Die fabelhafte Welt des Konsums, seine globalen Auswirkungen und die Notwendigkeit einer neuen Kritik

Das will ich haben! ...oder doch nicht?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

38 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Traumwelt Konsum
2.1 Die moderne Sterblichkeit
2.2 Konsum als Geburtlichkeit
2.3 Konsum als Spiegel des Epochenwandels

3 Traumfabrik Marketing
3.1 „Das sollt ihr haben wollen!“
3.2 Branding als Lauffeuer

4 Abfall(-)Produktion

5 Recycling-Kritik
5.1 Globales Bürgertum statt Traditionslosigkeit
5.2 Interne Konsumkritik

6 Schlusswort: Wider die Mutlosigkeit

Quellenangaben

Abbildungsverzeichnis

Videoverweise

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Es ist ein Irrtum zu denken, dass sich Überflusskonsum bewusst und somit aus materieller Habgier heraus vollziehe. Wir, deren existenzielle Grundlage weitest-gehend abgesichert ist, kaufen nicht vordergründig Dinge, die wir eigentlich nicht brauchen. Der Konsum dient einer anderen Facette unserer Existenz. Er gleicht einem Traum, einem Zusammenspiel aus Symbolen, reinen Möglichkeiten, Instant-Identitäten, Wünschen und Phantasiewelten, in dem die gekauften Dinge als solche kaum noch zur Erfahrung kommen.

Und die Traumfabriken träumen mit uns: Da sich der Verkaufswert eines Produkts nicht nach seinen materiellen Eigenschaften, sondern nach seiner Funktion als Projektionsfläche bemisst, hat sich die Primärproduktion vieler Unternehmen auf die Ebene der Imageentwicklung verlagert. Marketing ist nicht länger Mittel zum Verkauf von Produkten, sondern Kernstück der modernen Unternehmensphilosophie, während die Herstellung der Produkte in wirtschaftlich weniger fordernde Länder verlagert wird. So wird der Traum global, multinational. Doch ist der Stoff, aus dem die Träume gemacht sind für manche eben nur Stoff, der unter menschunwürdigen Bedingungen zusammengenäht werden muss.

Das globale Ungleichgewicht an individueller Existenzmöglichkeit, das unsere Konsumkultur mit sich bringt, ist vielen dank einer medialen Harte-Fakten-Kritik bekannt. Der Weckruf, den dieses Wissen darstellen sollte, wurde jedoch in Form von Fairtrade- und Biosiegeln lediglich zu einer weiteren Komponente der Imageproduktion umgewandelt, sodass scheinbar reibungslos weitergeträumt werden kann.

Ist Kritik also machtlos gegenüber dem Marketing, welches scheinbar auch jeglichen Ausdruck von Empörung als Mode interpretieren und für seine eigenen Zwecke transformieren und absorbieren kann? Was kann Kritik der Bewusstseinsusurpation durch multinationale Konzerne entgegensetzen? In welcher Gestalt muss sie auftreten, um aus einem träumenden Konsumenten einen aufgeklärten globalen Bürger zu machen?

Von diesen Fragen motiviert, soll diese Arbeit keine Anleitung zum zivilen Ungehorsam, sondern einen phänomenologischen Zirkel darstellen, der vom Moment ausgeht, in dem der Konsument gegenüber einem Produkt denkt: „Das will ich haben!“ und dessen Gehalt, Ursachen, Auswirkungen und Andockstellen für Kritik ausfindig macht, um anschließend eben kritikfähiger in jenen Moment zurückzukehren.

Wenn Raum für Kritik zu schaffen ebenfalls ein Teil von Kritik ist, so versteht sich diese Arbeit als Beitrag zu jenem Teil, und die Raumschaffung wird sich dabei entlang folgender Fragen vollziehen:

