Mit Sprache über Sprache - Gegenüberstellung und Rezeption der (Sprach-)Philosophie von Platon und Aristoteles


Seminararbeit, 2001

41 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitende Worte und Fragestellung

2. Platon
2.1. Grundsätzliches zu Platon, seinen Werken und seiner Philosophie
2.2. Platons Sprachphilosophie

3. Aristoteles
3.1. Grundsätzliches zu Aristoteles, seinen Werken und seiner Philosophie
3.2. Aristoteles´ Sprachphilosophie

4. Sprachphilosophische Erkenntnisse bei Platon und Aristoteles – ein Vergleich

5. Wirkung sowie Kritik an der platonischen und aristotelischen Sprachphilosophie

6. Schlussbemerkungen

1. Einleitende Worte und Fragestellung

Sind die Bezeichnungen für die Dinge naturbedingt oder durch menschliche Konvention entstanden? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit? Auf was nimmt die Sprache Bezug? Welche Rolle spielt die Sprache im Erkenntnisprozess? – All dies sind Fragen, welche die Sprachphilosophie und auch die folgende Ausarbeitung betreffen. Doch vor jenen Fragen kommt eine Frage, die einen höheren Stellenwert einnimmt: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ Nach Heidegger[1] ist dies die metaphysische Grundfrage; das Staunen darüber, dass überhaupt etwas `ist´, stellt alles Seiende in Frage. Platon und Aristoteles, die Philosophen, um welche es im Folgenden hauptsächlich gehen soll, beschäftigten sich ebenfalls mit dem Seienden und versuchten, es in Kategorien einzuordnen. Als sie sich mit der ersten der oben genannten Fragen beschäftigten, war die Sprachphilosophie noch keine eigenständige Wissenschaftsdisziplin, doch ist dies für nachstehende Fragestellungen nicht bedeutsam, da „das Problem der Sprache in der Tat so alt ist wie die Philosophie“[2] selbst. Die Sprachphilosophie hat ihren Ursprung in der Philosophie.

Schaut man in einem `normalen´ Lexikon unter dem Begriff `Sprache´ nach, so findet man die Auffassung, dass „die Zeichen [...] nicht der notwendige oder `natürl.´ Ausdruck der Wirklichkeit [sind], sondern sie werden ihr von jeder Sprachgemeinschaft konventional zugeordnet.“[3] In einem philosophischen Wörterbuch findet man Folgendes zum Begriff `Sprache´: Sprache sei „die nicht einer bloß sinnlich-triebhaften Empfindungsmitte, sondern dem seel.-geist. Verstehenszentrum des Menschen entspringende Fähigkeit des Menschen, mit einer sinnlich wahrnehmbaren Gestalt [...] eine nur geistig verstehbare Bedeutung zu verbinden“[4] ; weiterhin werde sich der Geist erst in der Sprache „denkend u. erkennend der Dinge, Zusammenhänge u. seiner selbst klar.“[5] Es wird bestritten, dass sie „nicht nur `Ausdruck´ von etwas, das schon zuvor fertig im `Innern´ da wäre“[6], sei – diese Auffassung von der Sprache als Ausdruck bzw. Abbild der Gedanken geht auf Aristoteles zurück, wie wir sehen werden. Die vorliegenden, komprimierten Erkenntnisse über Sprache sind das Produkt aus jahrhundertelanger sprachphilosophischer Reflexion und enthalten Auffassungen, die in dieser Form noch nicht von Platon und Aristoteles erdacht wurden – jedoch haben sie einen grundlegenden Anteil an diesen Reflexionen, wie gezeigt werden wird.

In dieser Hausarbeit soll es vornehmlich um die sprachphilosophischen Reflexionen von Platon und Aristoteles gehen. Diese werden jeweils in die grundlegende Philosophie der beiden `Denker´ eingebettet, und in einem vergleichenden Dialog zwischen ihnen soll ihre Sprachphilosophie gegenübergestellt werden. Im dann folgenden Abschnitt wird die Reflexion und die Kritik der platonischen sowie der aristotelischen Sprachphilosophie skizziert.

