Die System-, Prozess- und Policyfunktionen der baltischen Staaten im Vergleich

Gründe für Estlands Vorsprung in der Demokratiequalität gegenüber Lettland und Litauen


Bachelorarbeit, 2012

63 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Vorstellung der Indizes zur Demokratiemessung
1.1.1 BTI
1.1.2 Weitere Indizes
1.2 Belege für Estlands Vorsprung
1.3 Struktureller Funktionalismus
1.4 Methodisches Vorgehen
1.4.1 Differenzmethode
1.4.2 Struktur der Untersuchung

2. Vergleich der Funktionsbündel auf Grundlage des BTI 2012
2.1 Systemfunktionen
2.2 Prozessfunktionen
2.3 Policyfunktionen
2.4 Zwischenfazit

3. Untersuchung der Prozessfunktionen
3.1 Parteiensysteme
3.2 Verbändesysteme
3.3 Wahlsysteme
3.4 Zwischenfazit

4. Untersuchung der Policyfunktionen
4.1 Gewaltenteilung
4.2 Korruption
4.3 Judikative
4.4 Zwischenfazit

5. Fazit

Literatur- und Quellenangaben

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1: Funktionsweise der Differenzmethode

Tabelle 2: Bewertung der Systemfunktionen

Tabelle 3: Bewertung der Prozessfunktionen

Tabelle 4: Bewertung der Policyfunktionen

Tabelle 5: Platzierungen der EU-Mitgliedsstaaten im CPI 2011

Tabelle 6: Bewertungen der Prozess- und Policyfunktionen

Abbildung 1: Disproportionalitätswirkung der jungen Demokratien Osteuropas

1. Einleitung

Seit den als ‚singende Revolution‘ bezeichneten nationalen Bewegungen, die 1991 schließlich zur Unabhängigkeit von der Sowjetunion führten, sind die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen eigenständige Staaten.[1] Die rund zwei Jahrzehnte alten Republiken gelten inzwischen als konsolidierte Demokratien. Viele Gemeinsamkeiten lassen die Staaten sehr ähnlich erscheinen, neben der Staatsgründung im selben Jahr sind Estland, Lettland und Litauen beispielsweise alle 2004 sowohl der Europäischen Union als auch der NATO beigetreten. Zudem sind alle drei Staaten ähnlich groß, haben eine ähnliche Bevölkerungsstruktur und liegen geographisch in Nordosteuropa am Baltischen Meer dicht beieinander. Trotz dieser Gemeinsamkeiten hat Estland, wie sich im Folgenden zeigen wird, inzwischen einen Vorsprung in der Demokratiequalität gegenüber den beiden anderen baltischen Staaten, obwohl alle drei Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf demselben Demokratielevel begonnen haben. Welches sind die Faktoren, die zu dieser höheren Entwicklung geführt haben? Das ist der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie. Zunächst werden einleitend neben den theoretischen Grundlagen und der Methodik auch die Indizes erläutert, die in dieser Studie behandelt werden. Anschließend folgt die Analyse der Variablen.

1.1 Vorstellung der Indizes zur Demokratiemessung

1.1.1 BTI

Einen wichtigen Teil der Analyse nimmt in der vorliegenden Untersuchung der von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebene Bertelsmann Transformation Index (BTI) ein. Dieser Index untersucht Entwicklungs- und Transformationsstaaten. Er zeigt auf, inwieweit jeder einzelne Staat einen Wandel in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft gestaltet.[2] Insgesamt beinhaltet der BTI 121 Länder, die nicht den Geberstatus im Entwicklungshilfeausschuss der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben, die als souveräne Staaten gelten und die mehr als zwei Millionen Einwohner haben. Dazu gehören auch Lettland und Litauen. Außerdem werden sieben weitere Länder, darunter Estland, als Ausnahmen mit in das Ranking aufgenommen. Diese Staaten erfüllen mindestens eine der oben genannten Bedingungen nicht, werden aber zur Erklärung besonders interessanter Entwicklungs- und Transformationsprozesse benötigt.[3] Estland etwa hat weniger als zwei Millionen Einwohner und gehört der OECD an. So ergeben sich am Ende die 128 zu untersuchenden Staaten. Der erste Bertelsmann Transformation Index wurde 2003 veröffentlicht. Die vorliegende Arbeit enthält die Daten des aktuellen BTI 2012, der im März 2012 veröffentlicht wurde und der den Erhebungszeitraum Januar 2009 bis Januar 2011 umfasst.