1. Was kaufen wir wirklich und warum? Unter dem Titel Traumwelt Konsum werde ich in diesem Abschnitt aus einer phänomenologischen Perspektive heraus den Moment der Kaufentscheidung des Konsumenten untersuchen, indem ich die Begriffe Konsument und Produkt sowohl im Einzelnen als auch in ihrer Verbindung erläutern werde. Hierbei werde ich mich vor allem auf eine Rekonstruktion von Wolfgang Ullrichs Habenwollen (HW1 ) beschränken.
2. Wie wird verkauft? Unter dem Titel Traumfabrik Marketing werde ich in diesem Abschnitt das Phänomen des Marketings in seinem Bezug auf die Konsumwelt untersuchen und mich überdies der Frage widmen, inwiefern das Wesen des Konsumierens rückwirkend die gegenwärtigen Unternehmens- und Marketingstrategien modifiziert. Den Überlegungen Ullrichs zu diesem Thema werde ich hierzu ergänzend und kontrastierend Gedanken aus Naomi Kleins No Logo! (NL) sowie Beiträge aus der modernen Marketingliteratur heranziehen.
3. Wie wird hergestellt? Unter dem Titel Abfall(-)Produktion bleibe ich bei Naomi Klein als Informationsquelle, um zu zeigen wie sich der durch das Konsumentenverhalten bedingte Fokus der Unternehmensstrategien auf Marketing wiederum auf die Produktherstellung und die globalen Arbeitsverhältnisse (und somit auf die Konsumenten selbst) auswirkt.
4. Was bewirkt Kritik? Die Kritik, die diese Arbeit darstellt, soll in diesem Abschnitt selbst beleuchtet werden, um herauszufinden, welche Rolle Kritik im zuvor beschriebenen konsum-wirtschaftlichen Kreislauf spielt, welche Bewusstseinsräume sie einnehmen oder erst schaffen und inwiefern sie konkreten Einfluss nehmen kann. Unter dem Titel Recycling-Kritik soll eine Antwort auf die Frage versucht werden, ob Kritik heutzutage nur noch die Funktion einer Wiederverwertung des „Abfalls“ der Marktwirtschaft einnehmen kann oder das Potenzial besitzt, einen neuen Kreislauf in die Wege zu leiten. Ausgehen werde ich in diesem Abschnitt von Foucaults Was ist Kritik?

Parallel zu allen Überlegungen werde ich stets Aussagen der (alten) Kritischen Theorie (insbesondere aus der Dialektik der Aufklärung (DdA) von Horkheimer / Adorno) heranziehen, um zu prüfen, inwieweit diese im Zeitalter der Globalisierung hilfreich, aktualisierbar oder unzutreffend sind.

2 Traumwelt Konsum

„Das will ich haben!“ Dieser Satz ist Ausdruck des Moments, in dem sich der Mensch in einem Zustand befindet, in welchem sich sein Bewusstsein um ein bestimmtes Objekt zentriert, in dem er ganz Beziehung zu diesem Objekt ist. Der Wille findet sein Ziel, die Probleme ihre Lösung – in der Möglichkeit, die der mögliche Besitz des Objekts mit sich bringt. Vielleicht ist es nur ein Moment, der augenblicklich wieder vergeht, ein Moment, der scheinbar von nichts Realem, nichts Greifbarem erfüllt ist, sondern lediglich von der Möglichkeit einer Möglichkeit. Trotzdem ist er zu einem der wichtigsten Momente unserer Gegenwart geworden, nämlich dem, in welchem ein Objekt zum Wunschobjekt und der Mensch, dessen Wünschen sich auf das Objekt richtet, zum Konsumenten wird. Es ist der Moment des Habenwollens.

Gerade weil das augenblickliche Aufkommen des Habenwollens den Konsumenten so scheinbar unvermittelt und oftmals selbst unartikuliert vereinnahmt, sodass der darauf folgende Kauf (als Epiphänomen des Habenwollens) nur mit Hilfe vorhergehender Überlegung (und zumal gar nicht) erklärt werden kann, ist es wichtig, Licht auf die Entstehung jenes Moments zu werfen. Es handelt sich dabei nämlich nicht nur um ein Ereignis, für dessen Entstehung die Anbieter des Wunschobjekts mitunter Beträge in Millionenhöhe investiert haben2, sondern ebenso um ein ganzheitlich existenzielles, bei dem alle Facetten des menschlichen Daseins in einer besonderen Konstellation zusammenspielen und auf ein Grundproblem antworten, das das gegenwärtige Selbstbild des Menschen mit sich bringt.

Der Erläuterung des existenziellen Charakters des Habenwollens soll die folgende Rekonstruktion3 von Wolfgang Ullrichs gleichnamigem Werk dienen.