Die oben genannten Fragen, vornehmlich die zweite, sind zentrale Fragen der Sprachphilosophie und werden in allen Abschnitten dieser Ausarbeitung diskutiert, dergestalt, dass die Antworten unterschiedlicher Philosophen – allen voran die Platons und Aristoteles´ – vorgestellt werden.

2. Platon

2.1. Grundsätzliches zu Platon, seinen Werken und seiner Philosophie

Der griechische Philosoph Platon (griech. = der Breite)[7] – sein ursprünglicher Name lautet Aristokles – wurde um das Jahr 427 v. Chr. in Athen geboren; er starb um 347 v. Chr. ebenfalls in Athen. Er entstammt einer alten, vornehmen Familie, die der athenischen Hocharistokratie angehörte; die Stammbäume seiner Eltern lassen sich bis in „mythische Zeit“[8] zurückverfolgen. Er genoss die traditionelle Erziehung eines adeligen Heranwachsenden seiner Zeit, widmete sich der Dichtkunst, und bereits in frühen Jahren – vor seinem zwanzigsten Lebensjahr – wand er sich der Philosophie zu: Platons philosophische Lehrer waren die Sophisten Gorgias, Protagoras und – angeblich – der Herakliteer Kratylos.[9] /[10]

Ebenfalls beabsichtigte er, dass „er in das öffentliche Leben eingreifen wollte, sobald er Herr seiner selbst geworden wäre.“[11] Die Bekanntschaft mit Sokrates, dem in Athen berüchtigten Philosophen, veränderte Platons Leben grundlegend. Er war tief beeindruckt von Sokrates´ Lehre und wurde sein Schüler. All seine Schriften, die aus seiner Dichtkunst hervorgegangen waren, verbrannte Platon nach der Begegnung mit Sokrates; die Verbrennung seiner Dramen lässt die große Bewunderung für seinen Lehrer erahnen. Sieben Jahre lang – vom einundzwanzigsten bis zum achtundzwanzigsten Lebensjahr – hatte Platon vertrauten Umgang mit Sokrates.[12]

Platon erlebte den Peloponnesischen Krieg, die oligarchische Herrschaft der sogenannten Dreißig Tyrannen sowie die wiederkehrende Demokratie in Athen im Jahre 399 v. Chr. – in diesem Jahr wurde Sokrates als Erfinder neuer Götter und Verführer der Jugend schuldig gesprochen, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Hinrichtung seines Lehrers und Freundes führte dazu, dass sich Platon vom politischen Leben in Athen distanzierte; für ihn war es unverständlich, dass Sokrates in einer Stadt wie Athen sterben musste.[13] Der Tod Sokrates´ brachte für Platon zum Ausdruck, inwieweit es Widersprüche in einem Staat geben kann zwischen den tatsächlichen Verhältnissen und dem Wahren oder Ideellen; diese Erfahrung legte den Grundstein für Platons Staatsphilosophie.[14]

Nach der Hinrichtung von Sokrates flohen seine Schüler aus Athen, so auch Platon. Er unternahm ausgedehnte Reisen nach Megara, Kyrene, Italien und Ägypten. Bezeugt sind drei Reisen nach Sizilien, wo Platon sich hauptsächlich am Hofe der dortigen Herrscher Dionysios I. und Dionysios II. aufhielt, um seine Staatsutopie, seine ethisch-politischen Ideale, zur verwirklichen. Seine Versuche scheiterten; seine erste Sizilienreise endete damit, dass er aufgrund einer Intrige des Herrschers Dionysios auf einem Sklavenmarkt verkauft wurde. Mit Hilfe eines Freundes kam Platon wieder frei und gründete – wieder in Athen, im Jahre 387 v. Chr. – eine eigene philosophische Schule, die Akademie.

