemein als ein unwiderstehliches Verlangen definiert werden, das scheinbar ein Individuum dahin bringt, die infolge innerer und äußerer Konflikte und Spannungen gesetzten Schranken mit Hilfe von Mitteln oder Handlungsabläufen zu überwinden (March, 2004, S.23).

Sucht ist demnach eine Abweichung von der Normalität. Süchtiges, abhängiges Verhalten beinhaltet stets die Manipulation der eigenen Befindlichkeit. Der Betroffene hat keine Selbstkontrolle mehr. Das Denken des Abhängigen ist eingeengt auf die (nächste) Befriedigung seiner Sucht, sodass der als süchtig diagnostizierte Mensch seine vernunftbedingte (Entscheidungs-) Freiheit verliert (vgl. March, 2004, S. 20). „Beginnt der Rauschzustand die Herrschaft über unseren Willen dauerhaft zu übernehmen, so sprechen wir von Sucht.“ (Batthyány & Pritz, 2009, S.V).

Es ist dabei nicht nur stoffgebundene Abhängigkeit wie zum Beispiel nach Alkohol oder anderen Drogen zu betrachten. 1954 hatte bereits von Gelbsattel festgestellt, dass jede Art des menschlichen Interesses in eine Sucht entarten kann (vgl. Gelbsattel, 1954 in Grüsser & Thalemann, 2006, S.16). 1962 hat auch Gabriel den Begriff der Sucht nicht nur auf von psychotropen Substanzen induzierte Abhängigkeit reduziert, sondern eine Unterscheidung von „Suchten nach chemisch definierbaren Substanzen“ und „Tätigkeitssüchten“ vorgenommen (vgl. Gabriel, 1962 in Grüsser & Thalemann, 2006, S.16). Auch stoffungebundene Bedürfnisse können demnach zu einer Sucht führen, wie etwa Arbeiten, Sammeln, Machtstreben, Kaufen, Spielen, Sexualität oder Sport. Auch March (2004) meint, dass Suchtverhalten in vielen Erscheinungsformen auftritt und die Neigung dazu weit verbreitet ist. Dies ist problematisch insoweit, da keine klare Abgrenzung des Begriffes Sucht getroffen werden kann: „Das Wort Sucht steht für einen unscharfen Begriff.“ (Feuerlein, 1987, S. 3). Auch Gross und Poppelreuter (2000, S.XIII) meinen, dass die Begriffe Sucht und Abhängigkeit auf den ersten Blick einfach aussehen, da sie zu unserer Alltagssprache gehören. Genau dies sei aber das Problem, da trotz Forschung und wissenschaftlicher Diskussion nicht festzustellen sei, dass die Begriffe Sucht und Abhängigkeit einheitlich verwendet werden (vgl. Gross & Poppelreuter, 2000, S. XIII).

Die Vielfalt von unterschiedlichen Sucht- und Abhängigkeitsdefinitionen, die große Zahl von verwandten Begriffen, die Problematik der Abgrenzung unterschiedlicher Sucht- und Abhängigkeitsformen sowie inter- und intra-disziplinär fehlende Übereinstimmungen hinsichtlich der Sucht- und Abhängigkeitsproblematik machen es schwierig, wenn nicht vielleicht sogar unmöglich, zu einem gemeinsamen Forschungs- und Diskussionsgegenstand zu kommen (Gross & Poppelreuter, 2000, S. XIV).

Um Unklarheiten vorzubeugen, hat bereits 1964 die Weltgesundheitsorganisation empfohlen, den Begriff Sucht durch die Termini Missbrauch und Abhängigkeit zu ersetzen (vgl. Grüsser & Thalemann, 2006, S.16). Drogensucht wird seither offiziell als Drogenabhängigkeit bezeichnet (vgl. Grüsser, & Thalemann, 2006, S.16). Weiter wird der Begriff (Drogen-) Abhängigkeit in psychische sowie physische Abhängigkeit unterteilt, wobei die Merkmale der körperlichen Abhängigkeit je nach Art der Droge unterschiedlich sind. Verhaltenssucht kann demnach weiterhin als Sucht bezeichnet werden. Um diese Abgrenzung zu übernehmen, wird im Folgenden der Begriff der „Sucht“ für Verhaltenssüchte und der Begriff der „Abhängigkeit“ für substanzgebundene Abhängigkeiten verwendet.