2.1 Die moderne Sterblichkeit

„Die Lebenserwartung der Menschen hat durch die Individualisierung erheblich abgenommen. [...] Das Individuum kann sich nicht damit trösten, in einem nahezu unsterblichen Familienkörper aufzugehen, sondern es weiß: Alles, was es hat, ist sein kurzes, verletzliches Leben.“ (HW, S. 26)

Ohne eine Genealogie des Identitätskonzepts selbst anzuführen, konstatiert Ullrich die Individualisierung als Kernereignis für die Zeitenwende bzw. den Anbruch der Moderne4 der Dingkultur. Dass er hierbei vom Wandel einer Kultur (und nicht nur einer Beschaffenheit oder eines Umgangs) spricht, lässt sich dadurch erklären, dass die Beziehung des Menschen zu Dingen bereits vor der Individualisierung über den Bereich einer reinen Zweckmäßigkeit hinausging und ebenso eine symbolische Komponente besaß: „Jedes Ding von Alter konnte zum Symbol der Familienewigkeit werden: Es zu gebrauchen hieß, den eigenen, begrenzten Horizont zu überschreiten und sich als Emanation eines Größeren zu erleben.“ (HW, S. 27) Es schien dem Wesen des Menschen also schon vorher zu eignen, sein Selbstbild (mitsamt seiner Beziehung zur Außenwelt und zu seinen Mitmenschen) in die ihn umgebenden Dinge zu projizieren. Der Wert des Dingbesitzes richtete sich somit nicht allein nach Maßstäben der Nützlichkeit, sondern hatte seinen Ursprung ebenfalls in einer persönlichen Beziehung des Besitzers zum Ding.5 Auch wenn das Familienerbstück dem Einzelnen gerade als Spiegel dafür diente, sich selbst zu transzendieren, handelte es sich dennoch um ein persönliches, nicht von anderen (höchstens den eigenen Geschwistern) einnehmbares Verhältnis.6

Das Bedürfnis nach Dingen, deren Besitz nicht lebensnotwendig ist, war also schon vor Anbruch der Moderne in größtenteils latenter, nur geringfügig ausgeprägter Weise im Menschen vorhanden. Damit sie sich zu unserer heutigen Konsumkultur ausartikulieren und darin eine gewisse Eigendynamik entwickeln konnten, bedurfte es laut Ullrich einerseits einer Gesellschaft, die sich über die Notwendigkeiten des Tauschhandels erhoben hat und in der zumindest eine Schicht so weit mit lebensnotwendigen Gütern versorgt ist, dass sie den Raum hat, Wünsche zu entfalten und zu befriedigen. Andererseits bedurfte es einer neuen Dringlichkeit zur Entwicklung der Wünsche, die im Konsum ihre Erfüllung finden. Eine solche lieferte die Individualisierung der Moderne, in der das Prinzip der „Gemeinschaft“ größtenteils durch das der „Gesellschaft“ ersetzt wurde7, in welcher der Einzelne – losgebunden von Tradition, Familie und kommunaler Gemeinschaft – dazu aufgerufen wurde, sich aufgeklärt „seines eigenen Verstandes zu bedienen“8. Mit dieser neuen Dimension an Selbstverantwortung ging für das Individuum nicht nur die Aufgabe einher, sich selbst von Null auf zu erfinden und darin noch einen Wettbewerbsvorteil vor den anderen Mitgliedern der Gesellschaft zu erlangen (ob nun wirtschaftlich oder sozial), sondern überdies ein neues Verhältnis zur Zeit: Selbst nicht weiter aus einer Tradition heraus geboren, starb der Einzelne nun auch nicht mehr in eine Tradition hinein, sondern nahm die ganze Wirklichkeit mit sich ins Grab. Die Teilhabe an der Ewigkeit wurde durch die moderne Sterblichkeit ersetzt. Noch weniger erträglich wurde diese zeitliche Daseinsbeschneidung durch ein weiteres Element des modernen Zeitgeists: den Fortschrittsglauben. In einer ewig sich weiterentwickelnden Welt erhascht der Vereinzelte „von dem, was das Leben des Geistes stets neu gebiert, ja nur den winzigsten Teil und immer nur etwas Vorläufiges, nicht Endgültiges, und deshalb ist der Tod für ihn eine sinnlose Begebenheit.“9 Mehr noch: sein Leben wird zu einer sinnlosen Begebenheit. Um einer nihilistischen Starre vorzubeugen, ist also eine gewisse Sinn- oder zumindest Trostquelle vonnöten – und für eine säkularisierte Gesellschaft von Individuen sogar eine ganze Trostmaschinerie: eine solche stellt der Konsum dar.

