Spaltungstendenzen in der gesellschaftlichen Mitte? Historische und aktuelle Definitionen und Entwicklungen


Masterarbeit, 2015

78 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Traditionelle Begriffe zur Beschreibung der Mitte: „Stand“, „Klasse“ 6 oder „Schicht“?
2.1 Schichtthese vs. Individualisierungsthese

3. Verschiedene Definitionsansätze des Mitte-Begriffs
3.1 Quantitative Herangehensweisen
3.2 Analysen auf Grundlage von Einkommensunterschieden
3.3 Umfragen
3.4 Einkommensverteilung innerhalb der Mitte

4. Qualitative Herangehensweisen
4.1 Sozialstrukturanalyse
4.2 Die Berufe der Mitte
4.3 Die Mitte als politischer (Kampf-)Begriff und politisches Thema
4.4 Die Mitte als gesellschaftliches Ideal
4.5 Die Milieus und Lebensstile der Mitte
4.5.1 Die Individualisierungsthese nach Ulrich Beck
4.5.2 Die Milieutheorie nach Pierre Bourdieu
4.6 Die Mitte als Garant sozialer Sicherheit
4.7 Das Selbstbild der Mitte
4.8 Kritische Stimmen zur Mitte

5. Verschiedene Sichtweisen auf die Mitte in verschiedenen Sozial- 48 strukturen
5.1 Sozialstrukturen in Europa
5.2 Die Mitte als deutsches und westeuropäisches Phänomen
5.2.1 Der Sonderfall der Neuen Bundesländer
5.3 Die Mitte außerhalb Europas: American Middle Class und Global 52 Middle Classes
5.3.1 Die nordamerikanische „Middle Class“
5.3.2 Neue Globale Mittelklassen

6. Soziale Entwicklungen in Deutschland in den vergangenen 55 Jahrzehnten
6.1 Die Bildungsexpansion
6.2 Arbeit und berufliche Qualifikation
6.3 Bürgertum und Mitte
6.3.1 „Neue Bürgerlichkeit“
6.4 Wohlstand
6.5 Die Rolle der Arbeiter und der Migranten
6.5.1 Die Entwicklung der Arbeiterschicht
6.5.2 Die Rolle der Migranten
6.6 Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft

7 Zunehmende Verunsicherung in der Bevölkerung

8 Fazit

9 Quellen

1. Einleitung

Die gesellschaftliche Mitte, oft auch als Mittelschicht, Mittelstand oder Mittelklasse bezeichnet, ist seit Jahrhunderten eines der spannendsten und immer aktuellen Themen im Bereich der soziologischen Forschung - umso mehr in der heutigen Zeit, in der der Mittelschicht, beziehungsweise dem, was allgemein unter der gesellschaftlichen Mitte verstanden wird, immer wieder gravierende Veränderungen bis hin zur zunehmenden Auflösung der Mitte vorhergesagt werden. In vielen Veröffentlichungen zum Thema der gesellschaftlichen Mitte ist von der ÄKrise der Mitte“ (vgl. u.a. Mau 2014: 7) oder von der Änervösen Mitte“ (Vogel 2009: 26) die Rede. Die Prognosen gehen dabei auseinander: Einige prognostizieren die zunehmende Auflösung der Mitte, andere hingegen nur leichte Veränderungen (Seibring in APuZ 49/2014: 2).

Dabei stellt sich immer wieder die Frage, was die Mitte, so oft sie auch erwähnt wird und so viel auch darüber geschrieben wird, eigentlich ist. Denn sie ist, obwohl jeder damit etwas Bestimmtes assoziiert, im Kern immer noch ein relativ unbekanntes und ungenau beschriebenes Phänomen. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass es schon immer schwer war, sich der Mitte forschungstechnisch zu nähern. Teil dieser Arbeit wird deshalb sein, sich der traditionellen Sichtweise auf die Mitte zu nähern und darzustellen, was darunter allgemein verstanden wird und inwiefern es diese Mitte tatsächlich gibt und gegeben hat.

In dieser Arbeit wird zudem thematisiert, inwiefern sich die Mitte wirklich verändert hat und wie sich die Mitte heute darstellt: Hat sie sich im Kern wirklich verändert und findet der Prozess der Auflösung wirklich statt oder gibt es nicht doch eine gewisse Kontinuität? Und gibt es auch innerhalb der Mitte Veränderungen, die dazu führen, dass sich die Mitte heute anders sieht und darstellt als früher zur vermeintlichen Blütezeit der Mittelschicht? In diesem Zusammenhang soll auch die Veränderung der Definition des Begriffs ÄMitte“ thematisiert werden und geklärt werden, was unter dem Begriff eigentlich verstanden wird. Es wird dabei auch insbesondere erläutert, ob bzw. inwiefern die Mitte jemals real existiert hat und inwiefern es sich dabei mehr um eine Idealvorstellung bis hin zu einer gesellschaftlichen Utopie gehandelt hat. Traditionelle Herangehensweisen an das Thema werden dafür ebenso wie aktuelle genutzt, um ein umfassendes Bild der Mitte zu ziehen und daran aufzuzeigen, inwiefern sich die Mitte wirklich verändert hat und aktuell verändert.

Mittelklasse, Mittelschicht oder Bürgertum sind seit Jahrzehnten und Jahrhunderten feststehende Begriffe in der Beschreibung (einst) industriell und bürgerlich geprägter Gesellschaften. Doch zum einen hat es, obwohl jeder mit diesen Begrifflichkeiten vertraut ist und jeder seine eigene ungefähre Vorstellung davon hat, stets an konkreten Definitionen gemangelt, was die Mitte der Gesellschaft eigentlich ausmacht und definiert (vgl. Mau 2012; Mau 2014), zum anderen ist es auch schwer, festzulegen, wer genau zu ihr gehört. Des Weiteren verliert die Schichtzugehörigkeit heutzutage im Zuge der Individualisierung von Lebenslagen an Bedeutung und wird die Auflösung traditioneller Schichten und Milieus genauso immer öfter zur Diskussion gestellt wie neue Ansätze zur Beschreibung gesellschaftlicher Gruppen. Es gibt zweifelsohne Prozesse in der deutschen Gesellschaft, die auf viele Menschen Auswirkungen haben, doch inwiefern sich die Gesamtgesellschaft und insbesondere die Mitte wirklich verändert haben, wird Thema dieser Arbeit sein.