Diese Einteilung haben bereits Poppelreuter (1997), Gross (1995) und Kellermann (1987) vorgenommen, um eine etwas schärfere Trennung vorzunehmen und Unklarheiten zu vermeiden (vgl. Batthyány & Pritz, 2009, S. 3). Poppelreuter und Gross (2000) sind der Meinung, dass auf die Verwendung des Begriffes Sucht bewusst nicht verzichtet werden sollte, um eine Abgrenzung und Klarheit zu schaffen:

Ein erster Schritt in Richtung einer differenzierten und eigenständigeren Betrachtung stoffungebundener Suchtformen könnte die hier vorgeschlagene Verwendung des Suchtbegriffs ausschließlich für Symptomatiken und exzessive Verhaltensmuster, die nicht mit der Einnahme psychotroper Substanzen (…) in Zusammenhang stehen, darstellen (Gross & Poppelreuter, 2000, S.XVII).

2.1 Substanzgebunde Abhängigkeit

Stoffgebundene Abhängigkeitsformen sind an ein bestimmtes Mittel gebunden. Der Betroffene wird durch das Einnehmen der spezifischen Substanz in einen bestimmten Zustand versetzt wie etwa Erregung, Ekstase, Beruhigung, Ablenkung, Betäubung oder Rausch (vgl. March, 2004, S. 17). Diese Substanzen lassen sich in legale sowie illegale Drogen unterteilen. Drogen sind somit Substanzen, die auf das zentrale Nervensystem einwirken, und so in die natürlichen körperlichen Vorgänge eingreifen. Dabei können sie die Wahrnehmung von Sinneseindrücken, Gefühlen und Stimmungen beeinflussen. Durch diese wahrnehmungs- und bewusstseinsverändernden Wirkungen werden Drogen auch als psychoaktive Substanzen bezeichnet. Bei den legalen Drogen sind Substanzen wie Koffein, Nikotin, Alkohol und Medikamente (Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel) zu nennen . Zu den illegalen Drogen gehören Wirkstoffe wie Cannabis, Kokain, Heroin und Amphetamine. Diese Einteilung erfolgt aufgrund der Strafverfolgung in Deutschland, wobei nur Einnahme und Verkauf von illegalen Drogen zu einer Straftat führen (vgl. March, 2004, S. 17 ff.).

Die Weltgesundheitsorganisation definiert dagegen jede Substanz als Droge, „die in einem lebenden Organismus Funktionen zu verändern vermag" (Feuerlein, 1987, S. 4). So schließt die Weltgesundheitsorganisation auch die legalen Drogen in ihren erweiterten Drogenbegriff ein.

2.2 Rausch ohne Drogen - Verhaltenssucht

„Sucht ist primär ein psychologisches Problem. Als Problem existiert es ganz unabhängig von Suchtmitteln.“ (Weber, 1984, S. 173). Auch Müller & Tretter (2001) sind der Meinung, dass jede Art menschlichen Verhaltens in einen Rauschzustand führen kann. Stoffungebundene Suchtformen sind an bestimmte Verhaltensmuster des Süchtigen gebunden. Es werden keine psychotropen Substanzen von außen zugeführt, sondern der Effekt stellt sich durch körpereigene biochemische Veränderungen aufgrund der Ausübung eines exzessiven Verhaltens ein (vgl. Thalemann, 2009, S. 4). Abhängigkeiten und Rauschzustände werden vom Süchtigen durch bestimmte Tätigkeiten herbeigeführt. Unter einer stoffungebundenen Sucht versteht Alexander March „(…) den Zwang, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben bzw. sich in eine bestimmte Situation zu begeben und diese immer wieder aufzusuchen.“ (March, 2004, S. 17). Merkmal aller stoffungebundenen Suchtformen ist die exzessive Ausführung des Verhaltens über das normale Maß hinaus (vgl. Grüsser & Thalemann, 2006, S.19). Für Müller und Tretter (2001) müssen zwei wesentliche Merkmale menschlichen Verhaltens dem Suchtbegriff zugeordnet werden:

- übermäßiges Verhalten, vor allem in Hinblick auf Dauer, Intensität und/oder Häufigkeit verbunden mit der Minderung der Abstinenzfähigkeit sowie dem Kontrollverlust über die Verhaltensausübung,

- durch die Ausübung der Aktivität werden Lustzustände erzeugt oder aber Unlustzustände gemindert (vgl. Müller & Tretter, 2001, S.23).