2.2 Konsum als Geburtlichkeit

Kehren wir zurück zum Moment „Das will ich haben!“ bzw. zum Habenwollen. Mit der Analyse der neuen Sterblichkeit haben wir nun das Subjekt, das „Ich“ dieser speziellen Beziehung bezüglich einiger seiner Wesenszüge beleuchtet. Es ist individualisiert, begreift sich als Einzelperson, die aufgrund ihrer Verfügung über ihren eigenen Verstand verantwortlich für ihre Handlungen und Entscheidungen ist. Zudem unterliegt es in dieser Selbstverantwortlichkeit einem Konkurrenzdruck, da es sich in einer Gesellschaft ebensolcher Individuen mit scheinbar grenzenlosen Bedürfnissen aber begrenzten Ressourcen befindet. Alle Kraft- und Zeitinvestition, die die individuelle Selbstverantwortung fordert, erscheint hingegen nichtig in Anbetracht der neuen endgültigen Sterblichkeit, die das eigene Leben auf eine begrenzte Zeitspanne reduziert, deren Inhalte innerhalb eines ewigen Fortschritts früher oder später keinerlei Bedeutung mehr haben.

Das „(Ich) will“ des Habenwollens, solange es noch unartikuliert, reiner Impuls ist, stellt also ein Lösenwollen der Probleme dar, die die Selbstverantwortung und die moderne Sterblichkeit aufwerfen. In Bezug auf letztere nimmt sich die Lösung so aus, dass das Subjekt – dann als Konsument – versucht, den Zeitpfeil, der das eigene Leben unaufhaltsam auf den alles nichtenden Tod zutreibt, umzukehren und sich in einen Ermöglichungsgrund des Neuanfangs der eigenen Identität und Lebensgeschichte zu manövrieren, in den es immer wieder zurückkehren kann. Statt sein eigenes Leben als einziges und endliches zu akzeptieren, versucht sich das Individuum durch Multiidentität und fortwährenden Neubeginn der individuellen Lebensgeschichte gegenüber jenem Schicksal zu transzendieren. Als Gegenentwurf zur modernen Sterblichkeit nenne ich diesen Zustand Geburtlichkeit.10 Inwiefern sich dieser Zustand im Konsum erfüllt, will ich nun erläutern.

„Die Konsumwelt ist zu einer großen Fürsorgemaßnahme für das Individuum geworden.“ (HW, S. 34) Im Grunde kompensiert sie alle Mängel, die das moderne Selbstbild des Menschen mit sich bringt. Als Konsument wird sich der moderne Mensch selbst zum Arzt. Das unartikulierte „Ich will“ bekommt sein Ziel, sein „Das“, und die mögliche Verbindung zu diesem „Das“, dem Konsumprodukt, ist der Besitz, das „Haben“. Wie aber kann dieses „Das“ – als materiell hergestelltes Produkt – eine Lösung für existenzielle, nicht-materielle Probleme11 darstellen? Indem es dem Konsumenten gerade nicht vordergründig in Form seiner materiellen und funktionalen Eigenschaften erscheint, sondern ihm vielmehr als Projektionsfläche für Wünsche und Instant-Identitäten12 dient, welche durch den Kauf für ihn frei geschaltet werden.

So kann z. B. Kleidung dazu dienen, ihren Träger kurzerhand einer bestimmten Gruppe zugehörig erscheinen zu lassen bzw. ihm dem Anschein nach eine gewisse Haltung dem Leben gegenüber auferlegen: Anzugträger erscheinen seriös und karrierebewusst; ein schwarzer Rollkragenpullover wirkt auch noch 50 Jahre nach der Blütezeit der Existenzialismus-Popkultur intellektuell; bei jemandem, der eine Bomberjacke und Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln trägt, muss man – vorsichtig – nachfragen, ob dieser Mensch nun ein Nazi oder ein Oi!-Punk ist; und wer bei „Chapati“ Kleidung kauft, hat die Wahl, damit in eine Lebenswelt einzutauchen, die entweder „klassisch märchenhaft, sportlich elegant oder gotisch verträumt“13 ist. Lebensmittelprodukte, die das Wort „Fitness“ in ihrem Namen tragen, verleihen ihrem Käufer ein körperfigurbewusstes Selbstbild.