Faktoren, die zu einer wachsenden Verunsicherung gesellschaftlicher Schichten beitragen, sind zum einen unzweifelhaft durch Veränderung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen beeinflusst - dazu gehören der Wandel der Gesellschaft in Deutschland und der in anderen Ländern Europas von Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft sowie der allgemeine Wandel der Gesellschaft von einer Gesellschaft der Sicherheit (vgl. Vogel 2009) und Absicherung zur ÄRisikogesellschaft“ (vgl. Beck 1981), die dazu führt, dass traditionelle Biographien in der Mitte der Gesellschaft zunehmend individualisiert werden (Vogel 2009). Doch auch gesellschaftliche Debatten um den Zustand der Gesellschaft haben immer wieder die Frage aufgeworfen, wie es um die Mitte steht und welche Zukunft diese hat. Dabei wurde der Mittelschicht Änicht immer eine rosige Zukunft vorhergesagt“ (Mau 2014: 5) und ihre zunehmende Auflösung und Bedeutungslosigkeit prognostiziert. Dennoch hat sich der Begriff der Mitte bis heute bei der Beschreibung der deutschen Gesellschaft hartnäckig gehalten.

Neben dem externen Blick auf eine gesellschaftliche Gruppe gibt es immer auch den internen Blick, der hier dargestellt werden soll. Denn so wie von außen, aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive auf die Mittelschicht in einer bestimmten Art und Weise geblick wurde, so haben auch die Angehörigen der Mitte selbst sich schon immer in bestimmter Weise gesehen. Daraus folgt, dass die Verunsicherung in der Mitte auch Auswirklungen auf das Selbstbild der Mitte hat. Weitere Bereiche der soziologischen Forschung, die in diesem Zusammenhang gestreift werden, sind die Begriffe der sozialen Ungleichheit und die soziale Mobilität.

Diese Arbeit geht deshalb folgender Fragestellung nach: Welche Auswirkungen haben die neuen Entwicklungen innerhalb der Mittelschicht auf das Selbstbild der Angehörigen der gesellschaftlichen Mitte selbst?

Unstrittig haben gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen auf die gesellschaftliche Mitte in Deutschland erhebliche Auswirkungen gehabt, vielerorts ist von der ÄKrise der Mittelschicht“ (Seibring in APuZ 49/2014: 1) die Rede. Andere reden davon, dass die Veränderungen moderater ausfallen als gedacht (vgl. Burzan in APuZ 49/2014; Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2012). Beide Perspektiven sollen hier aufgezeigt werden, um zu zeigen, welche tatsächlich beziehungsweise eher zutrifft.

Gleichzeitig haben neue Begrifflichkeiten zur Beschreibung der Sozialstruktur - die in dieser Arbeit ebenfalls betrachtet werden - ältere Begriffe teilweise ersetzt oder ergänzt, und im Zuge der Pluralisierung der Lebensformen und der Auflösung traditioneller Schichten und Milieus kommt es zum einem zu einer Auflösung der traditionellen gesellschaftlichen Schichtung und zum anderen zu neuen Möglichkeiten des Aufstiegs wie auch des Abstiegs innerhalb der Gesellschaft. Dies wirft für die Soziologie neue Fragen auf: Wie lässt sich eine europäische Gesellschaft heute zutage beschreiben? Haben die Begriffe ÄMittelschicht“ und ÄArbeiterschicht“ in Deutschland überhaupt noch Aussagekraft? Und warum hat der Begriff der Arbeiterklasse in Großbritannien noch immer einen sehr viel größeren Stellenwert? Dieser Frage wird in dieser Arbeit ebenfalls nachgegangen werden.

Zur Bearbeitung der Fragestellung wird über quantitative wie qualitative Herangehensweisen dargestellt, wie man die Mitte traditionell und heute zu definieren versucht hat. Da es sich um einen sehr schwammigen Begriff handelt, ist es so gut wie unmöglich, eine konkrete Definition zu finden, weshalb hier nur die verbreitetsten Ansätze dargestellt werden. Da der Rahmen dieser Arbeit zudem nicht ausreicht, um ein allumfassendes Bild der Mitte darzustellen, wird lediglich auf die Weise herangegangen, die traditionellen Definitionsweisen aufzuzeigen und darzustellen, wie diese sich durch gesellschaftliche Entwicklungen verändert haben und ob dies wirklich zur zunehmenden Spaltung der Mitte führt.

Empirische Vorgehensweise

Zur Untersuchung des Mitte-Begriffs werden hier sowohl quantitative als auch qualitative Methoden verwendet und dargestellt. Beides ist nötig, da die Mitte zum einen quantitativ erfassbar ist, etwa durch Darstellung von Einkommensunterschieden und anderen statistischen Daten, aber andererseits wird die Mitte hier auch als ein abstraktes, schwer zu erfassendes Phänomen dargestellt, das mit quantitativen Ansätzen alleine nicht erklärt werden kann, weshalb hier auch qualitative Erklärungsansätze mithilfe der Sozialstrukturanalyse aufgezeigt werden. Dabei werden auch sowohl makro- als auch mikrosoziologische Ansätze verwendet, um beide Perspektiven - die des Individuums und die der Gesamtgesellschaft - darzustellen. Weitere Aspekte der soziologischen Forschung, die dabei dargestellt werden, sind die Ungleichheitsforschung und die Erforschung der sozialen Mobilität.

Die Wichtigkeit der Debatte um die Mitte zeigt sich auch darin, dass diese regelmäßig Thema in den Medien ist. Deshalb werden hier auch einige aktuelle Zeitungsartikel als Quellen herangezogen, um als Teil der öffentlichen Soziologie aufzuzeigen, wie das Thema in den Medien dargestellt wird.

2. Traditionelle Begriffe zur Beschreibung der Mitte: „Stand“, „Klasse“ oder „Schicht“?

Zur Annäherung an den Begriff der Mitte wird hier zunächst dargestellt, was unter Begriffen wie ÄKlasse“, ÄStand“ oder ÄSchicht“ zur Beschreibung einer Gesellschaftsordnung eigentlich verstanden wird. Daraus kann anschließend geschlossen werden, auf welche Weise die Mittelschicht entstand, wie sie früher definiert wurde und wie dies heute erfolgt.