Zu den stoffungebundenen Suchtformen zählen Medienabhängigkeit, Essstörungen, Kaufsucht, Spielsucht, Arbeitssucht, Sexsucht sowie Sportsucht (vgl. Batthyány & Pritz, 2009, S. V). Befriedigung erlangt der Betroffene durch die meist unkontrollierbare und unstrukturiert ablaufende Tätigkeit selbst (vgl. March, 2004, S. 17).

Die stoffungebundene Sucht beginnt mit dem Verlangen, eine Tätigkeit unbedingt ausführen zu wollen. Daraufhin muss allerdings das Verhalten länger, häufiger und intensiver durchgeführt werden, sodass die gewünschte Wirkung erhalten bleibt. Bei Konstanz des Verhaltens bleibt der gewünschte Effekt aus. Es treten dann bereits psychische Entzugserscheinungen auf, falls der exzessiven Verhaltensweise nicht nachgegangen werden kann. Der Betroffene erleidet nun einen Kontrollverlust über die Ausführung der Tätigkeit, er kann Häufigkeit, Dauer und Intensität in Bezug auf die Ausübung der Tätigkeit nicht mehr regulieren. In der letzten Phase wird das exzessive Verhalten weiter ausgeübt trotz bereits gesundheitlicher, sozialer oder berufliche Schäden (vgl. March, 2004, S. 18ff.).

Problematisch bei einem solchen Krankheitsbild ist vor allem, dass es bislang keine internationalen Kriterien zur Definition dieser Form von pathologischer Verhaltenssucht gibt. Eine Diagnosestellung ist daher eher schwierig, da „(…) gar nicht so einfach zu sagen [ist], wo „normales“ oder gesundes Verhalten aufhört und süchtiges Verhalten anfängt.“ (March, 2004, S. 22). March (2004) meint, dass auch die Häufigkeit und Menge einer Bewegungsaktivität nur bedingt Aufschluss über eine Suchtstruktur des Verhaltens geben können. Wenn ein Leistungssportler Trainingspensa von acht oder mehr Stunden absolviert, kann er trotz hohem Zeitaufwand nicht als sportsüchtig gelten (vgl. March, 2004, S. 22).

3. Theoriegeschichte der Laufsucht

Wie sich die Funktionen des Sports und der Sucht durch die Modernisierung änderte und es damit jeweils zu einem anderen Zusammenhang zwischen diesen kam, zeigte March (2004):

Tab. 1: Sich wandelnde Sucht- und Sportfunktion in der fortschreitenden Modernisierung[1]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.1. „positive addiction“

Das Phänomen der Sportsucht bzw. „exercise addiction“ wurde erstmals in einer Publikation von Baekeland (1970) behandelt. Er führte ein Experiment von Effekten der Sportdeprivation durch, an dem einige Sportler trotz finanzieller Entschädigung nicht teilnehmen wollten, da die Teilnahme einen Trainingsverzicht bedeutet hätte (vgl. Baekeland, 1970, S. 365 ff. , vgl. auch Bette & Gugutzer, 2002, S.108; Breuer & Kleinert, 2009, S. 191 f.; Grüsser & Thalemann, 2006, S. 97). Baekeland (1970) schloss daraus, dass es zu einer suchtähnlichen Abhängigkeit von exzessiven Sporttreiben bei diesen Akteuren gekommen ist. Glasser (1976) definierte erstmalig die Sportsucht als „positive addiction“.

It seemed that a positive addiction was something a person chose to do, did by himself/herself, and did it on a regular basis. Then sometime later, the person who became so hooked into doing it that if he/she tried to stop it, he/she suffered withdrawal symptoms. On the other hand, unlike common addictions like alcohol and other drugs, gambling, and overeating, this was an positive addiction in that it undoubtedly made the person stronger (Glasser, 1977, S. 5).

Sportsucht, unter die auch die Laufsucht fällt, stellt für Glasser (1976) eine positive Sucht dar, da diese dem Betroffenen psychischen und physischen Nutzen bringt anstatt ihm zu schaden. Positive Sucht entsteht demnach durch Aktivitäten wie Laufen, die gut für den Menschen sind, wohingegen eine negative Sucht durch schädliche Stoffe wie Drogen entsteht (vgl. Grüsser & Thalemann, 2006, S.97).