Mit jeder konsumierten Instant-Identität findet ein Neuanfang der eigenen Lebensgeschichte statt, der darin doppelt der modernen Sterblichkeit entgegensetzt ist, dass es sich um einen Neuanfang einer Identität handelt, die nicht zu Ende gelebt werden muss (also keinen Tod beinhaltet), sondern ebenso unverfänglich vergeht wie sie entstand. Darüber hinaus besitzen die über Produkte konsumierten, ephemeren Identitäten aufgrund ihrer zeitlichen Diskontinuität nicht das Merkmal der Ausschließlichkeit: Dem Konsumenten steht es offen, unter der Woche wie ein Vollzeit-Business-Man und am Wochenende als Abenteurer oder Drag Queen der Welt entgegenzutreten. So gelingt es dem lebenszeittechnisch beschnittenen Individuum sich womöglich nicht über den Tod, jedoch über die Singularität der eigenen Identität hinaus zu transzendieren: anstelle von ewigem Leben mehrere Leben gleichzeitig, Pluralität statt Kontinuität, Selbstentfaltung statt Selbstfindung.

Die Überschreitung der eigenen Grenzen wird auch durch das Haben komplizierter technischer Geräte – insbesondere Computer und Smartphones – ermöglicht: Der Benutzer verfügt über die Technik, als sei sie eine Verlängerung seiner selbst (verstärkt wird dieser Effekt durch Personalisierungen der Benutzeroberflächen sowie der Internet-Accounts und -Profile, zu denen der Besitz des Geräts die universale Eintrittskarte darstellt), deren Funktionen und Möglichkeiten er jedoch niemals gänzlich ausschöpfen kann. So verschmilzt er mit einer Unendlichkeit an kombinatorischer Potenzialität.

Konsumprodukte können ebenso Manifestationen von Werten darstellen: die Waage als Moral, der Wecker als Autorität, die Gauloises-Zigarette als liberté. Das ausschlaggebende Merkmal der Produkte als Wertmanifestationen ist hierbei, dass ihre Anschaffung nicht notwendig ist. Der Konsument verfügt scheinbar darüber, welche Werte er in seinem Leben herrschen lässt und wie lange.

Althergebrachte ideale Merkmale wie Jugend, Schönheit oder Männlichkeit sprechen auf neue Weise an, indem sie sich dem Konsumenten als Produkte präsentieren, die nicht nur jene Merkmale verleihen, sondern auch selbst in Reinform besitzen: Die Anti-Falten-Crème verspricht nicht nur zu verjüngen, sondern erscheint in ihrer Verpackung und auf dem Werbeplakat so unbefleckt und neugeboren, dass der Verbraucher in seiner Erscheinung ihrem Ideal entgegenstrebt. Hierfür muss er sich jedoch ihrem materiellen Wesensgrund annähern, er muss eine „Mimesis ans Tote“14 vollziehen.

Marken hingegen betitelt Ullrich als „Elite der Dingkultur“: „Mit ihnen lassen sich Lebensgefühle ausdrücken, sie dienen der Selbstvergewisserung, durch sie kann man zu einem markanteren Profil gelangen, sie öffnen Horizonte und machen optimistisch.“ (HW, S. 35) Das Imagedesign der Marken sei darauf angelegt, die Marke zu vermenschlichen, damit sich der Konsument mit ihr identifizieren könne. Dass das Prinzip Marke jedoch eher darauf abzielt, eine ganze Lebenswelt auszumachen, die dem Konsumenten seine Identität – unbemerkt alternativlos – vorgibt, werde ich im Abschnitt 3.2 zeigen.

Diese Beispiele sollten verdeutlichen, „dass die moderne Konsumgesellschaft gerade nicht materialistisch ist, bringt sie doch Dinge hervor, die vor allem in Phantasien und als Sinnstiftung eine Rolle spielen. Ihre materiellen Eigenschaften beeinflussen eine Kaufentscheidung oft weniger als ihre Eignung, die Einbildungskraft des Käufers oder Besitzers zu stimulieren[.]“ (HW, S. 30) So hoffe ich nun auch sowohl den Gehalt des „Das“ als auch des „Habens“ des Satzes „Das will ich haben!“ beleuchtet zu haben, indem ich das Wesen des Konsumprodukts in seiner Beziehung zum Konsumenten beschrieb. Währenddessen sollte jedoch ebenfalls angeklungen sein, dass Ullrichs Bezeichnung „Moderne Konsumgesellschaft“ irreführend ist. Das Habenwollen der Konsumkultur stellt längst nicht mehr eine Ausgleichsreaktion auf die existenziellen Nötigungen der Moderne dar, sondern besitzt eine Eigendynamik, die wiederum Ausdruck einer anderen größeren Strömung ist: der Postmoderne.