Das Besondere des BTI gegenüber vergleichbaren Indizes ist die Unterteilung in den Status-Index und den Management-Index mit zwei getrennt voneinander aufgestellten Rankings. Der Status-Index beurteilt den Erfolg der Staaten auf dem Weg zu einer rechtsstaatlichen Demokratie und sozialpolitisch flankierten Marktwirtschaft. Der Management-Index hingegen beurteilt die Qualität des Transformationsmanagements in den einzelnen Staaten.[4] Die beiden Rankings entstehen durch die Bewertung von insgesamt 52 Einzelfragen, die in 17 Kriterien unterteilt sind. Für die vorliegende Arbeit ist der Status-Index Demokratie von Interesse, der neben dem Status-Index Marktwirtschaft einer der beiden Unterindizes des Status-Index ist. Der Status-Index Demokratie besteht aus den fünf Kriterien ‚Staatlichkeit‘, ‚Politische Partizipation‘, ‚Rechtsstaatlichkeit‘, ‚Stabilität demokratischer Institutionen‘ und ‚Politische und gesellschaftliche Integration‘ und beinhaltet insgesamt 18 Fragen. Diese reflektieren den Entwicklungsstand der Demokratie in den Ländern. Somit können durch die Untersuchung des Status-Index Demokratie im Verlauf dieser Arbeit Aussagen über die Demokratiequalität von Estland, Lettland und Litauen getroffen werden.[5]

1.1.2 Weitere Indizes

Neben dem Bertelsmann Transformation Index, der in dieser Arbeit detailliert behandelt wird, werden Ergebnisse vier weiterer Indizes herangezogen, um Estlands Vorsprung in der Demokratiequalität gegenüber Lettland und Litauen zu verdeutlichen oder um Demokratievariablen zu untersuchen. Die amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House veröffentlicht seit 1973 jährlich den Bericht ‚Freedom in the World‘, in dem sie den Grad der Demokratie und der politischen Freiheit in 195 Ländern angibt. Die Länder werden auf einer Siebenerskala als frei, teilweise frei oder unfrei eingestuft. Nach dem aktuellen ‚Freedom in the World 2012‘ gelten 24% aller untersuchten Länder als unfrei, 31% aller Länder als teilweise frei und 45% aller Länder als frei. Alle drei baltischen Staaten werden als frei eingestuft.[6]

Der zweite genannte Index ist die ‚Political Terror Scale‘. Dieser amerikanische Demokratieindex misst seit 1976 jährlich den Grad der politischen Gewalt und des Terrors durch den Staat in 177 Staaten und präsentiert die Ergebnisse auf einer Fünferskala. 1 ist hierbei die beste und 5 die schlechteste Bewertung. Quellen für die ‚Political Terror Scale‘ sind zum einen die jährlich veröffentlichten Ländergutachten der Menschenrechtsorganisation Amnesty International und zum anderen die ebenfalls jedes Jahr veröffentlichten Ländergutachten des amerikanischen Außenministeriums. Die Ergebnisse der beiden Gutachten werden codiert und anschließend in der ‚Political Terror Scale‘ veröffentlicht.[7]

Der dritte Index ist der ‚Corruption Perception Index‘ (CPI), der seit 1995 jährlich von der nichtstaatlichen Regierungsorganisation ‚Transparency International‘ veröffentlicht wird. Der CPI listet Staaten nach dem Grad auf, in dem Korruption bei politischen Amtsträgern wahrgenommen wird. Bis zu 13 verschiedene externe Untersuchungen fließen in den CPI mit ein. Auf dieser Grundlage erhält jeder Staat eine Wertung auf einer Skala von 1 bis 10, wobei 10 die geringste Wahrnehmung von Korruption anzeigt und das beste Ergebnis ist. So entsteht ein Ranking von zurzeit 183 Staaten.[8]

Des Weiteren werden in der Untersuchung die Ergebnisse des ‚NGO Sustainability Index for Central and Eastern Europe and Eurasia‘ miteinander verglichen. Dieser von der Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) veröffentlichte Index untersucht die Stärke und Entwicklungsfähigkeit der Verbände- und Organisationssysteme in 29 Staaten Osteuropas und Zentralasiens und wird seit 1998 jährlich veröffentlicht. Auf einer Siebenerskala erhalten die Staaten Bewertungen in sieben Kategorien, die die Verbändesysteme betreffen, sowie eine Gesamtbewertung. Zudem veröffentlicht die USAID detaillierte Länderberichte zu jedem der untersuchten Staaten.[9]

Generell werden zur Analyse die aktuellsten Versionen der meist jährlich erscheinenden Indizes verwendet. Auch bei den Analysen von Variablen ohne Bezug zu einem der Demokratieindizes wird darauf geachtet, dass die neusten Daten, die verfügbar sind, auch genutzt werden. Nur so können die Gründe für Estlands aktuellen Vorsprung in der Demokratiequalität ermittelt werden.