3.2. „negative addiction“

Morgan (1979) widersprach drei Jahre später der Definition von Glasser, da die Sportsucht (Laufsucht), wie stoffgebundene Abhängigkeiten, mit negativen Auswirkungen für den Betroffenen verbunden sein kann. Nach Morgan (1979) handelt es sich bei der Laufsucht somit um eine negative Suchtform, da der Betroffene trotz negativer Auswirkungen auf seine Gesundheit auf die Ausübung der sportlichen Aktivität nicht verzichten kann. Morgan (1979) orientierte sich erstmals an den klassischen Kriterien der Abhängigkeit und definierte die Laufsucht demnach als Zustand, wobei der Süchtige zwanghaft seinen Sport betreiben muss, da ansonsten Entzugssymptome wie depressive Stimmung, Aggressivität und Unruhe auftreten.

Morgan meint, dass es zwei Voraussetzungen für eine Laufsucht gibt:

„(…) dependence was present if two requirements are met. First, the individual must require daily exercise in order to exist or cope: the runner cannot live without running. Second, if deprived of exercise, the individual must manifest various withdrawal symptoms (e.g. depression, anxiety or irritability).” (Morgan, 1979, S.61).

Nach Morgan (1979) kommt es bei einer Sportsucht daher zu einer Symptom-Trias bestehend aus Entzugssymptomen, Zwanghaftigkeit und Konflikten mit dem sozialen oder beruflichen Umfeld. Für Morgan gibt es daher keinen Unterschied zwischen einer Sportsucht (Laufsucht) und einer Abhängigkeit nach einer chemischen Substanz. Eine solche Sucht hat die gleichen Auswirkungen (Auftreten von Entzugssymptomen und Toleranzentwicklung) wie eine stoffgebundene Abhängigkeit. Falls ein Betroffener das Laufen nicht ausführen kann, treten Entzugssymptome wie Depression, Angst und Irritation auf. Diese werden von Rastlosigkeit, Schlaflosigkeit und genereller Müdigkeit begleitet (vgl. Morgan, 1979, S.61). Außerdem interessieren sich Betroffene weniger für Familien- sowie Arbeitsangelegenheiten, so Morgan (1979). Auch Sachs (1981) definiert die Laufsucht als einen psychophysischen Zustand, in dem sich der Betroffene nach 24-36 Stunden Abstinenz vom Laufen zurückzieht, ängstlich oder irritiert ist, Schuldgefühle entwickelt sowie unter Spannungszuständen, Muskelzuckungen und Übelkeit leidet.

Many millions will adhere to a regular program of running, will continue for month or years, through all kinds of injuries, weather, family turmoil, travels or whatever. These runners are well on their way to becoming, if they are not already become, addicted (Sachs, 1981, S.116).

Sachs (1981) ist der Ansicht, dass die positive Laufsucht „ positive addiction“ eine Vorstufe der negativen Laufsucht „negative addiction“ ist und ein Läufer von dem einen Stadium zum anderen etwa vier Monate bis zwei Jahre benötigt.

3.3. „primary or secondary exercise addiction”

De Coverley Veale (1987) hat eine Einteilung der Sportsucht in „primary or secondary exercise dependence“ vorgenommen. Er baute dieses Konzept auf, um den Hintergrund der jeweiligen Art von Sucht zu beleuchten: „A distinction should be made between primary exercise dependence and exercise dependence which is secondary to an eating disorder.“ (De Coverley Veale, 1987, S. 737). Primäre Sportsucht definiert er als extremes Sporttreiben, wobei Leistungssteigerung stets im Vordergrund steht. Diese Leistungssteigerung kann auch mit intensivem Bemühen um ein geringes Gewicht einhergehen: „In primary exercise dependence, the exercise is an end in itself and the dieting and weight loss is used to improve performance.“ (De Coverley Veale, 1987, S. 738). Nur der negative Einfluss des Gewichts auf die Leistung steht demnach bei einer primären Sportsucht im Vordergrund, es werden aber nicht die wesentlichen Merkmale einer Anorexia Nervosa erfüllt (vgl. Allmer et al., 2000, S. 199). De Coverley Veale (1987) definierte auch Diagnosekriterien für die primäre Sportsucht. Diese überarbeitete er 1995, da die Kriterien bis dahin auch auf Übertraining zutrafen, und daher in der Kritik standen. Seit 1995 lauten Veales überarbeitete Kriterien für eine Laufsucht (Sportsucht) wie folgt:

(1) preoccupation with exercise which has become stereotyped and routine;
(2) significant withdrawal symptoms in the absence of exercise (e.g. mood swings, irritability, and insomnia);
(3) the preoccupation causes clinically significant distress or impairment in their physical, social, occupational, or other areas of functioning; and
(4) the preoccupation with exercise is not better accounted for by another mental disorder (e.g. means of losing weight or controlling calorie intake as in an eating disorder) (Veale, 1995, S. 3).