Der Name Akademie rührt vom Baugrundstück her; der Garten, auf dem die Akademie entstand, war dem Heros Akademos geweiht.[15] Von dieser Zeit an widmete er sich vornehmlich der philosophischen Schriftstellerei und den Lehrveranstaltungen an seiner Akademie. Diese Lehrveranstaltungen betrafen die Philosophie, die Mathematik und die Astronomie. Die Schüler (bzw. Studenten) lernten und lebten auf dem Gelände der Akademie. Sehr bedeutsam waren die lebendigen Gespräche zwischen Lehrern und Schülern; die sokratischen Methoden der Maieutik[16] und Elenktik[17] waren hilfreiche Mittel zur Begriffsbestimmung und Erkenntnisgewinnung. Vermutlich war man der Meinung, dass Gespräche mit anderen Menschen das Denken und die Erkenntnisgewinnung vorantreiben kann.

Die Akademie war nicht eine reine Lehr- und Forschungsanstalt, so wie es die heutigen Universitäten sind, sondern war auch eine Institution, in der die Menschenformung und -führung gepflegt wurde. Immer wieder drangen Impulse von der Akademie in das öffentliche Leben. Platon hat mit seiner Akademie seine ursprünglichen Ideale über den Staat nicht verwirklicht, aber trotzdem sehr wohl die Gesellschaft geprägt und beeinflusst, indem aus der Akademie Menschen hervorgingen, die `eigenständig denken konnten´ und Gegner von Diktatur und Tyrannei waren.[18] Als er starb, hinterließ Platon eine blühende Akademie, die bis ins Jahr 529 n. Chr. Bestand haben sollte.[19]

Platons erste philosophische Schrift war die Apologie, die Verteidigungsrede des Sokrates; hier wird mitgeteilt, was Sokrates dem großen Gerichtshof vortrug. Es ist ein Ausnahmefall im Bereich der antiken Philosophie, dass das Gesamtwerk Platons vollständig erhalten ist. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens hatte er mit seiner Akademie eine eigene Schule gegründet, in der seine Schriften vervielfältigt wurden; zweitens war Platon schon in damaliger Zeit populär und wurde oft diskutiert und kritisiert. Wie wichtig Platon das Gespräch bzw. den Dialog für die Erkenntnisgewinnung und das Denken einschätzte, zeigen seine philosophischen Schriften bereits äußerlich: Der Dialog ist die Form, in der er seine Philosophie postulierte.

In den Dialogen ist Sokrates der Wortführer, der mithilfe der Maieutik und Elenktik den Gesprächspartner dazu bringt, neue und wahre Erkenntnisse zu `gebären´ bzw. zu gewinnen – Platon hält sich zurück und lässt immer seinen Lehrer sprechen. Daher ist es schwierig zu erkennen, ob die Dialoge nun eher Sokrates´ Meinung wiedergeben oder Platons Ansichten offenbaren. Die platonische Philosophie erschließt sich dem Interpreten also nicht so leicht.[20] Im Folgenden jedoch wird vereinfachend angenommen, dass die von Platon stammenden Dialoge auch seine Philosophie wiedergeben.

Platons Schriften können unterschieden werden in `frühe Schriften´, in `Übergangsschriften´, in `klassische Schriften´ und in die `Spätwerke´. Die frühen Schriften – die Apologie und die Dialoge Kriton, Laches, Protagoras und Thrasymachos beispielsweise – sind noch sehr stark von der sokratischen Manier geprägt und behandeln bzw. bestimmen Begriffe wie Tapferkeit, Gerechtigkeit und Tugend. Die Abfassungszeit der frühen Schriften liegt vor Platons erster Sizilienreise. Die Übergangsschriften kündigen die platonische Ideenlehre an; hierher gehören der Dialog Lysis, der von Freundschaft handelt und der Dialog Kratylos, der besonders signifikant für Platons Sprachphilosophie ist; die Dialoge Euthydem und Gorgias kritisieren die Sophisten wegen ihrer Methoden und Weltanschauung.[21]

