Chiles "Enklavendemokratie" und die politische Rolle des Militärs


Hausarbeit, 2004

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Das Militär in der chilenischen Verfassungsordnung
2.1. Die Streitkräfte als ‚Garanten für Ordnung und Sicherheit’
2.2. Personalentscheidungen
2.3. Der Nationale Sicherheitsrat
2.4. Waffenkontrollgesetz und Anti-Terrorismusgesetz und die Kompetenzen der Militärjustiz
2.5. Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit
2.6. Finanzielle und institutionelle Autonomie
2.7. Indirekte Einflussnahme über die politische Rechte

3. Die Verfassungswirklichkeit - Politische Armee oder ziviles Herrschaftsmonopol?
3.1. Das Durchsetzen der militärischen Interessen durch die verfassungsmäßigen Kanäle
3.2. Einschüchterungen über militärische Drohgebärden und die Presse
3.3. Handlungsspielraum bei der Umgehung formeller Kontakte

4. Fazit

1. Einleitung

In der Republik Chile hat es auch nach Ende der sechzehneinhalbjährigen Militärherrschaft (1973-90) immer wieder Spannungen zwischen Regierung und Militär gegeben. Dabei hängt die Qualität der Demokratie gerade in Staaten mit einer solchen Vergangenheit stark davon ab, ob die „demokratisch gewählten Repräsentanten des Volkes“ (Merkel 1999: 365) das „Herrschaftsmonopol“ (ebda.) innehaben. Agüero spricht in diesem Zusammenhang von „civilian supremacy“ (Agüero 1995: 19, zit. nach Weeks 2003[1] ). Diese definiert er als:

„the ability of a civilian, democratically elected government to conduct general policy without interference from the military, to define the goals and general organizations of national defense, to formulate and conduct defense policy, and to monitor the implementation of military policy.“ (ebda.).

Ziel dieser Arbeit ist es zu untersuchen, inwieweit diese Bedingungen in Chile erfüllt sind.

Dabei soll zunächst beschrieben werden, welche theoretischen Konfliktpunkte durch die chilenische Verfassungsordnung gegeben sind, um dann festzustellen, ob das Verhalten des Militärs in der Praxis den von Agüero aufgezählten Punkten gerecht wird.

2. Das Militär in der chilenischen Verfassungsordnung

Am 8.Oktober 1988 hat das chilenische Volk per Plebiszit mit 55% gegen die Wiederwahl des einzigen Kandidaten, des amtierenden Präsidenten, Regierungschefs und Oberbefehlshabers des Militärs General Augusto Pinochet Ugarte, entschieden. Für diesen Fall sah die Verfassung Neuwahlen für den Kongress und das Präsidentenamt im Jahre 1989 vor. Durch diese, in ihrer Entstehung äußerst umstrittene, Verfassung von 1980[2] und diverse Bestimmungen, die zwischen Oktober 1988 und dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Aylwin im April 1990 erlassen wurden, war in Chile der Übergang zur Demokratie jedoch maßgeblich von den Hinterlassenschaften des Militärregimes geprägt. Merkel u.a. beschreiben die Situation folgendermaßen:

„In Chile mündete der von Pinochet äußerst verengte Transitionspfad in eine Enklavendemokratie fast reinen Typs. Ziel der alten Regimeeliten war es, die ‚Errungenschaften’ der Pinochet-Ära zu bewahren und den künftigen Regierungen im Hinblick auf eine zu weit gehende Reformpolitik Fesseln anzulegen. Grundlegender Baustein der ‚geschützten’ Demokratie (Loveman 1994) wurde die konstitutionell abgesicherte Rolle des Militärs.“ (Merkel u.a. 2003: 140 f.).

In diesem Kapitel soll untersucht werden wie sich diese ‚abgesicherte Rolle des Militärs’ im Einzelnen darstellt.

Laut Thiery „gründet sich die starke formale Position des Militärs auf folgende Bestimmungen“ (Thiery 2000: 294): (1) Die in Artikel 90 der Verfassung festgeschriebene Rolle der Streitkräfte als „Garanten der institutionellen Ordnung der Republik“, (2) die vom Militär direkt oder indirekt beeinflussten Personalentscheidungen, (3) die Existenz und Zusammensetzung des Nationalen Sicherheitsrates und (4) „das Waffenkontrollgesetz, das Anti-Terrorismusgesetz und das Gesetz über die Innere Sicherheit“[3] (ebda.).