1.2 Belege für Estlands Vorsprung

Bei der Betrachtung eines einzelnen Indexes, der die Demokratiequalität von Staaten untersucht, zeigen sich nur leichte Unterschiede in der Bewertung Estlands im Vergleich mit Lettland und Litauen. Betrachtet man dagegen mehrere Indizes und diese zudem noch zu mehreren Zeitpunkten, ergibt sich ein deutliches Bild. Im Status-Index des ersten veröffentlichten BTI im Jahr 2004 lag Lettland auf Platz 2 aller untersuchter Staaten und Litauen auf Platz 12.[10] Estland belegte mit Platz 6 den mittleren Rang der baltischen Staaten. Mittlerweile hat sich das geändert, im aktuellen BTI 2012 liegt Estland zusammen mit Uruguay auf dem vierten Platz, Litauen belegt lediglich Platz 7 und Lettland Platz 13 des Status-Indexes.[11] Ein ähnliches Ergebnis erhält man bei der Betrachtung der Political Terror Scale. Im ersten Erhebungsjahr 1992 wurden Lettland und Litauen mit der höchsten Bewertung 1 auf der Fünferskala vom amerikanischen Außenministerium ausgezeichnet. Estland dagegen erhielt die Bewertung 2. In der aktuellen ‚Political Terror Scale 2010‘ dagegen bekommt nur Estland die höchste Bewertung vom amerikanischen Außenministerium. Lettland und Litauen erhalten eine 2, Estland hat auch hier die Vergleichsstaaten überholt. Die Ergebnisse von Amnesty International lagen nur unvollständig vor und werden deshalb nicht berücksichtigt.[12] Im Index ‚Freedom in the World‘ der Nichtregierungsorganisation Freedom House wurden im ersten Erhebungsjahr 1991 alle baltischen Staaten exakt gleich bewertet. Seit 2007 wird Estland jedoch durchgehend besser bewertet als Lettland und gleich bewertet wie Litauen.[13]

Theorien wie die Modernisierungstheorien gehen davon aus, dass eine höhere ökonomische Entwicklung auch zu einer höheren Demokratiequalität beiträgt.[14] Daher lohnt sich ein Seitenblick auf die wirtschaftliche Entwicklung der baltischen Staaten, auf die in dieser Untersuchung nicht näher eingegangen wird. Dieser zeigt, dass Estland sich auch dort einen Vorsprung gegenüber den beiden anderen baltischen Staaten erarbeitet hat. Als einziger der drei zu untersuchenden Staaten ist Estland Mitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Im Gegensatz zu Lettland und Litauen hat Estland bereits den Euro als Währung eingeführt. Zudem hat Estland das höchste Pro-Kopf-Einkommen des Baltikums.[15] Eine Betrachtung all dieser aufgeführten Faktoren rechtfertigt die Untersuchung mit der Annahme, dass Estland gegenüber Lettland und Litauen einen Vorsprung in der Demokratiequalität hat.

1.3 Struktureller Funktionalismus

Die theoretische Grundlage der vorliegenden Studie ist der strukturelle Funktionalismus. Hauptgedanke dieser speziellen Ausdifferenzierung der Systemtheorie ist, dass alle politischen Systeme bestimmte Funktionen erfüllen müssen.[16] Gabriel Almond, einer der führenden Vertreter dieses Ansatzes, unterscheidet drei Funktionsbündel, die in einer intakten Demokratie gegeben sein müssen: Systemfunktionen, Prozessfunktionen und Policyfunktionen.[17]

Die Systemfunktionen bestimmen laut Almond, ob ein politisches System erhalten bleibt oder sich ändert. Zu den Systemfunktionen gehört die politische Sozialisation, die politische Rekrutierung und die politische Kommunikation. Politische Sozialisation findet in Familien, in der Schule oder auch in den Medien statt. Alle Vorgänge, die zur Entwicklung, Verstärkung und Veränderung der politischen Einstellung beitragen, sind Teil der politischen Sozialisation. Die Auswahl der politischen Führungsschicht in einem Staat gehört zur politischen Rekrutierung. Die politische Kommunikation schließlich beinhaltet die Informationsflüsse der Gesellschaft, die Einfluss auf das politische System nehmen.[18] Zusammen sind die Systemfunktionen der Input des politischen Systems.