Noch vor den Klassen und Schichten war die Gesellschaftsordnung von den unterschiedlichen Ständen geprägt. Eine Ständegesellschaft zeichnete sich dadurch aus, dass durch den Stand bestimmte Privilegien von Geburt an vorhanden waren oder nicht. Je nach Familienabstammung - ob man aus einer adeligen, kleinbürgerlichen oder bäuerlichen Familie stammte - waren die Lebensbedingungen weitestgehend vorbestimmt (vgl. Hradil 2001: 37). Soziale Mobilität zwischen den Ständen gab es nicht. Ab dem 18. und 19. Jahrhundert wurde im Zuge der Neugestaltung der Gesellschaft infolge der Industriellen Revolution die Ständeordnung durch die Klassenordnung abgelöst. Die Klassen zeichneten sich zwar auch noch durch strengere Abgrenzung als bei den späteren Schichtmodellen aus, markieren aber dennoch bereits den Wandel von einer Gesellschaft mit vorbestimmten Privilegien und ohne sozialer Mobilität zu einer sich ändernden Gesellschaft, in der Privilegien durch eigene Leistung erworben werden und nicht mehr durch Stand vorbestimmt sind.

Der Klassenbegriff wird besonders häufig in Bezug auf frühindustrielle Gesellschaften benutzt (Hradil 2001: 39). Damals wurde die alte Ständeordnung durch Herausbildung der drei Klassen der Industriearbeiter, der Kapitalisten und der Fabrikbesitzer andererseits abgelöst (Hradil, wie zuvor). Der Klassenbegriff impliziert immer auch Besitz und Spannung zwischen Klassen. Dass Besitz als Indikator für Klassen jedoch von rückläufiger Bedeutung ist, ist ein Grund dafür, dass der Begriff der Klasse zunehmend durch den der Schicht ersetzt wird, auch wenn Klasse mancherorts auch heute noch für die Beschreibung der Gesellschaftsordnung verwendet werden kann und wird (Hradil, wie zuvor). Die Einteilung der Gesellschaft in verschiedene ÄKlassen“ geschieht heute eher in Gesellschaften, in denen das Klassenbewusstsein traditionell stärker verankert ist - darunter auch und vor allem in Großbritannien (vgl. Beck 1991), wie in den folgenden Kapiteln noch ausgeführt werden wird. In Deutschland hingegen war das Klassenbewusstsein nicht so stark ausgeprägt und das Gesellschaftsmodell schon immer von greingeren Schichtunterschieden anstelle von Einteilung in wenige Klassen geprägt ist (vgl. Münkler in APuZ 49/2014), folglich ist der Begriff der Schichten in Deutschland zur historischen und aktuellen Beschreibung der Gesellschaft gebräuchlicher.

Zudem hat der Begriff der ÄKlasse“ in Deutschland durch seine Verwendung im Kommunismus auch eine starke politische Färbung erhalten. Friedrich Engels machte mit seinen Beobachtungen zur englischen Arbeiterklasse (Engels 1845) den Begriff überhaupt erst bekannt, weshalb er folglich bald zu einem schlagenden Begriff im Kommunismus wurde. Karl Marx (ebd. 1867) trug mit seiner Klassentheorie ebenfalls erheblich dazu bei, die Theorien von Schichten und deren Spannungen untereinander zu popularisieren. Seiner Meinung nach war die Welt des Kapitalismus in zwei Klassen aufgeteilt - die besitzenden Kapitalisten und die besitzlose Arbeiterklasse, deren Arbeitskraft ihr einziges Kapital war (vgl. Marx 1867, Mau 2012). Er thematisierte allerdings kaum die Mitte - diese Ä[war] in der marxschen Theorie nicht vorgesehen“ (Mau 2012: 14) und blieb ein Äblinder Fleck“ (Mau 2012: 14). Laut Meinung von Marx würde sich die Arbeiterklasse als alleinige gesellschaftliche Kraft durchsetzen und das Kleinbürgertum, das bei Marx in Form von Kleinbürgern, Händlern und Gewerbetreibenden durchaus vorkam, entmachten und proletarisieren (Mau 2012: 14 ff.). Tatsächlich entsprachen seine Prognosen nicht der Realität und kam es stattdessen nicht zu einer Befreiung der Arbeiterklasse, sondern dafür zu einem anhalten Aufstieg und einer anhaltenden Expansion der Mitte (Mau 2012, Bertelsmann- Stiftung (Hrsg.) 2012).

Eine erste prominente Kritik am Schichtmodell wurde bereits 1930 durch Theodor Geiger in seiner bekannten Schrift ÄKlassengesellschaft im Schmelztiegel“ (Geiger 1930) verfasst, in der er das marxsche Modell der Klassen mit der soziologischen Realität konfrontierte (Geißler 2011: 95). Er wies darauf hin, dass es im ÄZweiklassensystem“ (Geiger 1930: 638) zunehmend eine Zwischenschicht in der Mitte gebe, die sich noch keiner der anderen beiden Klassen zugeordnet hätte (Geiger 1930).

Durch den engen Zusammenhang mit der Theorie von Klassenkampf und Marxismus und die Kritik u.a. von Geiger wird der Begriff ÄKlasse“ heute deshalb eher im politischen Kontext genutzt, während in der Soziologie von der ÄSchicht“ die Rede ist. Hinzu kommt, dass der Begriff der Klassengesellschaft zwar auch außerhalb der marxistischen Forschung verwendet wird, aber eher zur Beschreibung der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, in dem die Klassengesellschaft die vorherige Ständegesellschaft ablöste (Geißler 1992: 23). ÄSoziale Ungleichheiten änderten ihre Form: aus Ständen wurden Klassen. Stände sind relativ scharf umrissene, durch Tradition, Sitte und Recht festgelegte soziale Gruppierungen. Die durch Geburt - oder auch seltener durch Verdienst - erworbene Standeszugehörigkeit ist mit bestimmten Verpflichtungen, Privilegien oder Benachteiligungen verbunden. […]“ (Geißler 1992: 23)

In dieser Arbeit wird deshalb das Wort ÄMitte“ verwendet, da es das wertneutralste ist und nicht politisch aufgeladen wie das Wort ÄKlasse“ und nicht auf der Vorstellung einer Gesellschaft als Schichtmodell beruhend wie das Wort ÄSchicht“.

Auch wenn Marx und Engels mit ihrer Forschung zur sozialen Ungleichheit dazu beitrugen, das Thema der sozialen Ungleichheit sowie ungleichen Verteilung von Gütern und Besitz in den Fokus der Gesellschaft zu rücken, so waren deren Ansätze doch zu eng und theoretisch gefasst und erhielten durch die ihnen folgenden marxistisch-politischen und sozialen Bewegungen zudem eine starke politische Färbung. Im Fokus (nicht marxistisch geprägter) Sozialforschung stehen deshalb heutzutage neuere, nicht marxistisch geprägte Ansätze der Forschung zur Entstehung von sozialer Ungleichheit, die im Folgenden ausgeführt werden.