Die klassischen Schriften beschreiben und erläutern die Ideenlehre Platons, so beispielsweise die Dialoge Phaidon und Symposion. Seine Staatsphilosophie bzw. Utopie ist in den zehn Büchern vom Staat enthalten, der Politeia. Sein Ziel ist: „Das Richtige und Wahre, die Welt der Ideale, sollen allüberall erkannt werden, damit wir danach leben können: `Im Himmel liegen die Urbilder bereit, damit jeder, der guten Willens ist, sie sehe und sein eigenes Selbst danach gründe.´“[22]

Platon postuliert in seiner Philosophie ein dualistisches Weltbild: Es gibt die Welt der Sinnendinge (der sinnlich wahrnehmbaren Dinge) und die Welt der Ideen. Wir leben in der Sinnenwelt; hier können wir Dinge mit unseren Sinnen wahrnehmen, hier ist alles der Veränderung unterworfen. Die Ideen in der jenseitigen Welt bestehen ewig. So bleibt die Idee Mensch unberührt, wenn einzelne Menschen sterben. In dieser Ideenwelt existieren Ideen bzw. Urbilder, welche die einzelnen Sinnendinge formen und unabhängig von sowie zeitlich vor den Sinnendingen existieren. Die Vorstellung der Teilhabe, dass die Sinnendinge an den Ideen partizipieren, jedoch nicht vollständig das Grundsätzliche mit ihnen gemein haben, verbindet Sinnendinge und Ideen.

Die menschliche Seele ist durchdrungen vom Eros, der leidenschaftlichen Liebe zur Erkenntnis.[23] Eros ist ein Dämon; seine Eltern sind Poros, der alles zu lösen imstande ist, und Penia, die immerwährend Probleme hat. Platon vergleicht im Symposion seinen Lehrer Sokrates mit Eros: Beide streben nach Erkenntnis, haben Schwierigkeiten dabei, wissen sich aber immer zu helfen. Eros ist eine Kraft, die den Menschen nach Vollkommenheit streben lässt. Stationen auf dieser „zweitbesten Fahrt“[24] zur Erkenntnis sind erstens die sinnliche Liebe zu einem schönen Körper, zweitens die Liebe zum allgemein Schönen aller Körper, drittens die Liebe zur Schönheit in den Seelen, viertens die Liebe zum Schönen der menschlichen Tätigkeiten und Gesetzen und fünftens die Liebe zur Schönheit der Erkenntnisse. Das Ziel seiner Philosophie aber ist die Liebe zur Vollkommenheit der Schönheit selbst, und diese liegt in der Idee des Guten.[25]

Die Seele hat laut Platon – und dies ist das Mystische seiner Philosophie – vor der Geburt die Ideenwelt (und somit die Idee des Guten) schon einmal gesehen, doch mit der Geburt wird die Seele im Körper gefangen, und das Wissen über die Ideenwelt wird verdrängt. Philosophieren hat nun den Zweck der Wiedererinnerung (anamnesis); mittels exakter Dialektik – dies ist das begriffliche Denken der „zweitbesten Fahrt“, welches im Gegensatz zur Sinnenwelt unveränderlich ist – sucht der Philosoph sich zurückzuerinnern und erkennt irgendwann die Ideen, die wahren Gegenstände unseres Erkennens, hinter bzw. über den Sinnendingen.[26] Der Zentralbegriff der platonischen Philosophie, obwohl er so nicht von Platon genannt wird, ist Bildung; gebildet sind Menschen, die mithilfe genauester Begriffsbestimmung bemüht sind, sich wieder an die Ideenwelt zu erinnern. Diese Menschen sind Philosophen. Nur Menschen, die sich bemühen, die Idee des Guten zu erkennen und zur Herrschaft im Staat zu verhelfen, dürfen herrschen. Platon fordert: „Die Philosophen müssen Könige werden oder die Könige Philosophen.“[27]