Das Funktionsbündel der Prozessfunktionen heißt so, da diese eine direkte Rolle in dem Prozess der Politikdurchführung spielen. Die Prozessfunktionen setzen den Input des politischen Systems in den Output um. Bevor in der Politik Entscheidungen überhaupt getroffen werden können, müssen Menschen oder Menschengruppen artikulieren, was sie von der Politik erwarten. Dies geschieht durch die Funktionen Interessenartikulation, Intressenaggregation, 'policy making' und Politikimplementierung.[19]

Die Policyfunktionen schließlich sind der Output des politischen Systems, die Ausführungen der politischen Prozesse. Diese „umfassen verschiedene Formen von Regulation von Verhalten, die Beschaffung von Ressourcen etwa in Form von Steuern und die Verteilung von Vorteilen und Dienstleistungen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen.“[20]

Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass Systemfunktionen, Prozessfunktionen und Policyfunktionen in einer konsolidierten Demokratie intakt sind. Durch die Anwendung des strukturellen Funktionalismus auf die baltischen Staaten und einen dortigen Vergleich der drei Funktionsbündel wird sich zeigen, worauf Estlands Vorsprung in der Demokratiequalität gegenüber Lettland und Litauen zurückzuführen ist.

1.4 Methodisches Vorgehen

1.4.1 Differenzmethode

Die vorliegende Untersuchung wird nach der Differenzmethode von John Stuart Mill aus dem Jahr 1843 durchgeführt. Der britische Ökonom und Philosoph gilt als einer der Hauptvertreter des modernen Empirismus. Mills Methodenlehre, die ursprünglich für die Naturwissenschaften konzipiert wurde, lässt sich grundsätzlich auch für den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften nutzen, da auch diese bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind.[21] Die vier formulierten Forschungsmethoden Mills sind neben der Methode der Übereinstimmung, der Methode der Reste und der Methode der sich begleitenden Veränderungen auch die Methode der Unterscheidung, also die Differenzmethode.[22] Diese ist wie folgt definiert:

„Wenn ein Fall, in welchem die zu erforschende Naturerscheinung eintrifft, und ein Fall worin sie nicht eintrifft, alle Umstände, mit Ausnahme eines einzigen, gemein haben, und dieser eine nur in dem ersten Falle vorkommt, so ist der Umstand, durch welchen allein die zwei Fälle sich unterscheiden, die Wirkung, oder Ursache, oder ein nothwendiger Theil der Ursache der Naturerscheinung.“[23]

Die Differenzmethode gehört zu den grundlegenden Methoden der vergleichenden Politikwissenschaft und ist für diese Untersuchung besonders geeignet. Die zu vergleichenden Fälle müssen sich sehr ähnlich sein und sollten sich möglichst nur in der zu untersuchenden Variable unterscheiden. Dies ist gegeben, die baltischen Staaten sind sich in den meisten Variablen wie Geschichte, Politik, Größe, Bevölkerungsstruktur und geographische Lage sehr ähnlich und unterscheiden sich wie bereits ausgeführt - in der Variable Demokratiequalität. In der vorliegenden Untersuchung gilt es, die ähnlichen unabhängigen Variablen Systemfunktionen, Prozessfunktionen und Policyfunktionen der baltischen Staaten auf ihre Unterschiede hin zu analysieren. Durch diese Analyse kann der Grund für die unterschiedlichen Bewertungen der abhängigen Variable Demokratiequalität festgestellt werden. Bei der Differenzmethode werden also so lange unabhängige Variablen eliminiert, bis schließlich die auf die Forschungsfrage passenden Variablen zur Erklärung der Disparität der abhängigen Variablen übrig bleiben.

Die folgende Abbildung ist ein Beispiel für die Funktionsweise der Differenzmethode:

Tabelle 1: Funktionsweise der Differenzmethode[24]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In diesem Beispiel ist die fettgedruckte Variable X4 die erklärende Variable für die abhängige Variable Y, da ihre Ausprägung im Gegensatz zu den anderen unabhängigen Variablen bei Estland anders ist als bei den Vergleichsstaaten Lettland und Litauen.