Bei der genauen Definition dessen, was eigentlich unter einer ÄKlasse“ oder ÄSchicht“ verstanden wird, gehen die Ansichten ebenfalls auseinander. Wie gezeigt, war die soziale Klasse der Nachfolger der sozialen Stände, doch schon bald erhielt die Klasse durch ihre Verwendung in der marxistischen Theorie eine starke politische Färbung. Infolge der von Marx und Engels geprägten Klassentheorien entstanden dann diverse nichtmarxistische Klassentheorien, die das Phänomen der sozialen Klassen mit neuen Ansätzen, die sich vom marxistischen Ansatz der Macht und des Kapitals lösten. Zusammenfassend ist ÄKlasse“ also ein einerseits stärker politisch und andererseits auch in Abhängigkeit von veralteten Modellen der Gesellschaftseinteilung in Klassen und Stände geprägter Begriff, der deshalb heute als veraltet gilt, weshalb das Wort ÄKlasse“ hier möglichst vermieden wird. Zudem kann man an der Verwendung der Begriffe Stand, Klasse und Schicht auch schön ablesen, wie in den jeweiligen Texten die Gesellschaft definiert wird und wie sich diese Sicht im Laufe der Zeit verändert hat.

Geißler (2006) definiert das Phänomen, bezugnehmend auf die Klassendefinition von Geiger (1932, zit. nach Geißler 2006), folgendermaßen:

ÄDie Begriffe Schicht und Klasse fassen Menschen in ähnlicher sozioökonomischer Lage zusammen, mit der aufgrund ähnlicher Lebenserfahrungen ähnliche Persönlichkeitsmerkmale (psychische Dispositionen, Einstellungen und Wertorientierungen, Bedürfnisse und Interessen, Mentalitäten und Lebensstile) sowie ähnliche Lebenschancen und Risiken verbunden sind.“ (Geißler 2006: 94).

Diese Definition ist bereits eine sehr gute Zusammenfassung, da sie viele Aspekte vereint, die traditionell zur Beschreibung der Mittelschicht beziehungsweise von gesellschaftlichen Schichten allgemein verwendet werden: zum einem die ökonomische, beziehungsweise sozioökonomische Klassifizierung nach wirtschaftlichen und daraus resultierenden sozialen Gesichtspunkten, zum anderen die Klassifizierung nach kulturellen Aspekten sowie nach beruflichen Chancen und sozialen und beruflichen Sicherheiten. All diese Aspekte wurden und werden traditionell mit der Mitte verbunden, und wie man sich der Mitte nun genau definitorisch annähert, ist abhängig davon, welche Aspekte man in den Vordergrund stellt:

ÄZur Abgrenzung und Definition der Mitte werden häufig sozialstrukturelle Merkmale herangezogen: Zur Mitte gehört danach, wer über ein mittleres Einkommen verfügt, zumindest einem mittleren Schulabschluss (mittlere Reife oder Berufsausbildung) hat und mindestens einen qualifizierten Angestellten- oder Arbeiterberuf ausübt. Andere Ansätze fokussieren stärker auf typische Mentalitäten oder einen Habitus der Mittelschicht und verbinden bestimmte Werte, […] Lebensweisen und soziale und kulturelle Präferenzen mit der Mittelschicht.“

(Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2012: 10)

Ein weiterer Begriff, der zu unterscheiden ist, ist der des Mittelstands. Diese bezeichnet nicht eine Bevölkerungsgruppe, sondern mittlere und kleinere Unternehmen. Da viele Mitglieder der Mitte in diesen Unternehmen arbeiten, ist der Begriff natürlich auch für die Mitte relevant, meint aber nicht dasselbe wie Mitte oder Mittelschicht, auch wenn er oft synonym verwendet wird und der Duden ÄMittelstand“ sogar mit ÄMittelschicht“ gleichsetzt.1 Die soziologische Definition hingegen beschreibt den Mittelstand als Gesamtheit aller Selbstständigen und kleinen Unternehmen. Zudem wird auch hier noch zwischen Äaltem“ und Äneuem Mittelstand“ unterschieden (Geißler 2011: 139).

Dies zeigt, auf welche Weisen die Mitte, und wer zu ihr gehört, bezeichnet werden kann. Im Folgenden werden deshalb einige dieser Ansätze, die meiner Meinung nach die wichtigsten sind, vorgestellt, um zu zeigen, wie man sich dem Begriff der Mitte nähern kann und inwiefern sich diese wirklich verändert hat.

2.1 Schichtthese vs. Individualisierungsthese

Ein grundlegendes Problem bei der heutigen Beschreibung von Schichten ist die Frage, inwiefern heutzutage überhaupt noch von Schichten gesprochen und die Gesellschaft in diese eingeteilt werden kann. Im vorherigen Kapitel wurde angeführt, dass der Unterschied zwischen den Bezeichnungen ÄKlasse“ und ÄSchicht“ in politischen Zuschreibungen liegt sowie darin, dass die Schicht von der Einteilung der Gesellschaft in vertikale Schichtungen ausgeht. Daran kann man bereits sehen, wie schwer es ist, die Gesellschaft überhaupt in bestimmte Gruppen einzuteilen. In jüngerer Vergangenheit haben zahlreiche Forscher zudem Thesen zur Neuformierung der Gesellschaft aufgestellt, die nicht mehr von der Einteilung in Schichten ausgehen - hierzu zählen Thesen der Individualisierung (vgl. Beck 1986), der Pluralisierung, sowie die Ausprägung neuer gesellschaftlicher Kulturformen und eines eigenen Habitus nach Bourdieu, die zur Beschreibung neuer gesellschaftlicher Lebensformen und Identitäten anstelle bisheriger Modelle herangezogen werden.

ÄDabei ist […] eine Art Ätheoretische Lücke“ entstanden. Einerseits wird gerade in konkreteren Teilbereichen der Soziologie (z.B. Bildungssoziologie, Jugendsoziologie) weiterhin mit traditionellen (meist schichtungssoziologisch geprägten)

Sozialisationsperspektiven gearbeitet, andererseits setzen sich in der Sozialstrukturanalyse zunehmend Perspektiven durch, die ihr ÄHeil“ in horizontal ausgerichteten individualistischen Milieu- und Lebensstilmodellen suchen.“ (Wieland 2002: 1)

Die vorliegende Arbeit wird diesen Widerspruch nicht lösen können, aber sie kann gerade im Zuge der aktuell verstärkt stattfindenden Krisendiskussion um die Mitte zum einen beide Ansätze - schichttheoretisch und individualistisch bezogene - darstellen und zum anderen auch zeigen, wie sehr in der aktuellen Diskussion das Thema der Schichtzugehörigkeit und die Kontinuität von Schichtbegriffen immer noch von Bedeutung ist.