Der Dialog Parmenides beschäftigt sich mit den Aporien, also mit den logischen Schwierigkeiten der platonischen Ideenlehre; der Dialog Theaitetos verfolgt erkenntnistheoretische Probleme. Platons Spätwerke beschäftigen sich zum Teil mit den Problemen der Begriffsbestimmung – im Sophistes beispielsweise wird nach dem Begriff des Sophisten gefragt –; im Allgemeinen wird in den Dialogen Parmenides, Theaitetos und Sophistes der Entwurf der Ideenlehre kritisch diskutiert, revidiert und modifiziert; die Schrift Timaios enthält Platons Erkenntnisse über Kosmologie.[28] Es wird ersichtlich, dass sich Platon mit sehr vielen Themen auseinander setzte. Aufgrund der formalen Gegebenheiten und der Wortwahl können seine Schriften vielfach gedeutet werden.

Zahlreiche Themengebiete und diverse Interpretationsmöglichkeiten machten Platons Philosophie nicht nur in seiner Zeit populär, sondern führten auch zu einer Rezeption seiner Schriften in allen historischen Zeiten; auch in der Gegenwart ist die platonische Philosophie reizvoll.

Unerlässlich für die Erkenntnis ist das Beherrschen der Kunst der Begriffsbestimmung, der Dialektik. Für Platon war es wichtig, sich im Gespräch über die Begriffe, die man verwendet, klar zu werden bzw. sich der Ideenwelt anzunähern. Die Dialektik ist ein Einigwerden über Begriffe bzw. ein Sprechen über Sprache; Ideen können – vernachlässigt man das Mystische der Ideenlehre – als Begriffe bezeichnet werden, und Begriffe gibt es lediglich in der menschlichen Sprache. Unter diesem Aspekt kann man alle platonischen Dialoge als sprachphilosophische Schriften betrachten, da ja in mehr oder minder allen Dialogen Begriffe als Bestandteil der Sprache behandelt werden. Insbesondere die Ideenlehre ist signifikant für Platons Sprachphilosophie.

Dennoch gibt es platonische Dialoge, die sich in besonderem Maße mit der Sprachphilosophie beschäftigen. Dazu gehören Kratylos, in diesem Dialog – er enthält den bedeutsamsten und größten Teil der platonischen Sprachphilosophie – geht es um die Richtigkeit der Benennungen, Theaitetos und Sophistes; ebenfalls zu nennen sind Phaidros und Platons Siebenter Brief.

2.2. Platons Sprachphilosophie

Die Sprache (bzw. das Gespräch oder der Dialog) ist sehr bedeutsam für Platon, da sie die Begriffe bereitstellt, die für das Philosophieren unerlässlich sind. Doch durch die Sprache können auch Fehler im Denken entstehen und somit die erwünschte Erkenntnisgewinnung behindern. Platon untersucht in seinen für die Sprachphilosophie signifikanten Dialogen den erkenntnistheoretischen Wert der Sprache und bemüht sich unter anderem um die „Klärung des Wirklichkeits- und Seinsbezugs der Sprache“.[29]