Nicht verwechselt werden darf die Differenzmethode mit dem in der vergleichenden Politikwissenschaft ebenfalls häufig anzutreffendem most similar systems design. Diese Methode stellt ein Fallauswahlverfahren da, dessen Ziel es ist, möglichst die analytisch effizientesten Staaten für den Vergleich auszuwählen.[25] Mill hingegen legt mit der Differenzmethode ein Analyseverfahren des Vergleichs dar.[26] Beide Methoden haben also ähnliche Ziele aber unterschiedliche Herangehensweisen.

1.4.2 Struktur der Untersuchung

Der analytische Vergleich von Estland, Lettland und Litauen wird in zwei Teiluntersuchungen durchgeführt. Zunächst werden die System-, Prozess- und Policyfunktionen der baltischen Staaten auf Grundlage der Fragen des Bertelsmann Transformation Index 2012 miteinander verglichen um herauszufinden, auf welche Teilbereiche Estlands Vorsprung in der Demokratiequalität zurückzuführen ist. Im zweiten Schritt folgt eine genaue Analyse der Funktionsbündel, in denen Estland eine klar bessere Bewertung bekommt als Lettland und Litauen. Durch diese Unterteilung können schon im ersten Schritt unabhängige Variablen, die nicht zur Erklärung der abhängigen Variablen Demokratiequalität beitragen, eliminiert werden.[27] So ist eine detaillierte Untersuchung der unabhängigen Variablen im vorgegebenen Umfang möglich.

Die Analyse der Variablen in der zweiten Teiluntersuchung ist immer gleich strukturiert. Zunächst wird einleitend geklärt, inwiefern die Variable einen Einfluss auf die Demokratiequalität der Staaten hat. Anschließend werden die Ausprägungen der Variablen in den drei baltischen Staaten untersucht. Zum Schluss werden die unterschiedlichen Ausprägungen miteinander verglichen. So ist eine gewisse Übersichtlichkeit gegeben und am Ende jeder Untersuchung wird deutlich, ob die gerade analysierte Variable einen Einfluss auf die zu untersuchende Forschungsfrage hat oder nicht.

2. Vergleich der Funktionsbündel auf Grundlage des BTI 2012

Um eine detaillierte vergleichende Analyse der baltischen Staaten vornehmen zu können wird zunächst geschaut, in welchen der drei von Gabriel Almond genannten Funktionsbündel Estland tatsächlich einen Vorsprung in der Demokratiequalität hat. Nur diese Bündel werden anschließend detaillierter untersucht. Den Systemfunktionen, Prozessfunktionen und Policyfunktionen werden Fragen des Bertelsmann Transformation Index 2012 zugeordnet und die Ergebnisse ausgewertet.

2.1 Systemfunktionen

Systemfunktionen beinhalten laut Almond die politische Sozialisation, die politische Rekrutierung und die politische Kommunikation.[28] Sie sind der Input des politischen Systems. Um die Bevölkerung politisch sozialisieren zu können, bedarf es einiger vom Staat eingeräumter Rechte wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Politische Gruppen oder auch Nichtregierungsorganisationen müssen sich problemlos bilden können, damit ein gesundes politisches Klima in einem Staat entstehen kann. Zudem ist Vertrauen in politische Institutionen und die allgemeine Akzeptanz in den Nationalstaat seitens der Bürger wichtig. Vertrauen und Akzeptanz kann durch die angesprochene funktionierende politische Kommunikation durch den Staat geschaffen werden. Um die Ausprägungen der Systemfunktionen in den baltischen Staaten nun erfassen zu können, werden die folgenden vier Fragen des Status-Index Demokratie im BTI 2012 ausgewertet:

1.2 Inwieweit sind sich relevante gesellschaftliche Gruppen über die Zugehörigkeit zum Staatsvolk einig und akzeptieren den Nationalstaat als legitim?

2.3 Inwieweit können Bürger unabhängige politische oder zivilgesellschaftliche Gruppen bilden und ihnen beitreten? Inwieweit können diese Gruppen frei agieren und sich versammeln?

2.4 Inwieweit können Bürger, Organisationen und Medien ihre Meinung frei äußern?

5.3 Wie groß ist die Zustimmung der Bürger zu demokratischen Normen und Verfahren?[29]

Diese Fragen aus drei der 17 Kriterien zum Entwicklungsstand der Demokratie des BTI 2012 umfassen das beschriebene Funktionsbündel der Systemfunktionen. Auf einer Skala von 1 (schlechteste Bewertung) bis 10 (beste Bewertung) werden die baltischen Staaten wie folgt bewertet:

Tabelle 2: Bewertung der Systemfunktionen[30]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Alle drei Staaten erreichen in der Bewertung der Systemfunktionen eine hohe Punktzahl. Auch wenn Lettland geringfügig schlechter bewertet wird als die Vergleichsstaaten, lässt sich kein signifikanter Unterschied zwischen den baltischen Staaten erkennen. Durch die im Vergleich mit Litauen niedrigere Bewertung von Estland kann der Vorsprung Estlands in der Demokratiequalität nicht mit den Systemfunktionen erklärt werden.