Ein Problem ist dabei, dass die Soziologie der Ungleichheitsforschung in den vergangenen Jahrzehnten wenig neue Ansätze hervorgebracht hat und sich zu sehr auf statistische Auswertung beschränkt hat: ÄAuf der einen Seite ist die Soziologie sozialer Ungleichheit in wachsendem Maße in die statistische Messung und Quantifizierung sozialer Ungleichheiten vertieft. […] Als gesellschaftliche Wirklichkeit gilt offensichtlich nur noch das, was sich als Zahl berechnen lässt und graphisch als Schaubild aufbereiten lässt.“ (Vogel 2009: 171).

3. Verschiedene Definitionsansätze des Mitte-Begriffs

Natürlich ist es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, die Mitte endgültig und eindeutig zu definieren. Es kann nur versucht werden, sich auf bestimmtem Wege dem Begriff analytisch zu nähern, zumal eine genaue Definition der Mitte bislang kaum erfolgt ist und auch kaum möglich ist. ÄDie Mitte gilt als unbestimmt, wenn nicht gar undefinierbar.“ (Mau 2012: 7), beziehungsweise:

ÄÜber wen sprechen wir, wenn wir die Äsoziale Mitte“ zum Thema soziologischer Überlegungen machen? Gleicht die Mitte der Gesellschaft heute nicht mehr denn je einem ebenso bunten wie unübersichtlichen Wimmelbild differenzierter und divergierender Soziallagen?“

(Vogel in Burzan/Berger (Hrsg.) 2010: 20)

Schon bei den groben Definitionsversuchen herrscht keine Einigkeit: ÄDer Begriff der Mitte ist unscharf, ja geradezu schwammig. Die Mitte befindet sich irgendwo zwischen Oben und Unten, ist eher eine sozialstrukturelle Zone als ein abgeschlossenes Kollektiv. Es handelt sich im Grunde um einen Sammelbegriff, den all jene zur Selbstverortung nutzen, die sich weder der Ober-, noch der Unterschicht zuordnen wollen.“ (Mau 2012: 13) Die Mitte ist also, wie diese Arbeit zeigen wird, analytisch nur schwer zu erfassen und auf verschiedene Weisen darstellbar: auf sozialstrukturelle, einkommens- und vermögensabhängige, um nur ein paar zu nennen. Deshalb kann auch diese Arbeit das Thema der Mitte natürlich nicht vollumfänglich abbilden, sondern nur versuchen, sich der Mitte so gut wie möglich zu nähern.

Eine genauere Definition der Mitte ist nicht nur deshalb eine sehr schwierige bis unmögliche Aufgabe, weil es sich um so ein umfangreiches und abstraktes, schwer zu fassendes Phänomen handelt, sondern auch, weil die Erforschung der Mitte in der Sozialforschung lange Zeit vernachlässigt wurde. ÄDie Mittelschicht ist bis heute ein soziologisch weitgehend unerforschtes Terrain. […] Mittelschichtskundler befinden sich heute unter den Literaten, weniger unter den Sozialforschern. […] In der Soziologie ist das Thema ‚Mitte‘ erst mit neuen Gefährdungen derselben aktuell geworden.“ (Mau 2012: 7). Hier zeigt sich, dass Nachholbedarf beim Thema Mitte besteht, zu dem diese Arbeit einen Teil beitragen soll, indem sie die Mitte angesichts der aktuellen Krisendebatte zu analysieren und definieren versucht, um darauf aufbauend festzustellen, ob es derzeit wirklich eine Krise und Spaltung der Mitte gibt.

Wie bei vielen Begriffen, die zwar vielen geläufig sind und unter denen jeder sich etwas Bestimmtes vorstellt, gibt es dennoch keine einheitlich akzeptierte Definition für die Mitte. Ä[E]ine Standarddefinition für die ‚Mittelschicht‘ gibt es nicht“ (Niehues 2014: 10), bzw. Äes [gibt] keine allgemein geteilte Definition der Mittelschicht […], sondern sehr unterschiedlichen Annäherungen“ (Mau 2014: 4), die im weiteren Verlauf dieser Arbeit dargestellt werden. Dennoch sagen die verschiedenen Ansätze, die man in der Fachliteratur zu diesem Begriff findet, bereits einiges darüber aus, was unter ÄMitte“ gemeinhin verstanden und damit assoziiert wird. Im folgenden Abschnitt werden deshalb die wichtigsten Herangehensweisen der Definition von Mitte aufgezeigt, um daraus zu schließen, wie die Mitte traditionell und heute gesehen wird und wie sich anhand ihrer Beschreibung wirklich Veränderungen feststellen lassen. Dazu werden im Folgenden zunächst quantitative und dann qualitative Forschungsansätze aufgezeigt.

3.1 Quantitative Herangehensweisen

Ökonomische und quantitative Versuche, sich dem Mittelschichts-Phänomen zu nähern, basieren darauf, auf Grundlage der Auswertung statistischen Datenmaterials die Mitte zu klassifizieren, etwa, indem Einkommensunterschiede und Vermögensverteilung dargestellt werden. Meistens wird dabei das Einkommen als Determinante verwendet. Dies kann hilfreich sein, die Mitte quantitativ abzubilden. Tatsächlich hat ein solcher Ansatz sogar Äviele Vorzüge und gute Gründe: Einkommen und Vermögen sind fraglos dominante Gliederungsprinzipien sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften […]“ (Bertelsmann- Stiftung (Hrsg.) 2012: 47). Aber wie so oft in der quantitativen Sozialforschung ergibt sich das Problem, dass diese Ansätze zu reduzierend sind und alleine nicht ausreichen, um ein facettenreiches Phänomen wie die Mitte vollständig abzubilden - Ä[die] quantitativ orientierte Sozialstrukturanalyse hilft uns bei der Suche nach der nervösen Mitte der Gesellschaft nicht so recht weiter“ (Vogel 2009: 26). Probleme ergeben sich dabei schon dadurch, dass die Grenzen der Schichten insbesondere an den Rändern fließend sind und eine eindeutige Abgrenzung schwer fällt - Äwo genau aber die Grenze zwischen unterer Einkommensschicht, Mittelschicht und Reichtum verläuft, ist allein aus dem Merkmal Einkommen nicht eindeutig bestimmbar“ (Niehues in APuZ 49/2014: 11). Es wird bei der Darstellung von Einkommensschichten meistens die Relation zum Medianeinkommen als Zugehörigkeit zur Mitte definiert, wobei als mittleres Einkommen 70 bis 150% des Medianeinkommens definiert werden (Niehues, wie zuvor). Dennoch ist der quantitative Ansatz dazu nützlich, die zahlenmäßige Kontinuität der Mitte darzulegen, was zur Klärung der Frage, ob sich die Mitte tatsächlich in Spaltung oder Auflösung befindet, beitragen kann.