„Primary exercise addiction“ stellt somit ein eigenständiges Krankheitsbild dar, wohingegen die sekundäre Sportsucht eher als ein Begleitphänomen anderer Störungen anzusehen ist.

Die sekundäre Sportsucht gilt als Folge einer psychischen Erkrankung, allen voran einer Essstörung, während die primäre Sportsucht pathogenetisch nicht an eine andere Störung gebunden ist (Bette & Gugutzer, 2002, S. 117).

Der sekundären Sportsucht sind insbesondere Essgestörte zuzuordnen, die die Kriterien einer anorektischen oder bulimischen Erkrankung aufweisen (vgl. Breuer & Kleinert, 2009, S. 199). Die Betroffenen wollen durch sportliche Aktivität wie Ausdauerlaufen vor allem Kalorien verbrennen, um ihr Gewicht weiter zu reduzieren. Der Sport dient somit nur als Mittel zum Zweck. 1993 wurde der Begriff „anorexia athletica“ geprägt (vgl. Sundgot-Borgen, 1993, S.3 ff.). Als Anorexia athletica beschreiben Allmer et al. (2000) das Zwischenstadium vom exzessiven Sporttreiben zur Anorexia Nervosa. Auch March (2004) ist der Ansicht, dass durch allgemeine und sportimmanente soziale Erwartungen und konkretem Druck bei leistungsorientierten Sportlern das Streben nach einem geringeren Gewicht an Bedeutung gewinnen kann.

4. Literaturreview

Das Ziel der Literaturrecherche war die Identifikation von Artikeln und Monographien, die sich mit dem Thema und der Definition der Laufsucht befassen und dieses bestenfalls auch auf empirischer Basis untersuchten. Es wurden daher besonders sportwissenschaftliche Definitionen einer Laufsucht sowie die empirische Untersuchung dieser Definitionen gesucht, wobei besonderen Wert auf die Diagnosekriterien gelegt wurde. Die Literaturrecherche wurde vor allem anhand des Literaturkataloges (plus) der Technischen Universität Dortmund durchgeführt. Neben diesem wurde das Recherchesystem Sport des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp-Recherchesystem Sport: SPOLIT, SPOFOR, SPOMEDIA) sowie das Recherchesystem der US National Library of Medicine National Institutes of Health (PubMed) genutzt. Zusätzlich wurde über scholar.google.com weitere sportwissenschaftliche Literatur generiert. Die Suche wurde außerdem nach dem Schneeballsystem ergänzt. Es wurden zunächst die Schlagworte Laufen, Sport, Sucht sowie Abhängigkeit kombiniert. Über diese Schlagwortkombinationen konnten allerdings nicht genügend passende Arbeiten ausfindig gemacht werden, da die deutsche Literatur zu diesem Thema wenig ausgeprägt ist. Deutsche Arbeiten verwiesen aber immer auf die englischsprachige Literatur, die sich bei der Definition bzw. Benennung des deutschen Begriffes „Laufsucht“ nicht auf einen englischen Begriff einigen kann. Es wurde dann ebenfalls nach den englischsprachigen Begriffen wie positive, negative, running und exercise gesucht, die jeweils mit den Begriffen addiction, dependence, deprivation und commitment kombiniert wurden. Zusätzlich wurden die Schlagworte questionnaire und scale ergänzt, um die Recherche in die Richtung von empirischen Studien mit Fragebögen zu lenken. Dabei wurden auch Arbeiten ohne empirischen Hintergrund (bzw. die sich auf die empirischen Arbeiten anderer Autoren bezogen) gefunden, die sich mit der Darstellung und Definition einer Laufsucht (Sportsucht) befassten. Um die gefundene Arbeit in die Literaturauswahl zu übernehmen, sollte diese eines der Schlagwörter oder eine semantisch entsprechende Form im Titel oder im Abstract aufweisen.