2.3 Konsum als Spiegel des Epochenwandels

Was charakterisiert einen Epochenwandel? Eine neue Epoche tritt zunächst stets als Kritik der bis dato vorherrschenden auf.15 Um daraufhin selbst zu einer Epoche, einer maßgebenden Geistesströmung zu werden, muss sie das Dasein als reine Kritik überschreiten und die grundlegenden, existenziellen Probleme der vorhergehenden Epoche auflösen, um sie durch andere zu ersetzen. So wird mit jeder Epoche der Keim ihrer Kritik gleich mit entworfen, ihr Entstehen determiniert ihr Vergehen. Denn gilt für die sogenannte Geistesgeschichte das Gleiche wie in der Chaostheorie: „[D]as Ungleichgewicht verursacht den Ausgleich und dieser verändert das Ungleichgewicht.“16 Übersetzt: Die existenziellen Probleme einer Epoche verursachen eine grundlegende Kritik und diese verändert die existenziellen Probleme.

Werfen wir unter diesen Voraussetzungen einen erneuten Blick auf die Entstehung der Konsumkultur: Auf ihr hausgemachtes Nihilismusproblem durch den Widerstreit zwischen der neuen Sterblichkeit des Individuums und dem Fortschrittsglauben des gesellschaftlichen Bewusstseins antwortete die Moderne auf vielerlei Weise. Den wirksamsten Trost fand der Einzelne jedoch durch die Kunst: In ihr fand er ein Schutzmilieu vor seinem eigenen Schicksal; die eigene Identität vergessend, fand er sich dennoch auf intime Weise als Teil eines abgeschlossenen Größeren wieder. Zudem kommt der Kunst laut Kant die Eigenschaft einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“17 zu: Sie gibt eine Richtung vor, aber kein Ziel, sodass das Individuum mit ihrer Hilfe wenigstens kurz in Gedanken aus seiner einspurigen Lebensgeschichte ausscheren kann.

Eine phänomenale Strukturgleichheit zwischen Kunst und gegenwärtigem Konsumprodukt ist unverkennbar. Mit der Verbreitung der industriellen Produkt-herstellung und der darauf folgenden Transformation der Marketingstrategie, die ich im folgenden Abschnitt beschreiben werde, konnte das phänomenal bereits vorhandene Konsumbedürfnis im neuen Produktangebot seine Befriedigung finden. Natürlich war schon vor der Moderne ein Kunstverständnis vorhanden. Das, worauf die Konsumkultur letztlich die Antwort darstellte, war jedoch ein notgedrungenes Kunstbedürfnis, welches die Kunst bereits modifiziert, ihrem Wesen entfremdet hatte: „Indem das Kunstwerk ganz dem Bedürfnis sich angleicht, betrügt es die Menschen vorweg um eben die Befreiung vom Prinzip der Nützlichkeit, die es leisten soll.“ (DdA, S. 167)

Das ursprüngliche Kunstbedürfnis erfährt im Konsum jedoch eine ontologische Verschiebung: Von einer Ausgleichsreaktion (als Kunstschau) auf ein existenzielles Problem wird es selbst zu einer Weise zu existieren, zu einem neuen Selbstverständnis (dem Dasein als Konsument). Anstelle eines tendenziell entpersonalisierten Kunstgenusses steht beim Konsum die eigene Person im Mittelpunkt: Die Zahlung manifestiert die eigene Potenz („dass man es sich leisten kann“). Der darauf folgende dauerhafte, für andere sichtbare Besitz erzwingt vorhergehende Überlegungen: Entspricht das Produkt der eigenen Identität? Inwiefern eröffnet es neue Möglichkeiten? Welche Art von Zugehörigkeit löst es aus und zu wem oder was? Die Entscheidung etwas zu kaufen – und somit der Moment des „Das will ich haben!“ – resultiert also aus einer multidimensionalen Selbstreflexion: Die eigene Zukunft wird projiziert, mögliche Erscheinungsweisen der eigenen Person werden durchgespielt, und die persönliche soziale Rolle und Position innerhalb des Freundeskreises sowie der Gesellschaft wird in Betracht gezogen. Alle Facetten menschlichen Daseins werden beim Konsum beleuchtet, wobei sich jene große Reflexion vollständig in Bezug auf oder besser noch: durch das Konsumprodukt vollzieht. Eine Rückwirkung auf das Selbstbild des Subjekts, die besagte Mimesis ans Tote ist unvermeidlich. Und gerade dadurch, dass alle Wege, auf denen der Mensch durch die Welt auf sich selbst zurückkommt, beim Konsum begangen werden, ist er beim Konsum Konsument und nichts außerdem.18 Die Geburtlichkeit wird zum Ermöglichungsgrund der Existenz.