3.2 Analysen auf Grundlage von Einkommensunterschieden

Ergebnisse aktueller Analysen zur Verteilung von Gütern innerhalb der Gesellschaft belegen zum einen eine Äwachsende Polarisierung der Einkommensverteilung“ (Verwiebe in APuZ 49/2014: 29) und zum anderen eine insgesamt zahlenmäßige ÄSchrumpfung der Mittelschicht“ (Verwiebe, wie zuvor). Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ermittelte bereits im Jahr 2008 anhand der Einkommensverteilung ein Schrumpfen der Mittelschicht:

ÄDie Schicht der Bezieher mittlerer Einkommen ist in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich geschrumpft. Ihr Anteil an der Bevölkerung ging von 62 Prozent im Jahr 2000 auf 54 Prozent 2006 zurück. Entsprechend gestiegen ist der Bevölkerungsanteil an den Rändern der Einkommensverteilung, wobei in der Mittelschicht die Abwärtsmobilität stärker ausgeprägt war als der Aufstieg in höhere Einkommensklassen.“

(DIW Wochenbericht 10/2008: 1)

Im DIW-Wochenbericht 24/2010 wurde dieses Phänomen erneut untersucht und kam erneut zu dem Ergebnis, dass Einkommensunterschiede innerhalb der vergangenen zwei Jahre zugenommen haben und damit die Mitte weiter verunsichern:

ÄIm längerfristigen Trend ist einerseits nicht nur die Zahl der ärmeren Haushalte stetig gewachsen - sie wurden im Durchschnitt auch immer ärmer. Auf der anderen Seite gibt es im Trend immer mehr Reichere, die im Durchschnitt auch immer reicher werden. Dieser Gegensatz wird von den Menschen nicht nur als besonders ungerecht empfunden, sondern er schürt auch die Verunsicherung der Mittelschicht.“

(DIW Wochenbericht 24/2010: 1)

Interessant an dieser Untersuchung im Vergleich zu der von 2008 ist, dass sie die Veränderung der Einkommen im Hinblick auf die seit 2008 grassierende Weltwirtschaftskrise analysiert und entsprechende Veränderungen feststellt. Tatsächlich ist die Veränderung infolge der Weltwirtschaftskrise seit 2008 ein wichtiges Ereignis in der jüngeren Vergangenheit der Mittelschichtsforschung, da sich das Schrumpfen der Mitte auch infolgedessen weiter fortgesetzt hat (Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2012: 21). Wie die Zahlen des DIW belegen, hat dies bei der Einkommensverteilung in der Tat für weitere Spaltung gesorgt.

In beiden Untersuchungen wurde die Mitte durch mittleres Einkommen definiert und dabei ein Haushaltseinkommen zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens als mittleres Einkommen angenommen, was etwa 1844 € monatlich entspricht (DIW Wochenbericht 10/2008; DIW Wochenbericht 24/2010: 3).

Anhand solcher statistischer Werte kann man zwar sehen, dass sich die Einkommen der Mitte wie der Gesamtgesellschaft, also auch der ÄArmen“ und ÄReichen“, statistisch betrachtet verändert hat, doch reichen solche Zahlen natürlich alleine nicht aus, um die Veränderungen der Mitte zu fassen. Allerdings ist die Untersuchung anhand der Einkommensverteilung auch nicht völlig nutzlos, da das Einkommen Äals allgemeines Äquivalent für Lebenschancen und sozialen Status betrachtet werden [kann]“ (Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2012: 17).

Ein Problem bei der Einteilung nach Einkommensgrößen ist jedoch, dass diese Äimmer willkürlich bleiben [muss]“ (Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2012: 19), da sie nur dem Mittelwert des jeweiligen Landes zum Maßstab nimmt. Da mittlere Einkommen von Land zu Land jedoch sehr unterschiedlich sind, handelt es sich bei Mitte somit um einen relativen Wert.

In diesem Fall macht der DIW-Bericht deutlich, auf welche Weise er an das Thema herangegangen ist, nämlich indem er Mitte als ÄSchicht der Bezieher mittlerer Einkommen“ (DIW Wochenbericht 10/2008) definiert und als Instrument zur Erforschung die Einkommensverteilung nutzt.

Damit alleine lässt sich das Phänomen der Mitte freilich nicht beschreiben, denn es handelt sich bei der Mitte um mehr als nur die Gruppe der Empfänger mittlerer Einkommen, sondern man verbindet mit ihr auch bestimmte kulturelle und politische Vorstellungen und Ideale. Zudem ist es auch nicht einfach, zu definieren, was nun ein mittleres Einkommen ist, denn dabei handelt es sich natürlich lediglich um Verhältnisangaben. Unter mittleren Einkommen wird in der Regel ein Bereich von 80 bis 150 Prozent des mittleren Einkommens (Median) verstanden (Niehues in APuZ 49/2014: 11). Doch so eine strikte Einteilung löst natürlich alleine nicht die Frage, wer der Mitte angehört, denn auch an den Rändern finden sich mittelschichtstypsiche Merkmale (Niehues, wie zuvor). Zudem ist die etwa vom DIW (ebd. 2008; 2010) und der Bertelsmann-Stiftung (ebd. (Hrsg.) 2012) gewählte Methode, zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens als mittleres Einkommen zu definieren, zwar verbreitet, aber keinesfalls unumstritten, wie Gert G. Wagner in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 19.12.2012 klar macht:

ÄDass man mit dem Anderthalbfachen des Durchschnittseinkommens - etwa als doppelt verdienendes Studienrats-Ehepaar - bereits zur sozialen Oberschicht gehört, […] ist lebensweltlich völlig unplausibel und vor allem auch innerhalb der Wissenschaft keine unwidersprochene Konvention.“

(Gert G. Wagner in: Süddeutsche Zeitung vom 19.12.2012)

Dies zeigt zum einen das Problem der weiten Interpretierbarkeit statistischer Zahlen, zum anderen auch den Widerspruch zwischen statistischen Werten und tatsächlichen Lebensrealitäten, der einerseits der Bevölkerung nur schwer zu vermitteln ist und andererseits nicht alleine zur Erklärung der Mitte taugt. Deshalb wird im weiteren Verlauf der Arbeit auf weitere Weisen versucht, sich der Mitte anzunähern. Dafür wird im folgenden Kapitel mit Umfragen zunächst eine weitere quantitative Methode dargestellt.