Die gefundene Arbeit musste eine empirische Studie sein, die sich bestenfalls auf die Laufsucht und deren Diagnosekriterien bezog und diese in ihren verschiedenen Ausmaßen beleuchtete. Es wurden besonders Arbeiten gesucht, die die negativen Auswirkungen einer solchen Sucht untersuchten, um über diese dann die Diagnosekriterien erarbeiten zu können. Arbeiten, die sich mit der Eruierung und Validierung von diagnostischen Messinstrumenten für die Laufsucht (Sportsucht) befassten, wurden ebenfalls bevorzugt, da diese stets auf kriteriengeleiteten Definitionen beruhten. Auch Studien zum allgemeineren Begriff der Sportsucht wurden nicht gänzlich ausgeschlossen, da es sich dabei meist um Studien handelte, die sich (fast hauptsächlich) mit der Sucht nach der Sportart „Laufen“ befassten. Andere empirische Arbeiten, die sich hauptsächlich mit der Sucht nach einer anderen Sportart beschäftigten, wie beispielsweise dem Jiu-Jitsu (vgl. Griffiths, 1997), wurden nicht weiter berücksichtigt. Auch Arbeiten, die sich mit der sekundären Sportsucht als Folge einer Essstörung befassten (die den Sport lediglich exzessiv nutzten, um ihr Gewicht weiter zu reduzieren), wurden ausgeschlossen. Zur Auswahl der weiteren Literatur war die Arbeit von Hausenblas & Symons Downs (2002a) besonders hilfreich, da sie einen Überblick über die bis dahin durchgeführten Arbeiten zu Sportsucht „exercise dependence“ gibt.

Die Literaturanalyse zeigte zunächst, dass sich die ausgewählten Arbeiten durch die zugrundeliegenden Definitionen von Laufsucht unterteilen lassen. Die Autoren nutzten ihre empirischen Arbeiten um ihre jeweilige Definition zu fundieren und weiter auszuarbeiten. Ihren Arbeiten legten einige Autoren die Definition von Glasser (1976) „positive addiction“ für Laufsucht zugrunde (Sachs & Pargman, 1979; Carmack & Martens, 1979). In anderen Arbeiten wurde dagegen die Definition von Morgan (1979), „negative addiction“ (vgl. Hailey & Bailey, 1982; Rudy & Estok, 1983, 1987, 1989, 1990; Chapman & de Castro, 1990) oder die Definition von de Coverley Veale (1987) „primary and secondary exercise dependence“ (Odgen, Summers & Veale, 1997) verwendet. Zwei Studien (Thaxton, 1982; Machin, Sargent & Summer, 1983) bedienten sich ebenfalls der Definition „positive addiction“ und dem dazu entwickelten Fragebogen „Commitment to running Scale“, verfolgten jedoch die Absicht, aufzuzeigen, dass die Definition nicht haltbar ist und weiterentwickelt bzw. verändert werden muss. In den späteren empirischen Arbeiten wurde eher davon ausgegangen, dass die Laufsucht (Sportsucht) einer Substanzabhängigkeit gleicht und es wurden die bislang bekannten Definitionen zwar aufgezeigt, aber durch die Kriterien der American Psychatric Association (APA) und der World Health Organization (WHO) für Substanzabhängigkeit ergänzt (Mondin et al., 1996; Drescher et al., 2013).

Die siebzehn ausgewählten Studien werden in der folgenden Tabelle nach Jahren sortiert aufgezeigt:

Tab. 2: Ausgewählte empirische Arbeiten zum Thema Laufsucht nach Jahren sortiert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] In Anlehnung an March, 2004, S. 313.

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Laufsucht. Untersuchung ausgewählter Studien zur Ableitung der Diagnosekriterien
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Sportinsitut)
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
58
Katalognummer
V322209
ISBN (eBook)
9783668218246
ISBN (Buch)
9783668218253
Dateigröße
773 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sport, Laufen, Sucht, Laufsucht, Diagnose, running addiction, running, Diagnosekriterien, Studien Laufsucht, Sportsucht
Arbeit zitieren
Sabrina Wicht (Autor:in), 2016, Laufsucht. Untersuchung ausgewählter Studien zur Ableitung der Diagnosekriterien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/322209

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