[...]


1 Bei allen Zitaten aus Wolfgang Ullrichs Habenwollen , Naomi Kleins No Logo! und der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/Adorno verwende ich die jeweils in Klammern gesetzten Abkürzungen. Eine genaue Angabe findet sich im Literaturverzeichnis.

2 Hierzu mehr in Abschnitt 3.

3 Ich sage es vorweg: An vielen Stellen erscheint mir Ullrichs Analyse der Konsumkultur lückenhaft und unkritisch. Da es jedoch nicht Ziel dieser Arbeit ist, Ullrich selbst zu kritisieren, sondern mithilfe seiner Gedanken das Konsumverhalten mit der Möglichkeit einer Kritik zu synthetisieren, fällt die besagte Rekonstruktion teilweise in den Bereich einer Interpretation: In Habenwollen vereinzelt vorkommende Phänomene werden in neuen Verbindungen auftreten, z. T. unter Heranziehung anderer Denker. Dennoch wird Ullrichs grundlegende Argumentation dabei nicht verfälscht, und ich werde mich bemühen, dem Leser ein Auseinanderhalten zwischen Ullrichs Gedanken und ihren Erweiterungen einzurichten.

4 Die Einteilung der Geschichte in Epochen ist keineswegs eine eindeutige Angelegenheit, sondern unterliegt vielmehr dem Prinzip der „Historialität“: „Damit wird [...] das historische Erzählen selbst an die Zeit gebunden, es wird zu einer Erscheinung der Geschichte.“ (Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001, S. 194) Darum will ich an dieser Stelle kurz feststellen, dass ich in diesem Essay Aufklärung und Moderne anhand der gleichen, im Folgenden aufgeführten Merkmale charakterisiere, wobei ich die Moderne als Langzeitwirkung der Prinzipien der Aufklärung betrachte und somit als eine Epoche, die grundlegend erst durch die Postmoderne in ihrer Wirksamkeit ausgehebelt wird.

5 Das „Ding“ kann demnach schon vor der modernen Individualisierung wenigstens potenziell als Kernelement einer bestimmten Kultur betrachtet werden, insofern man sich an folgender Definition von „Kultur“ orientiert: „Kultur [...] wird ebenso (a) im Kollektivsingular als die grundlegende, in alle Tätigkeiten der Menschen ausdifferenzierte Funktion der Lebensgestaltung und damit als Inbegriff poietisch-praktischer Selbstauslegung begriffen wie (b) als der spezifische Bereich der Artikulation verfeinerter geistiger, vorwiegend ästhetischer Ansprüche auf Kreativität, Kommunikation und Unterhaltung, die sich in den hochkulturellen Medien und künstlerischen Spitzenprodukten vergegen-ständlichen[.]“ (Birgit Recki: Kulturphilosophie/Kultur; in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Band 2, Hamburg 1999, S. 1093)

6 Natürlich ist Ullrichs Darstellung an dieser Stelle – wahrscheinlich aus dramaturgischen Gründen – etwas einseitig. So lässt sich der persönlich gefärbte Dingbesitz auch ohne bewusste Familien- oder Traditionsgebundenheit schon zu allen Zeiten denken, z. B. in Form von Trophäen für allein erbrachte Leistungen. Der Übergang zur Moderne beschreibt demnach auch in der Dingkultur eher eine graduelle Verschiebung als einen kompletten Umbruch.

7 Mit diesen zwei Begrifflichkeiten beziehe ich mich auf Ferdinand Tönnies, der in seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft den Begriff Gemeinschaft als ein soziales Ganzes bestimmt, in dem sich der Einzelne als Teil zu einem gemeinsamen Zweck sieht und dies ebenso in den anderen wiedererkennt (vgl. §§1-18), während in der Gesellschaft das gemeinsame Ziel verloren gegangen ist und der Einzelne von sich selbst ausgeht und die anderen als Mittel zu seinen eigenen Zwecken benutzt (vgl. §§19-40).