3.3 Umfragen

Neben den Herangehensweisen auf finanzieller Grundlage wie der Einkommens- und Vermögensverteilung kann man sich auch anders quantitativ an die Mitte annähern, etwa mit Forschungen zur angeblich wachsenden Verunsicherung der Mitte (vgl. u.a. Mau in APuZ 49/2014; Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2012) durch Umfragen. Wie bereits herausgestellt wurde, gibt es trotz einer insgesamt zahlenmäßig relativ großen Stabilität und weitgehend stabilem Wohlstand der Mitte zunehmende Verunsicherung innerhalb der Mitte, die empirisch ebenfalls aufgearbeitet werden kann und muss, zumal diese auch geeignet sind, das subjektive Empfinden der betroffenen Personengruppe besser darzustellen. Denn bei der oft thematisierten Krise der Mitte muss auch zwischen zwei zentralen Aspekten unterschieden werden: dem zahlenmäßigen Schrumpfen, das im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, und der subjektiven Zukunftsangst der Mitte-Angehörigen selbst. Letztere wird im Folgenden anhand aktueller Umfrageergebnisse zum Thema dargestellt.

Umfragen an die Mitte-Angehörigen selbst sind eine geeignete quantitative Herangehens- weise, die freilich auf rein subjektiven Aussagen beruhen und zwar die eigene Sichtweise der Protagonisten aufzeigen können, gerade damit aber ebenfalls ein Stück zur Darstellung der Mitte beitragen können, da sie das eigenen Empfinden abbilden. In diesem Fall können Umfrageergebnisse insbesondere hilfreich sein, um die angeblich wachsende Verunsicherung der Mitte, bei der es sich nun mal um ein subjektives Empfinden handelt, aufzuzeigen. Deshalb sollen hier auch einige wichtige Umfrageergebnisse zur Mitte präsentiert werden. Geht man nach den Ergebnissen von aktuellen Umfragen, so lässt sich die zunehmende Verunsicherung unter Angehörigen der Mitte nicht eindeutig belegen. Im Folgenden werden deshalb die Ergebnisse zweier recht aktueller Erhebungen auf Basis von Umfragen zum Thema Mitte präsentiert.

Nicole Burzan (in APuZ 49/2014: 17 - 23) führte zu diesem Zweck eine Studie durch, die zum einen auf den Ergebnissen von Befunden der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 2011 beruhen, zum anderen auf dem Ergebnis von 27 Leitfadeninterviews mit Angehörigen zweier bestimmter Berufsgruppen, (Burzan in APuZ 49/2014: 19). Bezüglich des Verständnisses von Mitte sagt Frau Burzan dazu: ÄDabei sind wir von einem vergleichsweise engen Verständnis von Mittelschicht ausgegangen […] Zur Mittelschicht zählen danach aus einem Klassenschema nach Robert Erikson et al. die untere Dienstklasse und Selbstständige. Untere Schichten sind entsprechend hier nicht als randständige Gruppen zu verstehen“

(Burzan wie zuvor: 18). Im quantitativen Teil wurde dabei anhand von Umfragewerten versucht, herauszufinden, ob die Mittelschicht sich im Vergleich zu anderen Schichten besonders häufig Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation macht (Burzan in APuZ 49/2014: 19). Das Ergebnis der Studie zeigte, dass die in vielen Veröffentlichungen zum Thema Mitte angenommene Verunsicherung oder Verängstigung der Mitte keinesfalls per se nachzuweisen ist: ÄFür den Zeitraum 2000 bis 2011 lässt sich - im Lichte der Krisendiskussion unerwartet - kein überproportionaler Anteil von Menschen mit großen Sorgen in der Mittelschicht feststellen. Generell sind die Sorgen umso verbreiteter, je niedriger die Schichtzugehörigkeit ist. […] Eine Krisendiagose lässt sich damit nicht pauschal für die Gesamtgruppe qualifizierter Erwerbstätiger treffen.“ (Burzan in APuZ 49/2014: 19). Auch kann durch den Blick auf den Untersuchungszeitraum über das gesamte Jahrzehnt hinweg auf die Ursachen von Verunsicherung geschlossen werden: ÄZeigen die Anteile bis etwa Mitte [der 00er-Jahre] tendenziell zunehmende Sorgen an, nehmen die Anteile danach und nochmals nach einem kurzfristigen Anstieg 2009 wieder ab. Demzufolge ist die Entwicklung eher durch Phänomene auf der gesellschaftlichen Makroebene erklärbar […], als durch schichtspezifische Besonderheiten. Die Sorge der Mittelschicht hat zwischen 2000 und 2011 zugenommen, aber nicht linear und im Vergleich mit anderen Schichten auch nicht überproportional.“ (Burzan in APuZ 49/2014: 19)

Nicole Burzan kommt deshalb zu dem Fazit:

ÄDie Mitte fühlt sich nicht per se so verunsichert, wie man im Rahmen allgemeiner Krisendiagnosen und vermittelt durch einige Medienberichte denken könnte. Der Anteil der Mittelschichtsangehörigen - hier recht eng gefasst als qualifizierte Erwerbstätige, für die berufliche und Lebenslaufunsicherheiten eher eine neue Erfahrung sein könnten als für einige andere Gruppen - mit Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation hat sich längerfristig erhöht, aber insgesamt doch in einem eher moderaten Ausmaß.“

(Burzan in APuZ 49/2014)

Diese Ergebnisse der quantitativen Untersuchung zeigen also, dass die Verunsicherung in der Mitte nicht überall wahrnehmbar und nicht so deutlich ist, wie allgemein angenommen wird, und auch nicht zugenommen hat, sondern nur in bestimmten Bereichen und eher moderat. Auch ist, worauf später noch weiter eingegangen wird, deutlich zu sehen, dass die Sorgen eher in den unteren Schichten der Mitte als in der Gesamtgesellschaft zunehmen. Jedoch gibt Frau Burzan in ihrem Fazit selbst zu, dass der Rahmen der Studie recht eng gefasst war - konkret war er auf eine bestimmte Berufsgruppe bezogen - was zeigt, dass die Studien keinesfalls repräsentativ für alle Mittelschichtsangehörigen sind (Burzan im APuZ 49/2014: 19 ff.)