2.2 Prozessfunktionen

Unter Prozessfunktionen versteht Almond die Prozesse, die nötig sind, um den Input des politischen Systems in den Output umzusetzen. Dazu gehören die Artikulation und Aggregation von Interessen, die in den meisten politischen Systemen die Aufgabe von Parteien sind. Auch Verbände und Organisationen jeder Art können Interessen artikulieren und aggregieren. Zudem gehören zu den Prozessfunktionen politische Entscheidungen sowie die Implementierung der Politik.[31] Wichtig ist hierbei also zu erfahren, wie stabil die Wahlsysteme sind und ob funktionsfähige Parteien- und Verbändesysteme existieren. Deshalb umfassen die folgenden vier Fragen des Status-Index Demokratie des BTI 2012 die Prozessfunktionen:

2.1 Inwieweit werden die politischen Entscheidungsträger durch allgemeine, freie und faire Wahlen bestimmt?

4.1 Wie leistungsfähig sind die demokratischen Institutionen?

5.1 Inwieweit existiert ein stabiles, gesellschaftlich verankertes Parteiensystem zur Artikulation und Aggregation gesellschaftlicher Interessen?

5.2 Inwieweit existiert ein Netz kooperationsfähiger Verbände oder Interessengruppen zur Vermittlung zwischen Gesellschaft und politischem System?[32]

Die drei zu untersuchenden Staaten erhalten bei den die Prozessfunktionen betreffenden Fragen folgende Bewertungen auf einer Skala von 1 (schlechteste Bewertung) bis 10 (beste Bewertung) im BTI 2012:

Tabelle 3: Bewertung der Prozessfunktionen[33]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Estland wird bei den Prozessfunktionen insgesamt besser eingeschätzt als die Vergleichsstaaten. Insbesondere bei Fragen nach den Parteien- und Verbändesystemen der Staaten erhält Estland bessere Bewertungen. Da die Prozessfunktionen demnach eventuell den estnischen Vorsprung in der Demokratiequalität begründen könnten, ist eine genauere Untersuchung dieser Funktionen nötig.

2.3 Policyfunktionen

Der Output des politischen Systems ist laut Almond gleichzusetzen mit den Policyfunktionen. Diese umfassen vor allem die Regulierung von Verhalten durch Gesetze, die Ressourcenbeschaffung des Staates durch Steuern und die Verteilung von Vorteilen und Dienstleistungen für die Bevölkerung.[34] Für dieses Funktionsbündel sind Fragen nach der Rechtsstaatlichkeit von entscheidender Bedeutung. Existiert eine funktionierende Gewaltenteilung um Machtmissbrauch zu verhindern? Gibt es eine unabhängige Justiz, welche in der Lage ist die Einhaltung der Gesetze zu überwachen? Ist Vorteilsverschaffung und Korruption von Mandatsträgern ein Problem und wie wird dieses rechtlich geahndet? Aufgrund dieser Themenfelder eignen sich folgende vier Fragen zur Rechtsstaatlichkeit des Status-Index Demokratie des BTI 2012 zur Untersuchung der Policyfunktionen:

3.1 Inwieweit funktioniert die Teilung und wechselseitige Kontrolle der staatlichen Gewalten?

3.2 Inwieweit existiert eine unabhängige Justiz?

3.3 Inwieweit wird Amtsmissbrauch von Mandatsträgern rechtlich geahndet oder hat politische Konsequenzen?

3.4 Inwieweit sind bürgerliche Freiheitsrechte gewahrt und geschützt und inwieweit können sie von Bürgern eingeklagt werden?[35]

Die drei baltischen Staaten werden bei diesen Fragen auf einer Skala von 1 (schlechteste Bewertung) bis 10 (beste Bewertung) wie folgt bewertet:

Tabelle 4: Bewertung der Policyfunktionen[36]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Während Estland bei der Bewertung der Policyfunktionen fast die Höchstpunktzahl erhält, fallen die Vergleichsstaaten etwas zurück. Vor allem die Unabhängigkeit der Justiz und die Verfolgung bei Amtsmissbrauch von Mandatsträgern in Lettland scheint nicht das sehr hohe Niveau Estlands zu erreichen. Da Lettland und Litauen drei beziehungsweise fünf Bewertungspunkte hinter Estland liegen, ist eine genauere Untersuchung der Policyfunktionen nötig. Diese könnten ebenfalls der Grund für den Vorsprung Estlands in der Demokratiequalität sein.