8 Vgl. Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1999 (1784).

9 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1995 (1922), S. 20.

10 Ullrich selbst führt für diesen Zustand keinen Begriff an. Die im Folgenden beschriebenen Konsummerkmale Virginität, Zeitumkehr und Potenz umschreiben ihn zwar, sind jedoch als dessen Ausdrucksweisen zu betrachten.

11 Um es an dieser Stelle zu verdeutlichen: Wenn ich im Folgenden von „existenziellen Problemen“ spreche, meine ich damit nicht Probleme, die die biologische Grundlage einer menschlichen Existenz betreffen (wie Nahrung, Unterkunft etc.), sondern Probleme des grundlegenden Selbstverständnisses, angelehnt an Heideggers Definition von Existenz als der spezifisch menschlichen Seinsweise, in der sich der Mensch mitsamt seiner Möglichkeiten versteht und dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1976, S. 231.

12 Dies ist ebenfalls kein Begriff, den Ullrich verwendet, sondern eine Wortschöpfung meinerseits: instant, engl. für sofortig, tafelfertig, angelehnt an gegenwärtige anglizistische Produktbezeichnungen wie z. B. instant coffee.

13 Zitat von der Chapati-Website shop.chapati.de, 2012.

14 „Die Ratio, welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote. Der subjektive Geist, der die Beseelung der Natur auflöst, bewältigt die entseelte nur, indem er ihre Starrheit imitiert und als animistisch sich selber auflöst. Nachahmung tritt in den Dienst der Herrschaft, indem noch der Mensch vorm Menschen zum Anthropomorphismus wird.“ (DdA, S. 64) Inwiefern sich dieses hier aus dem Zusammenhang gerissene Konzept der „Mimesis ans Tote“ auf die postmoderne Konsum- und Arbeitswelt anwenden lässt (und dort auf übertragene Weise ebenfalls zur Umformung des Menschenbilds beiträgt und neue Kontroll- und Machtmechanismen ermöglicht), werde ich unter 3.1 erläutern.

15 „[W]hile the Enlightenment profited largely from the disposition of a very powerful descriptive tool, that of matters of fact, which were excellent for debunking quite a lot of beliefs, powers, and illusions, it found itself totally disarmed once matters of fact, in turn, were eaten up by the same debunking impetus.“ (Bruno Latour: Why has critique run out of steam? From matters of fact to matters of concern; in: Critical Inquiry 30, Chicago 2004, S. 232) Der „debunking impetus“, von dem Latour hier spricht, wird an anderer Stelle seines Essays in seinem Vollzug charakterisiert als die Aufhebung der Vorherrschaft harter Fakten (und der damit einhergehenden Vorstellung einer einzigen Wahrheit) durch den relativistischen Wahrheits- und Diskurspluralismus der Postmoderne.

16 Günter Küppers (Hrsg.): Chaos und Ordnung, Vorwort, Stuttgart 1996, S. 7.

17 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1974 (1790), B 33.

18 Natürlich trifft eine solche ganzheitliche Vereinnahmung nicht auf jede Art von Konsum zu, für den es viele Abstufungen gibt. Die hier skizzierte maximale Konsumentwerdung ist jedoch die ideelle Zielvorstellung der Markenunternehmen. S. u. 3.2.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Die fabelhafte Welt des Konsums, seine globalen Auswirkungen und die Notwendigkeit einer neuen Kritik
Untertitel
Das will ich haben! ...oder doch nicht?
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
HS Kulturkritik und Gesellschaft
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
38
Katalognummer
V320969
ISBN (eBook)
9783668202269
ISBN (Buch)
9783668202276
Dateigröße
535 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"Ihre Arbeit ist originell, logisch aufgebaut und mit Verve geschrieben!" (Prof. Dr. xxx)
Schlagworte
Kritische Theorie, Adorno, Horkheimer, Konsum, Naomi Klein, Wolfgang Ullrich, Habenwollen, No Logo, Marx
Arbeit zitieren
Tassilo Weber (Autor:in), 2012, Die fabelhafte Welt des Konsums, seine globalen Auswirkungen und die Notwendigkeit einer neuen Kritik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320969

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