Auch die Ergebnisse einer anderen Umfrage in jüngerer Vergangenheit zeigen keinesfalls ein Bild einer kriselnden, pessimistischen, ängstlichen Mitte - im Gegenteil: So untersuchte 2013 das Forsa-Institut in Zusammenarbeit mit der Gothaer Versicherungsgruppe das Stimmungs- bild der Mitte mithilfe von Umfragen an verschiedene Bevölkerungsgruppen, darunter auch Angehörige der Mitte. Das Ergebnis war, dass die Mitte tatsächlich recht optimistisch in die Zukunft blickt und Ängste vor sozialem Abstieg und ungewisser Zukunft keinesfalls dominieren. Die Untersuchung basierte auf Umfragen mit tausend Befragten, die mithilfe computergestützter Telefoninterviews vom 26. August bis 30. September 2013 befragt wurden (Forsa-Institut/Gothaer 2013: 4). Das Ergebnis war, dass Ä[die] überwältigende

Mehrheit der Mittelschicht […] insgesamt mit ihrer derzeitigen Lebenssituation zufrieden [ist].“ (Forsa/Gothaer Versicherung 2013: 10). Grundlage war das Ergebnis, dass 62 Prozent der Befragten sich als Ämit ihrer Lebenssituation zufrieden“ und 27 Prozent sogar als Äsehr zufrieden“ zeigten.

Natürlich sind die Ergebnisse solcher Untersuchungen aus verschiedenen Gründen mit Vorsicht zu genießen: Zum einen wurde die Studie nicht alleine zu soziologischen Forschungszwecken, sondern mit der Gothaer von einem kommerziellen Unternehmen durchgeführt mit dem Ziel, den derzeitigen subjektiven Zustand der eigenen Zielgruppe zu erforschen. Zum anderen haben quantitative Umfragen natürlich immer das Problem, dass sie nie hundertprozentig repräsentativ für eine gesamte Bevölkerungsgruppe sein können. Tatsächlich wurde hier nur ein kleiner Ausschnitt befragt und darauf auf die Allgemeinheit geschlossen.

Solche Zahlen belegen also weder eindeutig die Auflösung der Mitte, noch kann damit die oft beschriebene zunehmende Verunsicherung derselben eindeutig bewiesen werden; im Gegenteil wird sogar gezeigt, dass sich die Mitte weniger Sorgen macht und optimistischer in die Zukunft blickt als allgemein angenommen. Die Ergebnisse zeigen aber auf jeden Fall, dass sich die Mitte verändert. Doch wie auch gezeigt, ist der Kern der Mitte zahlenmäßig immer noch recht stabil und sind allenfalls die äußeren Ränder in Bewegung, sowohl nach oben wie auch nach unten. Die Polarisierung von Einkommen setzt sich zweifelsohne fort, aber betroffen sind davon naturgemäß vor allem die oberen und unteren Ränder, und während am unteren Rand der Mitte zweifelsohne die Probleme und Sorgen in Form von Abstiegsängsten zugenommen haben, haben sich am oberen Rand der Mitte ebenfalls Einkommen und Reichtum erhöht. Die Sorgen der Mitte um Armutsgefahr und Statusverlust sind insgesamt also wesentlich eher am unteren als am oberen Rand der Mitte zu finden.

Zudem herrscht auch keine Einigkeit unter quantitativ orientierten Forschern zur aktuellen Situation der Mittelschicht. Während die zuvor erwähnte Untersuchung des DIW das Schrumpfen der Mitte beschrieb, deuten andere Forschungen darauf hin, dass die Mitte dennoch stabil und nicht zuletzt nach wie vor wohlhabend ist. ÄWenn man sich die einzelnen Bereiche anschaut, dann spiegelt sich in der größten Bevölkerungsschicht Deutschlands vor allem eins wieder: die aktuell gute wirtschaftliche Situation. […] Aus ökonomischer Sicht ist es um die Mittelschicht aktuell besser bestellt, als es die dokumentierten Ängste und Sorgen vermuten lassen“ (Niehues in APuZ 49/2014: 17). ÄDie Zahlen belegten allenfalls eine Stagnation, so die Interpretation, aber keine Schrumpfung der ökonomischen Mittelschicht und es gebe keine Grund zur Panik“ (Ernste/Erdmann/Kleibenberg 2011, zit. nach Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2012: 12). Zudem gibt es bei den Ergebnissen von Umfragen noch weitere interessante Fakten festzustellen, die die generelle Verunsicherung der Mitte weiter infrage stellen - die Sorgen der Mitte sind eher langfristiger Natur als auf aktuelle Zustände bezogen - der längerfristige Statusverlust ist eine größere Sorge als aktuelle wirtschaftliche Verunsicherung (vgl. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2012: 78 ff.).

Auch die Bertelsmann-Stiftung (Hrsg., 2012) kommt in ihrer Studie nicht darum herum, zuzugeben, dass die Mitte auch im internationalen Vergleich nach wie vor gut dasteht: Demnach machen sich die Einwohner anderer Länder prozentual deutlich mehr Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation, so etwa in den USA: Dort war die Ämiddle class“ (Mittelklasse) in den vergangenen Jahren durch Wirtschaftskrisen wesentlich stärker von Veränderung und Verarmung betroffen, weshalb die Diskussionen um die Mitte auch dort in den vergangenen Jahren neu entfacht wurden. ÄIt is not an exaggeration to say that most Americans, including the president of the United States, are thinking and talking a lot about the middle class these days.” (Samuel 2013: 1) Mehr zum Zustand der US-Mittelklasse folgt in einem späteren Kapitel.

[...]


1 http://www.duden.de/rechtschreibung/Mittelstand [Abruf: 28.04.2015]

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Spaltungstendenzen in der gesellschaftlichen Mitte? Historische und aktuelle Definitionen und Entwicklungen
Hochschule
Universität Kassel
Note
2.0
Autor
Jahr
2015
Seiten
78
Katalognummer
V320707
ISBN (eBook)
9783668207127
ISBN (Buch)
9783668207134
Dateigröße
1312 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mittelschicht, Arbeiterschicht, Tertiärisierung
Arbeit zitieren
Torsten Scholz (Autor:in), 2015, Spaltungstendenzen in der gesellschaftlichen Mitte? Historische und aktuelle Definitionen und Entwicklungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320707

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