Platons „Dialog Kratylos ist das älteste vollständig erhaltene Dokument europäischer Sprachphilosophie“ und „knüpft unmittelbar an zeitgenössische Fragestellungen und Kontroversen an.“[30] Darin wird das Problem diskutiert, ob die Richtigkeit der Benennungen – oder allgemein: der Sprache – durch den natürlichen Bezug von Natur und Sprache oder durch die Konvention zwischen Individuen, die sich der Sprache bedienen, gegeben ist; d.h. es wird die Frage formuliert, ob die Bezeichnungen für die Dinge naturgemäß richtig sind oder durch Vereinbarung zwischen den Sprechern entstehen. Schon vor Platon haben die Vorsokratiker diese Frage diskutiert; allein die Tatsache, dass der Ausdruck Logos zahlreiche verschiedene Bedeutungen haben kann/konnte, ließ die vorsokratischen Philosophen dieses sprachbezogene Problem erörtern.[31] Platon nun greift in Kratylos die verschiedenen Positionen zu dieser Problematik auf und betrachtet sie; der Dialog wird so gestaltet, dass Sokrates – er ist bekanntlich in den platonischen Dialogen der Wortführer und lenkt in sokratischer Manier das philosophische Gespräch – in ein Streitgespräch zweier Männer hineingezogen wird. Diese Männer sind Kratylos – Platons angeblicher Lehrer – und Hermogenes, die die zwei unterschiedlichen Thesen vertreten. Kratylos behauptet, „jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung, und nicht das sei ein Name, wie einige unter sich ausgemacht haben etwas zu nennen, indem sie es mit einem Teil ihrer besonderen Sprache anrufen; sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen [Griechen] und Barbaren [Nicht-Griechen] insgesamt die nämliche.“[32]

Hermogenes hingegen lässt sich nicht davon überzeugen, dass „es eine andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet.“[33] Mit diesen beiden gegensätzlichen Meinungen bezieht sich Platon auf die zeitgenössische Ansicht, dass die göttlichen Werke (bzw. die Werke der Natur) unfehlbar sind, immer gleich bleiben und stets richtig sind; die menschlichen Werke dagegen – auch die menschliche Sprache – sind fehlbar und vor Irrtümern nicht gefeit.[34] Wenn auch auf den ersten Blick die Fragestellung wie oben erläutert erscheinen mag, so geht es nicht darum, ob die Sprache Ergebnis der Natur oder der Übereinkunft ist; Sokrates und Hermogenes klären in ihrem Gespräch, dass für die Bildung der Worte bzw. der Sprache ein „Gesetzgeber“[35] oder „Wortbildner“[36] verantwortlich zeichnete, der auch andere „Gebräuche einrichtet“.[37] Die Frage ist, wie dieser sogenannte „Wortbildner“ vorgegangen ist; konnte er willkürlich verfahren oder musste er sich an natürliche Vorgaben richten?[38] Eine andere Formulierung der Frage ist: Wie sieht das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, von Benennung und Ding, aus; gründet dieses Verhältnis auf Gegebenheiten der Natur oder auf Übereinkunft?[39]

Sokrates formuliert mit seinen Gesprächspartnern im weiteren Dialogsverlauf extremere Positionen zu den ursprünglich vorgebrachten Thesen: Hermogenes´ These wird insofern erweitert, als dass gesagt wird, jedes Individuum sei in der Lage, für sich selbst die sprachlichen Bezeichnungen festzusetzen. Die gegensätzliche These sagt nun aus, dass es immer nur jeweils eine korrekte Lautgestalt für eine Bezeichnung geben könne. Die Konsequenz ist, dass es laut den „radikalisierten Fassungen [...] nur noch richtige Namen geben [kann]“.[40] Laut der konventionalistischen These ist jeder noch so willkürlich gesetzte Name richitg; die These über die naturgegebene Richtigkeit der Benennungen besagt, dass nur die korrekte Lautgestalt des Namens die Bezeichnung `Name´ verdient – alle anderen Lautgebilde sind hier unbedeutend und sagen nichts aus.

Im Paradigma dieser beiden Thesen wurde die Sprache um ihren Wahrheits- und Erkenntniswert gebracht, da man wahre Bezeichnungen nicht mehr von falschen unterscheiden kann. Im Kratylos scheint Platon davon auszugehen, dass Einzelworte wahr oder falsch sein können, d.h. dass man in der Lage ist zu entscheiden, ob eine Bezeichnung für ein Ding angemessen oder nicht angemessen ist. Beispielsweise ist es hiernach `richtiger´ bzw. angemessener, das `Möbelstück mit Stühlen drumherum´ mit der Buchstabenfolge `Tisch´ zu bezeichnen als mit der Buchstabenfolge `Boden´. Dieser Aussage liegt die Vorstellung von einem „akkumulativen Satzmodell“[41] zugrunde, welches einen Satz als Summe seiner Einzelwörter begreift; jeder Satz, in dem ein Wort einen Gegenstand unangemessen benennt, wäre demnach falsch. Später revidierte Platon diese naive Vorstellung über den Satz und entwickelte ein weiterführendes Satzmodell.[42]