Letzterer Punkt muss allerdings unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zusammen mit den weitreichenden Kompetenzen der Militärjustiz, Einschränkungen bei der Meinungs- und Pressefreiheit, der zusätzlichen institutionellen Autonomie des Militärs durch Kontrolle über Budget und Ausbildung sowie Besonderheiten des politischen Systems[4], die dem Militär durch seine enge ideologische Verbindung mit den rechten Parteien, besonders der Unión Democrática Independiente (UDI), zu Gute kommen, kommt man auf sieben wichtige Stützen für die „abgesicherte Rolle des Militärs“ in Chiles Verfassungsordnung[5].

2.1. Die Streitkräfte als ‚Garanten für Ordnung und Sicherheit’

Die oben erwähnte „abgesicherte Rolle des Militärs“ schlägt sich besonders deutlich in Artikel 90 Absatz 2[6] nieder. Dieser bezeichnet die Streitkräfte als „Garanten der institutionellen Ordnung der Republik…, die wesentlich für die nationale Sicherheit sind“ (zit. nach Quinteros Yanez 1985). Allerdings bleibt offen wann und gegenüber wem „die institutionelle Ordnung“ und „die nationale Sicherheit“ gewährleistet werden müssen, „so dass es letztlich im Ermessen der Streitkräfte steht, ob politische Umstände oder gar andere Staatsorgane gegen die innere Sicherheit oder die institutionelle Ordnung verstoßen.“ (Thiery 2000: 294). Verständlich werden diese Bedenken, wenn man sich vor Augen führt, dass das Militär seine jahrelange Herrschaft noch heute hinreichend damit gerechtfertigt sieht, die Republik modernisiert und vor dem Sozialismus bewahrt zu haben[7]. Andere Autoren sehen zudem in Artikel 41 „die Möglichkeit einer umfassenden Notstandsgesetzgebung“ (Blumenwitz u.a.1987: 82)[8] gewährleistet.

2.2. Personalentscheidungen

Der Verbleib im Amt praktisch aller hohen Militärs (vgl. Siavelis 2000: 36) – inklusive Pinochet - nach dem Machtwechsel stellt eine Besonderheit in Chiles Transition dar. Erschwerend kam hinzu, dass auch ein Großteil der zivilen Posten noch lange von Pinochets Vertrauten besetzt war (und teilweise noch ist[9] ). Dies war unter Anderem der Fall bei rund 300 Bürgermeistern (siehe 2.5.), Angestellten der Verwaltung, Richtern des Obersten Gerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes, der Polizei, dem Senat und dem Rechnungshof.

Aber auch langfristig haben sich die Streitkräfte erhebliches Mitspracherecht bei Personalentscheidungen erhalten. Bei Entscheidungen, die die Streitkräfte selbst betreffen, spricht Nolte von „weitreichende[r] Autonomie gegenüber der zivilen Führung“:

Der Präsident ernennt die Oberkommandierenden, er ist bei der Auswahl allerdings an die fünf dienstältesten Offiziere gebunden. Auch bei der Bestätigung der Beförderung von Offizieren sind dem Präsidenten weitgehend die Hände gebunden“ (Nolte 2002a: 177).[10]

Der „vielleicht fragwürdigste Bestandteil der Verfassung von 1980 […] ist die ‚Unabsetzbarkeit’ von hochrangigen Offizieren der Streitkräfte durch den Präsidenten“ (Siavelis 2000: 185). Dies sorgt dafür, dass die vom Volk gewählten zivilen Organe praktisch keinerlei Möglichkeiten haben, die Führung des Militärs zu sanktionieren, wenn es sich bei bestimmten politischen Fragen nicht der zivilen Regierung unterordnet – wenn nicht der Nationale Sicherheitsrat (siehe 2.3.) zustimmt. Auch die Ernennung einiger Mitglieder des Senats und des Verfassungsgerichtes (siehe 2.3.) sind von großer Bedeutung für die Wahrung der Interessen des Militärs.

2.3. Der Nationale Sicherheitsrat (Consejo de Seguridad Nacional)

Der Nationale Sicherheitsrat (CSN) ist ein wichtiger Pfeiler des militärischen Einflusses, weil er sich auf höchster Entscheidungsebene befindet oder sogar „über“ den demokratisch legitimierten Institutionen (vgl Siavelis 2000: 185). Er setzt sich zusammen aus vier zivilen Mitgliedern – dem Präsidenten der Republik, dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, dem Präsidenten des Senats und dem Leiter des Rechnungshofes[11] - und vier Militärs – den Oberkommandierenden der drei Teilstreitkräfte und der Polizei[12]. Sowohl der Präsident der Republik als auch zwei seiner Mitglieder können ihn einberufen. Für eine Entscheidung wird die Stimmenmehrheit von fünf Stimmen benötigt, über die weder die Streitkräfte noch die gewählten Vertreter verfügen.