2.4 Zwischenfazit

Festzuhalten ist, dass alle drei untersuchten Staaten im BTI 2012 eine im globalen Vergleich hohe demokratische Entwicklung aufweisen können. Aussagen, die belegen, dass Litauen oder Lettland nach bestimmten Kriterien nicht das Niveau Estlands erreichen, zeigen lediglich den sehr hohen demokratischen Stand Estlands und nicht einen niedrigen demokratischen Stand von Litauen oder Lettland. Aber auch die beiden letztgenannten Staaten erreichen sehr gute Werte. Im Status-Index Demokratie des BTI 2012 liegt Lettland in den Bewertungen insgesamt auf Platz elf von 128 untersuchten Staaten, Litauen auf Platz sieben. Estland erreicht den fünften Platz. Alle drei Staaten gehören damit zu den 23 konsolidierten Demokratien des BTI 2012.

Die erste Auswertung der drei Funktionsbündel auf Grundlage des BTI 2012 zeigt, dass die Systemfunktionen nicht der Grund für den Vorsprung Estlands in der Demokratiequalität sein können. Die Qualität des Inputs des politischen Systems ist in den drei untersuchten Staaten auf ähnlichem, sehr hohem Niveau. Bei der Bildung von politischen oder zivilgesellschaftlichen Gruppen gibt es keine Behinderungen seitens der Staaten und auch Grundrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit sind nicht eingeschränkt. Die Akzeptanz des Nationalstaats durch gesellschaftliche Gruppen ist in Estland sogar klar niedriger als in Litauen. Eine tiefergehende Analyse dieses Funktionsbündels würde in der Forschungsfrage zu keinem Ergebnis führen. Deshalb werden die Systemfunktionen nicht weiter untersucht. Bei der ersten Untersuchung der Prozess- und Policyfunktionen hingegen ergibt sich eine klare Tendenz. Auch wenn die Bewertungen der einzelnen Fragen dieser Funktionsbündel sehr ähnlich sind, ist in der Gesamtbewertung ein Vorsprung von Estland zu erkennen. So wird Estland in keiner der acht untersuchten Fragen zu den Prozessund Policyfunktionen schlechter bewertet als Lettland oder Litauen, aber in sechs von acht Fragen besser bewertet als mindestens einer der beiden Vergleichsstaaten. In fünf von acht Fragen wird Estland sogar besser bewertet als beide Vergleichsstaaten. Aufgrund dieser Tendenz ist nach der ersten oberflächlichen Bewertung in den folgenden Kapiteln nun eine genaue Analyse dieser beiden Funktionsbündel nötig, um herauszufinden, worauf genau der Vorsprung der Demokratiequalität von Estland gegenüber Lettland und Litauen zurückzuführen ist.

Natürlich gibt es viele weitere Variablen, die einen Einfluss auf die Demokratiequalität haben und somit zur Erklärung der Forschungsfrage beitragen könnten. Als Beispiel zu nennen wären hier etwa der Umgang mit Minderheiten in den baltischen Staaten oder der Einfluss von in den folgenden Untersuchungen nicht untersuchten Vetospielern. Aus Platzgründen muss aber eine Selektion vorgenommen werden. Deshalb analysiert diese Arbeit im Folgenden nur Variablen, die direkt mit der hier behandelten Theorie des strukturellen Funktionalismus in Verbindung gebracht werden können.

[...]


[1] Vgl. Wolchik, Sharon L/Curry, Jane Leftwich: Central and East European politics. From communism to democracy. Lanham 2008, S.238.

[2] Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.): Transformationsindex BTI 2012. Politische Gestaltung im internationalen Vergleich. Gütersloh 2012a, S.4. URL: http://www.bti- project.de/index/bericht/. Stand: 02.08.2012.

[3] Vgl. Bertelsmann Stiftung 2012a, S.133.

[4] Vgl. ebd., S.130.

[5] Vgl. ebd., S.134f.

[6] Vgl. Freedom House (Hg.): Freedom in the World 2012. The arab uprisings and their global repercussions. Washington D.C. 2012a, S.3f. URL: http://www.freedomhouse.org/ sites/default/files/inline_images/FIW%202012%20Booklet--Final.pdf. Stand: 02.08.2012.