Sokrates weist im fortschreitenden Gespräch die beiden radikalisierten Thesen zurück, und dabei schneidet Platon zahlreiche sprachwissenschaftliche Themen an, beispielsweise eine diachrone – geschichtliche – Entwicklung der Sprache mit entsprechenden Entwicklungen im Lautbestand.[43] Im Gespräch mit Hermogenes vergleicht Sokrates das Reden und Benennen mit handwerklichen Tätigkeiten. Ein Handwerker kann jedoch nicht willkürlich mit Werkzeugen und Materialien hantieren, sondern er muss sachgerecht und der Natur des Materials angemessen arbeiten. Sokrates überträgt dieses Bild auf das Entstehen der Sprache bzw. auf das Vorgehen des „Wortbildners“: „Also, Bester, muß wohl auch den für jedes seiner Art nach gearteten Namen jener Gesetzgeber in den Tönen und Silben niederzulegen wissen und so, indem er auf jenes sieht, was das Wort wirklich ist, alle Worte machen und bilden, wenn er ein tüchtiger Bildner der Wörter sein will.“[44]

Damit wird begründet, dass auch das Sprechen sachgerechtes Handeln fordert, und ebenfalls die Werkzeuge – in Falle der Sprache die Worte – müssen den Materialien bzw. dem Gegenstand angemessen sein. Diese Argumentation bringt Hermogenes zu dem Eingeständnis, dass man bzw. der „Wortbildner“ beim Benennen nicht willkürlich, sondern den Dingen angemessen gehandelt haben musste. Wenn man angemessen handelt, kann man auch weniger angemessen handeln; daraus ergibt sich, dass ein Wort besser und ein anderes Wort schlechter den jeweiligen Bezugsgegenstand benennt; somit existieren ein Wahrheitskriterium – es gibt ein `wahr´ oder `falsch´ – und ein Seinsbezug der Sprache.[45]

Doch ist dies wirklich so? Es ist problematisch, dass der „Wortbildner“ sich eine Kenntnis von der Wirklichkeit außerhalb des Wortgebrauchs verschafft und danach die Worte entsprechend dieser Erkenntnis gebildet haben müsste. Somit fordert die Wortbildung eine Wirklichkeitserkenntnis vor der Sprache – nur dann könnte der „Wortbildner“ beurteilen, ob die Sprache der Wirklichkeit nachgebildet sei oder nicht. Doch eine vorsprachliche Wirklichkeitserkenntnis würde die Sprache als Erkenntnismittel überflüssig machen.[46] Ist eine Wirklichkeitserkenntnis vor der Sprache überhaupt möglich?

„In dieser Auffassung vom Wort als Werkzeug wird zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie der pragmatische Aspekt der Sprache klar herausgestellt.“[47] Man muss mit dem Werkzeug Wort handeln bzw. kommunizieren können; weiterhin sollte das Werkzeug Wort sachgerecht behandelt werden, d.h. es sollte sich in angemessener Weise auf den Bezugsgegenstand beziehen. Damit sind die für Platon zentralen Funktionen der Sprache – kommunikative Leistung und Seinsbezug – genannt.

[...]


[1] vgl. Spierling 1992, S. 289ff. Martin Heidegger (1889-1976).

[2] Borsche 1996, S. 8.

[3] Meyers Taschenlexikon 1999, S. 3264.

[4] Müller / Halder 1967, S. 166.

[5] ebd.

[6] ebd.

[7] vgl. Müller / Halder 1967, S. 136.