[...]


[1] Da die in der Literaturliste genannte Version des Textes nicht zur Verfügung stand, wurde eine Internetversion des Textes bearbeitet. Die für Weeks 2003 angegebenen Seitenzahlen beziehen sich also auf: Weeks, Gregory: „The Military and Chilean Democracy, 1990-1998“ <http://168.96.200.17/ar/libros/lasa98/Weeks.pdf>

[2] Für eine ausführliche Diskussion siehe Mateo Balmelli 1992, Seiten 62ff.

[3] Loveman (1991: 48-52) liefert eine Zusammenfassung dieser Gesetze.

[4] Für einen Überblick über das politische System Chiles siehe Nolte 2004, S. 18ff.

[5] Ein weiterer wichtiger Grund für die starke Position des Militärs ist auch sein hohes Ansehen durch seine Rolle bei Gründung und Aufbau des Staates. Vgl. dazu Agüero 2002: 112ff.

[6] Die ohne weiteren Zusätze genannten Artikel sind dem aktualisierten Verfassungstext von 1980 (Constitucion Politica de la Republica de Chile) entnommen, der sich auf der Internetseite von Chiles Kongressbibliothek befindet. <www.bcn.cl>

[7] Diese Auffassung wird auch von großen Teilen der Bevölkerung getragen: „It [das Militär, Anm. d. Verf.] left government surrounded by the recognition of having successfully overhauled the economy and forged a new era in the nation’s development.“ (Agüero 2002: 122)

[8] Zwar erschien dieses Buch noch vor dem Machtwechsel und einigen mit ihm einhergehenden Verfassungsänderungen. Der angesprochene Teil der Verfassung (Artikel 41 Ziff. 9) ist jedoch bis heute unverändert (vgl. Mateo Balmelli 1992, Oppenheim 2000).

[9] Siavelis stellt noch 2000 dazu fest, dass „wenigstens für die nächsten paar Jahre sowohl der Leiter des Rechnungshofes als auch der Präsident des Verfassungsgerichtes von Pinochet eingesetzt“ (Siavelis 2000: 38) sind. An gleicher Stelle weist er darauf hin, dass das „Vorherrschen der von Pinochet eingesetzten Offiziellen auf allen Ebenen des Justizsystems“ dadurch verstärkt wird, dass das vereinbarte Ruhestandsalter von 75 für Justizoffizielle nicht für diejenigen bindend ist, die zur Zeit des Inkrafttretens der Verfassung schon im Amt waren. Radseck zählt für 2001 noch 3 von 21 von Pinochet ernannte Richter im Obersten Gerichtshof (2002: 197).

[10] Die die Streitkräfte betreffenden Personalfragen sind im Ley Orgánica de las Fuerzas Armadas (Gesetz Nr. 18.984, zul. Geändert durch 18.967) festgeschrieben.

[11] Auch, wenn es der Concertacion bislang nicht gelungen ist, den CSN abzuschaffen, wurde doch in der Verfassungsänderung von 1989 mit dem Contralor General wenigstens ein zusätzliches ziviles Mitglied und somit eine paritätische Besetzung des Rates durchgesetzt. Allerdings war der Contralor General zu diesem Zeitpunkt von Pinochet eingesetzt.

[12] Die Carabineros stellen in Chile eine Art vierte Teistreitkraft dar und unterstehen, wie auch die Kriminalpolizei, „organisatorisch und juristisch dem Verteidigungsministerium“ (Nolte 2002: 178).

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Chiles "Enklavendemokratie" und die politische Rolle des Militärs
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für politische Wissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V31876
ISBN (eBook)
9783638327596
ISBN (Buch)
9783638809962
Dateigröße
739 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Das Militär hatte sowohl bei als auch nach der Transition Chiles einen großen Einfluss und hat so seine Rolle als wichtiger Akteur im politischen System Chiles behaupten können. Diese Arbeit befasst sich mit der Frage inwieweit man vor diesem Hintergrund in Chile von 'ziviler Herrschaft' sprechen kann, die Bedingung einer konsolidierten Demokratie ist. Dabei wird sowohl die Verfassungsordnung als auch die Verfassungswirklichkeit untersucht.
Schlagworte
Chiles, Enklavendemokratie, Rolle, Militärs
Arbeit zitieren
Alexander Schwartz (Autor:in), 2004, Chiles "Enklavendemokratie" und die politische Rolle des Militärs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31876

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