[7] Vgl. Gibney, Marc/Cornett, Linda/ Wood, Reed (Hg.): Political Terror Scale. 2010, o.S. URL: http://www.politicalterrorscale.org/countries.php?region=Europe. Stand: 02.08.2012.

[8] Vgl. Transparency International (Hg.): Corruption Perception Index 2011. 2011, o.S. URL: http://cpi.transparency.org/cpi2011/results/. Stand: 02.08.2012.

[9] Vgl. United States Agency for International Development: 2010 NGO Sustainability Index for Central and Eastern Europe and Eurasia. 2011, S.1-227. URL: http://program.counterpart.org/Armenia/wp-content/uploads/2011/02/USAID-NGO- Sustainability-Index-PDF.pdf. Stand: 02.08.2012.

[10] Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.): Bertelsmann Transformation Index 2003. Auf dem Weg zur marktwirtschaftlichen Demokratie. Gütersloh 2004, S.7ff.

[11] Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.): BTI 2012 Results Status-Index. 2012f, o.S. URL: http://www.bti-project.de/index/status-index/. Stand: 04.08.2012.

[12] Vgl. Gibney 2010, o.S.

[13] Vgl. Freedom House (Hg.): Freedom in the world. 2012b, o.S. URL: http://www.freedomhouse.org/report-types/freedom-world. Stand: 02.08.2012.

[14] Vgl. Degele, Nina/Dries, Christian: Modernisierungstheorie. München 2005, S.16.

[15] Vgl. United Nations Development Programme (Hg.): Human Development Report 2011. New York 2011, S.127.

[16] Vgl. Jahn, Detlef: Einführung in die vergleichende Politikwissenschaft. Wiesbaden 2006, S. 259.

[17] Vgl. Almond, Gabriel: Comparative Politics. A theoretical framework. New York 2004, S. 48.

[18] Vgl. Almond 2004, S. 49.

[19] Vgl. ebd., S. 48.

[20] Ebd., S. 49.

[21] Vgl. Rinderle, Peter: John Stuart Mill. München 2000, S. 56.

[22] Vgl. Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S.473f.

[23] Mill, John Stuart: System der deduktiven und inductiven Logik. Braunschweig 1868, S.458. Abrufbar im Internet. URL: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Mill,%20John%20Stuart /System%20der%20deduktiven%20und%20induktiven%20Logik. Stand: 01.08.2012.

[24] Eigene Darstellung, nach Mill 1868. xi/Xi: mögliche erklärende Variablen (Funktionsbündel des strukturellen Funktionalismus) y/Y: abhängige Variable (Demokratiequalität) Die Groß- und Kleinschreibung der Variablen stehen für die unterschiedlichen Ausprägungen.

[25] Vgl. Jahn, Detlef: Einführung in die vergleichende Politikwissenschaft. Wiesbaden 2006, S. 235f.

[26] Vgl. ebd., S. 236f.

[27] Siehe dazu Kap. 1.4.1.

[28] Vgl. Jahn 2006, S.259.

[29] Vgl. Bertelsmann Stiftung 2012a, S.134.

[30] Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.): BTI 2012 Scores. 2012b, o.S. URL: http://www.bti-project.de/publikationen/downloads/. Stand: 02.08.2012.

[31] Vgl. Jahn 2006, S.260.

[32] Vgl. Bertelsmann Stiftung 2012a, S.134.

[33] Vgl. Bertelsmann Stiftung 2012b, o.S.

[34] Vgl. Jahn 2006, S.261.

[35] Vgl. Bertelsmann Stiftung 2012a, S.134.

[36] Vgl. Bertelsmann Stiftung 2012b, o.S.

Ende der Leseprobe aus 63 Seiten

Details

Titel
Die System-, Prozess- und Policyfunktionen der baltischen Staaten im Vergleich
Untertitel
Gründe für Estlands Vorsprung in der Demokratiequalität gegenüber Lettland und Litauen
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,5
Autor
Jahr
2012
Seiten
63
Katalognummer
V319555
ISBN (eBook)
9783668186224
ISBN (Buch)
9783668186231
Dateigröße
733 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Estland, Lettland, Litauen, Demokratie, Demokratiequalität, BTI, Prozessfunktionen, Baltikum, Baltische Staaten
Arbeit zitieren
Urs Schulze (Autor:in), 2012, Die System-, Prozess- und Policyfunktionen der baltischen Staaten im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/319555

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