[8] Kraus 1996, S. 15.

[9] vgl. Spierling 1992, S. 53.

[10] vgl. Kraus 1996, S. 15.

[11] Hirschberger 1980, S. 72.

[12] vgl. Spierling 1992, S. 53.

[13] vgl. Kraus 1996, S. 15.

[14] vgl. Gaarder 1999, S. 101.

[15] vgl. Hirschberger 1980, S. 73.

[16] Maieutik = Hebammenkunst. Wie eine Hebamme hilft er seinen Gesprächspartnern dabei, wahre Gedanken zu `gebären´; dies tut er mit passenden Fragen und mit Hilfe der sokratischen Ironie (die Unterstellung, dass der Gesprächspartner mehr weiß als er selbst).

[17] Die Elenktik ist parallel zu der Untersuchung eines Neugeborenen zu sehen: Der `neue´ Gedanke seines Gesprächspartners wird von Sokrates durch passende Fragen überprüft und, wenn der Gedanke nicht völlig richtig ist, widerlegt.

[18] vgl. Hirschberger 1980, S. 74.

[19] vgl. Kraus 1996, S. 18.

[20] ebd.

[21] vgl. Hirschberger 1980, S. 75. Wie die Rhapsoden waren die Sophisten reisende Lehrer, die ihr Wissen benutzten, um Reichtum zu erlangen; dies war für Platon verwerflich, war es doch das Wissen, das zählte, und nicht der Reichtum.

[22] Hirschberger 1980, S. 75.

[23] vgl. Spierling 1992, S. 54.

[24] „Zweitbeste Fahrt“ meint die Erfassung der hinter bzw. über der wahrnehmbaren Welt stehenden Ideen mittels Dialektik; eine „erstbeste Fahrt“ wäre in diesem Paradigma das unreflektierte Übernehmen der laut Platon nicht verlässlichen Sinneseindrücke.

[25] vgl. Spierling 1992, S. 54.

[26] ebd., S. 55.

[27] Spierling 1992, S. 58.

[28] vgl. Hirschberger 1980, S. 76. „Dieser Dialog hat auf Jahrhunderte hinaus das Weltbild des Abendlandes geformt.“

[29] Kraus 1996, S. 19.

[30] ebd.

[31] vgl. Prechtl 1999, S. 5. Logos kann Vernunft wie Sprache bedeuten. „Dieser Begriff besagt nämlich sowohl Rede und Überlegung wie Vernunft.“ (Keller 1989, S. 16.)

[32] Platon: Kratylos 1974, S. 397.

[33] ebd., S. 399.

[34] vgl. Prechtl 1999, S. 5f.

[35] Platon: Kratylos 1974, S. 415.

[36] ebd.

[37] ebd.

[38] vgl. Kraus 1996, S. 20.

[39] vgl. Keller 1989, S. 16f.

[40] Kraus 1996, S. 21.

[41] Kraus 1996, S. 21.

[42] vgl. ebd.

[43] vgl. ebd., S. 24.

[44] Platon: Kratylos 1974, S. 417.

[45] vgl. Kraus 1996, S. 22.

[46] vgl. Prechtl 1999, S. 6.

[47] Kraus 1996, S. 22.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Mit Sprache über Sprache - Gegenüberstellung und Rezeption der (Sprach-)Philosophie von Platon und Aristoteles
Hochschule
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
41
Katalognummer
V31964
ISBN (eBook)
9783638328241
ISBN (Buch)
9783638651592
Dateigröße
555 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprache, Gegenüberstellung, Rezeption, Platon, Aristoteles
Arbeit zitieren
Holger Vos (Autor:in), 2001, Mit Sprache über Sprache - Gegenüberstellung und Rezeption der (Sprach-)Philosophie von Platon und Aristoteles, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31964

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Mit Sprache über Sprache - Gegenüberstellung und Rezeption der (Sprach-)Philosophie von Platon und Aristoteles



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden