Wahrnehmung und Aneignung von urbanem Raum von Extremsportlern


Diplomarbeit, 2010

130 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis/ Tabellenverzeichnis V

1 Einführung
1.1 Fragestellung/ Zielsetzung
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Ausgewählter Extremsport Inlineskating
2.1 Was ist Inlineskating?
2.2 Geschichte und Entwicklung des Inlineskatings

3 Theoretischer Hintergrund
3.1 Raum
3.1.1 Der Begriff „Raum“
3.1.2 Das Raummodell von LÖW
3.1.3 Der öffentliche Raum
3.2 Raumaneignung
3.2.1 Das Aneignungskonzept
3.2.2 Modifikation des Aneignungskonzeptes nach LÖW
3.2.3 Gegenkultureller Raum
3.3 Raumwahrnehmung
3.3.1 Der Begriff „Wahrnehmung“
3.3.2 Geschichte der Wahrnehmungsgeographie
3.3.3 Geographische Wahrnehmungskonzepte
3.3.4 Mental Map
3.3.5 Kritik an der Wahrnehmungsgeographie

4 Raumaneignung durch Inlineskating
4.1 Das „Skater´s Eye“
4.2 Der „Skate Spot“
4.3 Handlungsursachen
4.4 Reproduktion des Raums
4.5 Konfliktpotential im öffentlichen Raum

5 Methodik
5.1 Qualitativer Forschungsansatz
5.2 Multimethodik
5.2.1 Teilnehmende Beobachtung
5.2.2 Mental Maps
5.2.3 Qualitative Interviews
5.2.4 Quellenanalyse
5.3 Auswertung und Analyse
5.4 Lokalisierung der Untersuchung

6 Wahrnehmung und Aneignung von „Skate Spots“ in München
6.1 Vorstellungsbilder von „Skate Spots“ in München
6.1.1 Objekte werden zu „Skate Spots“
6.1.2 Suchen und Finden von „Skate Spots“
6.1.3 Einfluss der medialen Reproduktion auf die Wahrnehmung
6.2 Münchener „Skate Spots“ als Produkte der Raumaneignung
6.2.1 Die „Hacker-Curbs“
6.2.2 Die „Wetterstein-Lowrails“
6.2.3 Wolfratshausen
6.2.4 Das Olympiagelände

7 Fazit

8 Forschungsausblick und Schlussbemerkung

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Paradigmatisches Wahrnehmungsschema des Behavioral Approach

Abbildung 2: Interviewpartner Alexander beim „Grind“ an einer Steinkante im Olympiadorf München

Abbildung 3: Das „Feldkirchen-Kink“

Abbildung 4: Steinkante am ZOB-Vorplatz

Abbildung 5: Die „Hauptbahnhof-Curbs“ mit „Grind-Stoppern“

Abbildung 6: Die „Wetterstein-Curbs“ mit „Grind-Stoppern“

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Umsatzentwicklung der Inlineskating-Industrie

1 Einführung

Ist diese Arbeit eine Arbeit? Da es sich hier um einen wissenschaftlichen Text zur Erlangung eines akademischen Grades handelt, wird der Großteil der potentiellen Leserschaft wohl zu einem Ja tendieren.

Für einen überzeugten Umwelt-Aktivisten, der humangeographischer Literatur gegenüber eher eine skeptische Position bezieht, kann dieser Text auch als Verschwendung von wertvollem Papier verstanden werden. Soll ein Sprachwissenschaftler diesen Text beurteilen, wird der gewählte Fokus der Betrachtung auf sprachlichen Ungereimtheiten und Stilmitteln liegen. Für einen Origami-Künstler bietet sich in der ausgedruckten Form dieses Textes eher ein potentielles Kunstwerk, das nur darauf wartet erschaffen zu werden als eine wissenschaftliche Arbeit. Das Spiel mit Beispielen könnte endlos weiter getrieben werden.

Der elementare Gedanke dahinter ist die Bedeutung der subjektiven Perspektive zur oft vorschnell als objektiv eingestuften Umwelt. Die jeweilige Bedeutungszuweisung erfolgt stets in einem subjektiven Zusammenhang. Überträgt man diesen Gedanken auf die Eigenschaften städtischer Elemente aus, so ist man bereits fast bei der Thematik dieser Arbeit angelangt: erst durch gewohnte Deutungen von Alltagsgegenständen und Objekten verleihen die Menschen diesen Objekten eine bestimmte Funktion. In dieser Arbeit soll nun eine menschliche Aktivität beschrieben werden, welche die Funktionszuweisungen der städtischen Elemente und die daraus resul- tierenden Verhaltensweisen für das eigene Handeln neu interpretiert: die Ex- tremsportart Inlineskating (im Verständnis des Inlineskatings als das so- genannte Streetskating, siehe Kapitel 2.1).

Wie nur wenige andere Aktivitäten kann Inlineskating als etwas verstanden werden, was sich von den Funktionszuweisungen städtischer Elemente entkoppelt, obwohl es nur in diesen städtischen Strukturen betrieben werden kann. Die Neuinterpretation der Umwelt steht in einem direkten Verhältnis mit der subjektiven Wahrnehmung, welche wiederum das raumwirksame Handeln der Sportler beeinflusst. Die urbanen Objekte, die durch das Inlineskating verwendet und mit dem Sportgerät befahren werden, ent- sprechen in ihrer ursprünglich vom Erbauer bezweckten Nutzungsintention anderen Verwendungen, bekommen aber durch die Neuinterpretation eine zusätzliche Bedeutungsebene für das handelnde Individuum.

1.1 Fragestellung/ Zielsetzung

Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, festzustellen, wie einzelne Inlineskater ihre Umwelt wahrnehmen und welches Verhalten daraus resultiert. Zunächst soll dazu theoretisch erarbeitet werden, wie Inlineskating als ein Prozess der Aneignung von urbanem Raum verstanden werden kann. In Verbindung mit der subjektiven Wahrnehmung soll so dargestellt werden, auf welche Art Räume von Inlineskatern wahrgenommen und selbst im Handeln erschaffen werden. Daraus ergeben sich die Fragestellungen, wie und worin die Wechselwirkungen zwischen dem Wahrnehmungsprozess und dem An- eignungsprozess am Beispiel des Inlineskatings bestehen. Die genauen Abläufe dieser Prozesse sollen in dieser Arbeit untersucht werden, um so Informationen über resultierende Verhaltensmuster und Handlungsstrategien der einzelnen Inlineskater, aber auch für die Gruppe der Inlineskater an sich gewinnen zu können. Die räumlichen Auswirkungen dieser Prozesse sollen am Fallbeispiel München aufgezeigt werden.

1.2 Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit ist in acht Kapitel untergliedert. Nach einer Einführung in die Thematik im Kapitel 1 soll in Kapitel 2 die gewählte Sportart des Inlineskatings beschrieben werden. Dazu wird die Geschichte und die Entwicklung des Inlineskatings behandelt werden.

Kapitel 3 beinhaltet den theoretische Hintergrund dieser Arbeit. Hierzu wird die Raumproblematik innerhalb der Arbeit thematisiert, darauf aufbauend das Konzept der Raumaneignung theoretisch behandelt und die wichtigsten Begriffe im Zusammenhang mit der Raumwahrnehmung für den weiteren Arbeitsverlauf bestimmt.

Eine Verbindung der theoretischen Überlegungen zwischen dem Konzept der Raumaneignung sowie der wahrnehmungstheoretischen Ansätze und der

Tätigkeit des Inlineskatings soll in Kapitel 4 vollzogen werden. Aufbauend auf

Wahrnehmungsmustern und der Erschaffung von neuen Räumen durch die Aktivität des Inlineskatings sollen mögliche Handlungsursachen ange- sprochen werden. Die besondere Rolle der Reproduktion von Raum durch Inlineskating sowie Konfliktpotentiale im öffentlichen Raum werden an- schließend erläutert.

Im Kapitel 5 werden die verwendeten qualitativen Methoden der Untersuchung dargestellt und der Untersuchungsablauf beschrieben. Hier wird die Auswertung und Analyse der Arbeit erklärt und die Lokalisierung der Untersuchung beschrieben.

In Kapitel 6 werden die Erkenntnisse aus der Untersuchung der Themengebiete Wahrnehmung und Aneignung von den sogenannten „Skate Spots“ anhand von ausgewählten Fallbeispielen des Münchener Raums untersucht. Anhand dieser Erkenntnisse sollen in Kapitel 7 die Prozesse der Wahrnehmung und Aneignung von urbanem Raum durch Inlineskating zusammengefasst und bewertet werden.

Abschließend werden in Kapitel 8 mögliche anknüpfende Forschungsperspektiven aufgeführt und eine abschließende Bewertung der Untersuchung gegeben.

2 Ausgewählter Extremsport Inlineskating

Zum Verständnis der Thematik dieser Diplomarbeit ist es notwendig, das ausgewählte Beispiel Inlineskating zu behandeln, bevor man zu einem klassisch-geographischen Schwerpunkt übergeht. Eine kompakte Einführung in diesen Sport, seiner Geschichte und Kultur soll dem Leser helfen, den Gesamtzusammenhang von Aneignung und Wahrnehmung des Raumes durch Inlineskater nachvollziehen zu können.

Technische und kulturelle Entwicklungen des Sports sollen erwähnt werden, wobei es nicht Ziel ist, diese im Rahmen der Diplomarbeit umfassend darzustellen.

Wie auch bei anderen Extrem- und Risikosportarten entstehen die weitreichendsten Entwicklungen des bearbeiteten Teilaspekts Inlineskating überwiegend in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort befindet sich auch der Großteil der Inlineskating-Industrie; die meisten auf Inlineskating bezogenen Medien agieren von dort aus; der Löwenanteil der weltweit professionellen Inlineskater besitzt die US-amerikanische Staatsbürger- schaft. Deshalb wird der Schwerpunkt der Betrachtung in diesem Kapitel auf den USA liegen.

Bedauerlicherweise besteht ein Mangel an wissenschaftlicher Literatur, welche sich mit dem Thema Inlineskating auseinandersetzt. Besonders bei dem für diese Arbeit ausschlaggebenden Teilaspekt Streetskating konnte trotz ausführlicher Recherche keine Literatur im klassischen Sinn gefunden werden. Die getätigten Aussagen über die entscheidenden Entwicklungen des Sports beziehen sich auf die 2006 erschienene Dokumentation „Barely Dead“ von DOUG URQUHART, der in enger Zusammenarbeit mit der Inlineskating-Industrie eine umfangreiche Studie zur Historie des Streetskatings geschaffen hat. Auch wenn die Dokumentation szeneintern keineswegs von Kritik verschont bleibt (besonders stark wird die Darstellung der Opfer-Rolle des Inlineskatings diskutiert), so ist „Barely Dead“ doch der umfangreichste und ausführlichste Versuch, diesen vergleichsweise jungen Sport und die daraus hervorgebrachte Kultur zu erklären. Es wird versucht, die für diese Arbeit bedeutsamen Informationen aus der subjektiv anmutenden Darstellung URQUHARTs zu filtern, um so einen Einblick zu erhalten, was Inlineskating eigentlich ist.

2.1 Was ist Inlineskating?

Unter Inlineskating versteht das freie Internet-Lexikon Wikipedia eine meist sportliche Fortbewegung, die mit Hilfe der namengebenden Inlineskates vollzogen wird. Die Inlineskates sind eine Art Rollschuhe, wobei die kugelgelagerten Rollen (meist vier Rollen pro Schuh) in einer Linie und an einer Schiene unter der Sohle angebracht sind (WIKIPEDIA Inlineskaten 2010). Grundvoraussetzung für die angestrebte rollende Fortbewegung ist üblicherweise eine glatte Oberfläche wie es bei Straßen oder anderen asphaltierten Flächen der Fall ist. Diese Vorraussetzung wird auch in späteren Kapiteln als eines der wichtigsten Kriterien der Wahrnehmung und Aneignung von Raum durch Inlineskating wieder aufgegriffen.

Häufig wird in Zeitungen vom Trend- oder Extremsport Inlineskating gesprochen. Eine klare Definition oder Abgrenzung der beiden Begriffe voneinander ist schwierig. SCHWIER sieht die Entwicklung eines Trend- sports als eine Form der Überschreitung des zuvor unbekannten oder vernachlässigten Wissens über eine Sportart. Er unterteilt das Phänomen Trendsport in die drei Bereiche Fitnessaktivitäten, Funsport und Risikosport (SCHWIER 2002, 18ff).

OPASCHOWSKI versteht unter Extremsport eine mit Risiko verbundene Herausforderung sportlicher Art, die an die sportlichen Grenzen des Machbaren geht (OPASCHOWSKI 2000).

Diese Definitionsversuche von Trend- und Extremsport lassen sich nicht auf alle Aspekte des Inlineskatings übertragen. Wenn sich bei den sogenannten „Blade Nights“ tausende Inlineskater an regenfreien Sommerabenden durch die Großstädte bewegen, hat dies nichts mit der Extremsport-Definition von OPASCHOWSKI zu tun. Genauso wenig kann man einer offiziellen Inlineskate-Kunstlauf-Veranstaltung die Eigenschaften von SCHWIERs Trendsport-Begriff zuschreiben.

Wie erkennbar wird, existiert Inlineskating in unterschiedlichen Aus- prägungen und kann in diverse Disziplinen unterteilt werden. Diese Arbeit befasst sich ausschließlich mit einem Teilaspekt des Inlineskatings, dem sogenannten Streetskating. Darunter versteht man das freie Befahren von allen gegebenen Hindernissen und Objekten im meist urbanen Raum mit Inlineskates. Die Bewältigung der Hindernisse und Objekte mithilfe der

Inlineskates kann in einer Vielzahl von Fußstellungen, Drehungen und anderen unterschiedlich schwierigen Bewegungsabläufen vollzogen werden, den sogenannten Tricks. Für diese Tricks haben sich, ähnlich wie bei anderen Sportarten, englische Begriffe durchgesetzt.

Die Orte, an denen eines oder mehrere der befahrbaren Objekte vorhanden sind, bezeichnet man als „Skate Spots“. Dieser Begriff wird auch in anderen Sportarten wie Skateboarding oder Le Parcour für Orte mit einem vorhandenen Nutzungspotential aus der jeweiligen Perspektive verwendet (V. KROSIGK 2000, S. 157).

Eine ausführliche Beschreibung von „Skate Spots“ folgt in Kapitel 4.2.

Da auch im Kreise der Streetskater unterschiedliche Bezeichnungen für die ausgeübte Sportart, wie beispielsweise „Aggressive-Skating“, „Freestyle- Skating“ oder „Rollerblading“ bestehen, wird im weiteren Verlauf der Arbeit der Begriff „Inlineskating“ synonym für die verschiedenen Bezeichnungen des Streetskatings verwendet.

Dieser Teilbereich des Extremsports Inlineskating schließt - konservativ ver- standen - speziell zum Inlineskaten geschaffene Anlagen, sogenannte Skateparks, aus, da dort die Objekte nicht direkt „aus“ dem Stadtraum ent- standen sind, sondern als eine für die Zwecke der Inlineskater und Skate- boarder idealisierte, künstlich gebaute Form verstanden werden. Da die Skateparks in den durchgeführten Interviews mit den Inlineskatern aus München von diesen immer wieder angesprochen werden und demnach für die Inlineskater bedeutsam zu sein scheinen, wird der Begriff „Inline- skating“ in dieser Arbeit auch das Befahren der Skateparks beinhalten.

2.2 Geschichte und Entwicklung des Inlineskatings

Inlineskating gilt als der am schnellsten gewachsene Massensport der modernen Gesellschaft. Nach der Markteinführung der modernen Inlineskates um das Jahr 1980 wurde nach nur 15 Jahren die Anzahl der diesen Sport aktiv ausübenden Personen auf weltweit ca. 24 Millionen geschätzt. Die stärkste Wachstumsphase vollzog sich in den frühen 90er Jahren, während dem sogenannten „Inline-Boom“ (URQUHART 2006).

Der Ursprung dieser Sportart liegt allerdings über 200 Jahre zurück. Im 17. Jahrhundert existierten in den nördlichen europäischen Ländern bereits erste Abwandlungen von Schlittschuhunterlagen mit Rollen, die in den eisfreien Monaten als Fortbewegungsmittel benutzt wurden. Die erste schriftliche Erwähnung von Schuhen mit Rollen unter der Sohle findet sich 1760 und stammt von dem Holländer Jean-Joseph Merlin, dem offiziellen Erfinder. Diese frühen Modelle basierten, ähnlich den heutigen Inlineskates, auf hintereinander liegenden Rollen.

Im 18. Jahrhundert führt der Engländer James Plimpton das erste Rollschuh- Modell in die USA ein. Hier befinden sich nun die Rollen paarweise unter der Sohle, vergleichbar mit den heutigen Rollschuhen (auch Quads genannt). Im Laufe der darauf folgenden Jahre breitet sich diese Form, ausgehend von der Ostküste der Vereinigten Staaten, aus und verdrängt so die den Inline- skates ähnliche Variante mit den in einer Linie liegenden Rollen (WILLIAMS 2006).

Anfang des 20. Jahrhunderts ermöglichen technische Verbesserungen des Equipments eine ansteigende Beliebtheit der Rollschuhe. Insbesondere die Verwendung von Poly-Urethan-Rollen statt der bisherigen Eisen-Rollen ermöglicht mehr Stabilität beim Fahren, eine höhere Geschwindigkeit und eine verbesserte Haltbarkeit. Die Verwendung dieser Urethan-Rollen ist indirekt zugleich an der Entstehung der dem Inlineskating benachbarten Extrem- und Risikosportart Skateboarding beteiligt, indem diese Rollschuh- Achsen und -Rollen in den 1950er Jahren von kalifornischen Surfern unter Holzbretter montiert werden, um an Land Surfbewegungen üben zu können (URQUHART 2006).

Der erste moderne Inlineskate werden im Jahr 1980 von den beiden US- Amerikanern Scott und Brennan Olson und deren Firma Rollerblade ent- wickelt. Das Produkt sollte ursprünglich als eine Trainingsalternative für Eis- hockey-Spieler verwendet werden. Da die Firma Rollerblade hier gewisser- maßen eine Vorreiterrolle einnimmt und in den ersten Jahren nach 1980 eine Monopolstellung inne hat, steht der Name der Firma im allgemeinen Sprachgebrauch auch häufig für die gesamte Sportart. In den frühen 1980er Jahren wächst die Popularität des neuen Sportgeräts besonders bei Eishockeyspielern, Skifahrern und Eiskunstläufern an, bevor durch intensives Vermarkten auch der Massenmarkt erreicht wird (ZAIDMAN 2004).

Als Ursprungsgebiete des Inlineskating-Trends werden die Strand- promenaden von Florida und Südkalifornien gesehen. Dort werden in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren von unterschiedlichen Inlineskating-Firmen gezielte Promotion-Shows organisiert, die helfen sollen, die Popularität des neuen Sportgeräts zu steigern. Dieses gezielte Marketing in Kombination mit den aufkommenden Idealen einer freizeit- und sportorientierten Spaßgesellschaft und dem Interesse der Bevölkerung an dieser „neuen“ Form der Fortbewegung ermöglichen den bereits erwähnten „Boom“, der in dieser Form noch bei keinem anderen Sport in einer so kurzen Zeitspanne aufgetreten ist (URQUHART 2006).

Zeitgleich mit dieser Massenausbreitung beginnen einige der Inlineskater die Möglichkeiten des Sportgeräts zu erkunden und auszuweiten. Diese Pioniere werden auch oft als „erste Generation“ des Inlineskatings bezeichnet. Dies geschieht besonders in Form von Tricks, was in diesem Kontext haupt- sächlich das Befahren und Überwinden von gegebenen Objekten mit den Inlineskates in unterschiedlichen Manövern und Bewegungsabläufen bedeutet. Darunter versteht man das Springen über eine Parkbank genauso wie das Befahren von Treppenstufen oder das Herunterrollen von geneigten Flächen an Gebäuden. Besonders die Trick-Variante des Entlangrutschens und -gleitens an Objekten, das so genannte „Grinden“, hat sich durchgesetzt und verbreitet. Für diese Trickform benutzen Inlineskater größtenteils (wie auch andere „Grind-orientierte“ Sportarten wie Skateboarding, Snake- boarding, BMX und neue Formen des Snowboarding und Freestyle-Skiing) Treppengeländer („Rails“) oder Beton- und Steinkanten („Curbs“/ „Ledges“). Im November 1991 - also mitten im „Inline-Boom“ - wird auch der weltweit erste „Grind“ eines Inlineskaters auf einem „Rail“ auf Kamera festgehalten. Dies wird von den führenden Inlineskate-Medien und einem großen Teil der professionellen Inlineskater dieser ersten Generation bis heute als Anfang der eigenen Kulturform verstanden (URQUHART 2006).

1993 wird das erste eigene Medium der Sportart in Form der Zeitschrift „Daily Bread“ geschaffen, das sich ausschließlich diesem Trick orientierten Aspekt des Inlineskatens widmet. Mit dem Sitz in San Diego, im Herzen der aufkeimenden Inlineskating-Industrie, fungiert „Daily Bread“ als Sprachrohr des Sports und dient als Vernetzungsfunktion und Kommunikationsplattform für Gleichgesinnte. Neben den bestehenden Zeitschriften haben auch ver- öffentlichte Videos eine entscheidende Bedeutung für die gesamte (Weiter-)

Entwicklung des Sports und die gleichzeitig entstehende Inlineskate-Kultur. Da vereins- oder verbandstypische Organisationsformen gewissermaßen nicht vorhanden sind, bieten die durch die Videos übermittelten Tricks eine Art Vorgabe, was mit dem Sportgerät gemacht werden kann. Diese selbst produzierten Filme dienen von Beginn an dem Informationsaustausch, können aber nicht als ein Regelwerk verstanden werden. Gleichzeitig wird mit den Videos eine Basis für die Identität des Sports und seiner Kultur geschaffen, die weltweit Nachahmer der gezeigten Tricks hervorbringt. Überall wo Inlineskating betrieben wird, werden die vollzogenen Tricks auch von den Inlineskatern gefilmt. Der gesamte Sport entwickelt sich so stark medienorientiert. Auf die Bedeutung, die Videos und Zeitschriften bei der Wahrnehmung von möglichen befahrbaren Objekten für die Inlineskater einnehmen, wird in Kapitel 4.4 näher eingegangen.

Die weiter ansteigende Popularität der Sportart gründet auch in einer aus- geprägten Medienpräsenz. 1994 werden beispielsweise mehrere Hollywood- Filme mit auf Inlineskating bezogener Handlung produziert, mehrere US- amerikanische Fernsehsender strahlen Sendereihen über Inlineskating aus und eine Vielzahl an Werbekampagnen wirbt mit der neuen Sportart für ihre Produkte. Der Höhepunkt der medialen Darstellung wird 1995 mit den „X- Games“, einer Art Olympiaalternative mit ausgewählten Extrem- und Risiko- sportarten des US-amerikanischen Sportsenders ESPN, erreicht. Diese mediale Präsenz steigert die weltweite Popularität des Inlineskatings stark (URQUHART 2006). Zusätzlich gewinnt das Internet zunehmend an medialer Bedeutung. Eine Vielzahl kommerzieller und privater Homepages verbreiten schnell neue Entwicklungen und Informationen und verstärken so die welt- weite Verbreitung verschiedener Sportarten (BORDEN 2001, S. 118) und so auch die des relativ jungen Inlineskatings.

Beinahe genauso rasant wie der Inlineskating-Massenmarkt angewachsen ist, bricht er um die Jahrtausendwende zusammen, woraufhin sich viele der großen Sportartikelhersteller aus diesem Marktsegment zurückziehen. Etwa zeitgleich setzt eine Entwicklung ein, die mit anderen Jugendkultur- bewegungen des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise der Punkrock- Bewegung in den 1960er Jahren vergleichbar ist. Kleine und finanziell oft un- abhängige Firmen, die direkt aus dem Sport entstanden sind, versuchen in einer sogenannten „Grassroots“- oder „Do-It-Yourself“-Manier den Sport und die Kultur des Inlineskatens aufrecht zu erhalten (URQUHART 2006).

Eine Ursachenanalyse, warum der Markt zusammengebrochen ist, stellt sich als kompliziert heraus. Einerseits verliert eine „neue“ Sportart nach 10 Jahren den Faktor des „Neuen“ und somit auch an damit verbundener Popularität. URQUHART geht andererseits davon aus, das die unreflektierte Adaption der bereits länger bestehenden Skateboard-Kultur und die damit verbun-denen Image-Probleme des Inlineskatings die Hauptursache des Zusam-menbruchs sind. Auch der Ausschluss des Inlineskatings aus den „X-Games“ im Jahr 2004 und der damit verbundene Verlust des massenwirksamsten Mediums sind zu nennen.

Diese Argumente werden jedoch der Komplexität eines wirtschaftlichen Vorgangs nicht ganz gerecht. Auf eine genauere Analyse dieser Problematik wird hier verzichtet. Wichtig im Bezug zur Untersuchung ist lediglich, dass sich durch die Krise neue Strukturen in der Inlineskating-Industrie gebildet haben.

Tabelle 1: Umsatzentwicklung der Inlineskating-Industrie

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(eigene Darstellung nach URQUHART und ZAIDMAN)

Die beschriebene Entwicklung des gesamten Inlineskating-Marktes kann auch an den weltweiten Umsätzen dieses Marktsegments beobachtet wer- den. Die verwendeten Werte basieren auf Schätzungen der Sporting Goods Manufacturers Association (SGMA), einer Vereinigung von Sportartikel- herstellern der USA. Da die genaue Erhebungsmethode der SGMA unklar bleibt, soll die daraus erstellte Tabelle lediglich als zusätzliche Orientierungshilfe zur Marktentwicklung dienen (siehe Tabelle 1).

Von der Markteinführung im Jahr 1980 bis zum Höhepunkt der Ausbreitung in den späten 90er Jahren steigen die Umsatzzahlen und die Zahl der den Sport aktiv ausübenden Personen rasant an. 1998 erreichen alle unterschiedlichen Varianten des Sports mit fast 32 Millionen Inlineskatern weltweit ihre größte Ausbreitung und einen geschätzten Jahresumsatz von fast 400 Millionen US-Dollar. Nach dem Zusammenbruch kurz vor der Jahr- tausendwende wird die Anzahl der Inlineskater im Jahr 2006 auf ca. 15 Millionen Personen geschätzt und der Umsatz der Sportart liegt bei ca. 270 Millionen US-Dollar. Schätzungen gehen davon aus, dass von den 15 Millionen aktiven Inlineskatern knapp eine Million zu den trickorientierten Streetskatern gehören (URQUHART 2006).

Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich Streetskating (egal ob es als Extrem-, Risiko- oder Trendsport verstanden wird) unabhängig von der finanziellen Entwicklung und Marktgröße stets weiterentwickelt hat. Die verwendeten Produkte werden stets verfeinert, die Tricktechniken und Schwierigkeitsgrade der Bewegungen von den Sportlern stets diversifiziert. Die bestehende Inlineskating-Industrie dient als Basis für die geschrumpfte, aber gefestigte Kultur des Inlineskatings. Fehlende Organisationsformen wie Vereine oder ein festes Regelwerk werden durch die besondere szeneinterne mediale Orientierung des Sports (in Form von eigenen Zeitschriften, Internetseiten und veröffentlichten Videoproduktionen) kompensiert und be- wirken eine selbstständige und offene Positionierung, was Inlineskating ist. Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass Popularität und Marktgröße des „Inline-Booms“ in den nächsten Jahren wieder erreicht werden, kann man von einem zukünftigen dauerhaften Bestehen des Inlineskatings ausgehen.

3 Theoretischer Hintergrund

Die theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit besteht aus drei Teilbereichen: die Klärung des Begriffs „Raum“, das Konzept der Raumaneignung und verschiedene wahrnehmungsgeographische Theorien. Im Verständnis des Verfassers sind Wahrnehmung und Aneignung eines Raums nicht zu trennen, da sie in einem direkten Verhältnis zueinander stehen und sich gegenseitig beeinflussen.

Diese Theoriefelder werden in den folgenden Abschnitten kurz vorgestellt und in Bezug zur vorliegenden Arbeit gesetzt. Zunächst muss noch darauf hingewiesen werden, dass die verschiedenen verwendeten Theorien be- züglich eines (fehlenden) einheitlichen Verständnisses von Raum proble- matisch sind. Deshalb muss vor der Beschäftigung mit dem Konzept der Raumaneignung und -wahrnehmung zunächst der Begriff „Raum“ genauer betrachtet werden. Als Basis dieser Arbeit soll das Raummodell von MARTINA LÖW dienen, welches sich jedoch nicht mit dem verwendeten Raumverständnis des Raumaneignungskonzeptes deckt. Dessen Vertreter gehen meist von einer strikten Trennung von Raum und Subjekt aus (LÖW 2001, S. 249).

Besonders DEINET fordert aber eine Überwindung dieser Trennung und schlägt daher eine Angleichung des Aneignungskonzeptes an das Raum- modell von LÖW vor (DEINET 2005, S. 10f). Deshalb werden in dieser Arbeit zuerst die verschiedenen Vorstellungen von Raum genannt, die von den Vertretern des Konzepts der Raumaneignung verwendet werden. Danach wird LÖWs Raummodell beschrieben, an welches das Konzept der Raum- aneignung angeglichen werden soll. Ebenfalls unter Berücksichtigung von LÖWs Raummodell soll der Begriff „öffentlicher Raum“ kurz angesprochen werden.

Anschließend werden die Theorien der Wahrnehmungsgeographie in knapper Form dargestellt. Besonderer Fokus liegt hier auf den Mental Maps, also den subjektiven Vorstellungsbildern des Raumes. Diese Wahrnehmung und Bewertung von Raum ist mitbestimmend für räumliches Verhalten, also auch für die Raumaneignung.

3.1 Raum

Da bei den Theorien der Wahrnehmung und Aneignung der Raum immer eine entscheidende Rolle einnimmt, ist es sinnvoll und hilfreich, zu Beginn den Raum selbst zu thematisieren. Der Begriff „Raum“ soll verständlich gemacht, das Raummodell von LÖW kompakt dargestellt und abschließend das Verständnis von öffentlichem Raum erklärt werden.

3.1.1 Der Begriff „Raum“

Was ist Raum? Eine einheitliche Antwort auf diese Frage ist nicht vorhanden. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Raum bezeichnete im Sprach- gebrauch einen freien Platz, was der Komplexität des Begriffes (zumindest aus geographischer Perspektive) nicht gerecht wird. Unterschiedliche Autoren verwenden auch unterschiedliche Definitionen für den Begriff „Raum“. So fordert beispielsweise WERLEN für die jeweilige Untersuchung auch die Entwicklung eines passenden Raumbegriffs und schließt somit eine allgemein gültige Definition des Begriffs „Raum“ aus (WERLEN 1987, S. 280). Das gängige Verständnis von Vertretern der raumplanenden Diszi- plinen sieht „Raum“ heute besonders in seiner lebensweltlichen Verbindung und einer Vielzahl von Wechselbeziehungen. Zunehmend wird ein zeit- gemäßer Raumbegriff verwendet, der „Raum“ als dynamisch, produziert, relational und konstruiert interpretiert (WÜSTENROT STIFTUNG 2009, S. 10).

Vertreter des Aneignungskonzeptes verwenden aber Raumbegriffe, die eine Trennung von Raum und Subjekt vollziehen. Raum ist für sie eine Umgebung, die von gesellschaftlichen und individuellen Aneignungsprozessen der handelnden Menschen entkoppelt ist. Bewegte Handlungen finden hier in einem unbewegten Raum statt. Man bezeichnet diesen Raumbegriff auch als „Behälter“-Raummodell oder als absolutistisches Verständnis von Raum, da dieser hier auch ohne menschliche Handlungen zu bestehen scheint. Raum ist unter einem absolutistischen Verständnis nur eine Randbedingung des Inhaltes (LÖW 2001, S. 19ff).

Diese Vorstellung von Raum als etwas konstant und unabhängig Exis- tierendes ist die Ursache des genannten Problems bezüglich des Konzepts der Raumaneignung.

Es beschränkt das Konzept auf eine Aneignung von bereits bestehenden räumlichen Strukturen statt die Möglichkeit des situationsbedingten Erschaffens von Raum zuzulassen. Um diese Einengung des Aneignungskonzeptes zu vermeiden, ist eine kontext- und subjektabhängige Vorstellung von der Schaffung von Raum notwendig (BRAUN 2004, S. 25).

3.1.2 Das Raummodell nach LÖW

Als theoretische Grundlage dieser Arbeit dient das Raummodell von MARTINA LÖW. Ihr Modell ist als Weiterentwicklung eines relationalen Raumkonzeptes zu verstehen. In diesem stellt der Raum eine relationale Stellung von Objekten dar und muss aus seinem gesellschaftlichen Zusammenhang heraus erklärt werden. Der Raum entsteht also durch eine Struktur der Lage der Objekte zueinander. Menschen sind hier im Gegensatz zum absolutistisch gedachten Raum Teil des Raumzusammenhangs. Raum wird hier stets als dynamisch und gesellschaftlich sowie individuell konstruiert gesehen (FREY 2004, S. 220). Im Rahmen dieser Arbeit wird von einer detaillierteren Darstellung von LÖWs Raummodell abgesehen. Ziel ist es, nur die Grundgedanken klar zu beschreiben.

LÖWs Hauptthese ist, dass die Entstehung von Raum als ein soziales Phänomen verstanden wird. Raum wird für LÖW „aus der Struktur der Menschen und sozialen Güter heraus abgeleitet“ (LÖW 2001, S. 264). Nur so können nach LÖW Veränderungen im Raum erfasst werden. Damit schließt sie aus, dass Forschung, die „Behälterraum“ orientiert denkt, Informationen über die Veränderungen im Raum gewinnen kann, da dort Veränderung nur als Fragmentierung des Räumlichen erfasst wird. LÖW kritisiert außerdem die synonyme Verwendung der Begriffe „Raum“ und „Ort“. Als Ort versteht sie nur einen fixen Punkt, der der Komplexität des Raumbegriffs nicht gerecht wird. Die Existenz von verschiedenen Räumen an einem Ort ist bei „absolutistischen“ Raumbegriffen somit nicht möglich (LÖW 2001, S. 263ff).

Im dynamischen Raummodell von LÖW wird Raum durch Subjekte kon- stituiert und entsteht prozesshaft. Die Konstitution von Raum wird in zwei gleichzeitig stattfindende Prozesse aufgeteilt: „Spacing“ und „Synthese- leistung“. „Spacing“ bezeichnet den Prozess der Positionierung von Gütern und Personen in einer Relation zueinander. Dieses in Beziehung Setzen wird auch als Raumpraxis bezeichnet und schließt das in Beziehung setzende Individuum gleichzeitig in den entstehenden Raum mit ein. Die „Synthese- leistung“ ist nach LÖW eine Zusammenfassung dieser „gespaceten“ Güter und Menschen zu einem Raum über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse. Die Informationen dieser Prozesse sind die Bausteine der Raumkonstruktion. Syntheseleistung und Spacing wirken wechselseitig aufeinander ein, woraus dann Raumvorstellungen und eine Bedeutungs- zuschreibung entstehen. Diesen Prozess bezeichnet LÖW als Konstruktion (LÖW 2001, S. 158ff).

Die Konstruktion von Raum durch Spacing und Syntheseleistung findet meist mit Einschränkungen statt. Bestehende institutionalisierte Ordnungsformen bewirken, dass Spacing und Syntheseleistung nur genormt Raum erschaffen. Auch die Möglichkeiten, den Raum zu konstruieren (im Sinne von symbolischen und materiellen Gegebenheiten einer Handlungssituation), bestehen meist unterschiedlich ausgeprägt. Daraus ergeben sich ungleiche Verteilungen von Raum, was LÖW als Ursache von sozialen Auseinander- setzungen interpretiert. Diese Auseinandersetzungen beziehen sich auf die Durchsetzung der bestehenden Ordnung oder die Verfügbarkeit von Raum. Spacing ermöglicht nach LÖW erst das Entstehen von Orten, welche wiederum Raum entstehen lassen. Verschiedene Räume an einem Ort können nebeneinander oder in Konkurrenz miteinander existieren. Das soziale Phänomen der Raumerschaffung ist in diesem Verständnis also immer abhängig von den gesellschaftlichen Begebenheiten und entwickelt sich daher nicht überall gleich (LÖW 2001, S. 271ff).

3.1.3 Der öffentliche Raum

Der Begriff „öffentlicher Raum“ gestaltet sich unter Verwendung von LÖWs Raummodell problematisch. „Öffentlicher Raum“ ist meist ein fixer, geo- graphisch klar abgrenzbarer Ort und daher im LÖWschen Sinne kein Raum sondern ein „Ort“. Die Positionierung mit sozialen Gütern und Objekten an diesem Ort kann nach LÖW nicht als Raum bezeichnet werden, sondern schafft nur eine Basis für die Raumkonstitution (LÖW 2001, S. 198). Das in der Literatur am häufigsten verwendete Abgrenzungskriterium von öffentlichem und privatem Raum ist die freie Zugangsmöglichkeit für alle. Für diese Arbeit wird demnach auch eine Definition des „öffentlichen Raumes“ über dessen allgemeine Zugangs- und Nutzungsmöglichkeit verwendet. Damit sind Orte gemeint, die prinzipiell öffentlich aufgesucht werden und im weitesten Sinne ohne Zugangsberechtigungen auskommen (HAUBOLD 1997, S. 61).

Hieraus ergeben sich aber erneut Schwierigkeiten, da nach SIEBEL und WEHRHEIM ein Unterschied zwischen dem theoretischen Ideal einer jederzeit und für jedermann uneingeschränkten Zugänglichkeit und der Wirklichkeit besteht, sodass diese Vorraussetzung in dieser Form noch nie existiert hat und Raum immer auch exklusiv ist (SIEBEL/ WEHRHEIM 2003, S. 4f). Auch die klare Abgrenzung von öffentlichem und privatem Raum beinhaltet Unschärfen, da öffentlich genutzte Orte oft privatrechtlichen Nutzungseinschränkungen unterliegen. Eine grobe Aufgliederung scheint dennoch notwendig. NISSEN unterteilt öffentlichen Raum in „öffentliche Frei- räume“, „öffentlich zugängliche verhäuslichte Räume“ und „institutionalisierte öffentliche Räume“. Unter „öffentlichen Freiräumen“ versteht sie Grünflächen und Straßen. „Öffentlich zugängliche verhäuslichte Räume“ sind beispiels- weise Bahnhöfe oder Shopping-Center. Schulen, Kirchen und Ähnliches sind nach NISSEN „institutionalisierte öffentliche Räume“ (NISSEN 1998, S. 170). Nach BELINA liegt bei der Erschaffung von Raum auch häufig eine interessengesteuerte Ideologie zu Grunde. Im Fall des öffentlichen Raums wird das Ideal der allgemeinen Zugänglichkeit verwendet. Unterschiedliche Interessengruppen äußern gegenüber dem öffentlichen Raum auch unterschiedliche Ansprüche. Für die Politik spielt zum Beispiel der Sicher- heitsaspekt des öffentlichen Raums eine tragende Rolle, für den Einzel- handel die ästhetische Aufwertung oder Erhaltung und für Inlineskater die Möglichkeit der kreativen Nutzbarmachung des öffentlichen Raums für ihre Zwecke. Der durch soziale Praxis immer wieder hergestellte Raum ist dem- nach immer ein interessenbedingt umkämpftes Produkt. Die jeweiligen

Machtverhältnisse der Gruppen sind entscheidend dafür, wer bestimmt, was als öffentlicher Raum zu verstehen ist und welche Handlungen somit dort stattfinden können (BELINA 2001, S. 234f).

Die in dieser Arbeit beobachteten und befragten Inlineskater können auch zur Gruppe der von bestimmten öffentlichen Räumen Ausgeschlossenen gezählt werden. Zudem nutzen sie auch die „Grauzonen“ zwischen öffentlichem und privatem Raum. Es wird versucht, die von den Inlineskatern tatsächlich genutzten Räume einzubeziehen und die Auswirkungen der bestehenden Exklusionen auf ihr Verhalten deutlich zu machen.

3.2 Raumaneignung

Ähnlich wie beim Raumbegriff bestehen auch beim Konzept der Raumaneignung anstatt einer einheitlichen Formulierung für unterschiedliche Untersuchungen auch unterschiedliche Formen des Konzeptes. Im Folgenden soll die Raumaneignung unter der modifizierten Variante des Aneignungskonzeptes auf der Grundlage des Raumbegriffs von LÖW ver- wendet werden. Das Konzept bezieht sich auf den Standpunkt von Kindern und Jugendlichen. Es wird hier aber weitgreifender verstanden und ganz im Sinne von LÖW auf alle handelnden Individuen angewendet (LÖW, 2001, S. 88f). Die Ausweitung der Aussagekraft auf ältere Individuen ist notwendig, da die untersuchte Gruppe der Inlineskater nur zu einem Teil der Altersgruppe der Jugendlichen zuzuschreiben ist, dies aber nicht verallgemeinernd für alle Inlineskater gesagt werden kann. Je älter der Sport an sich ist, desto ausgeglichener verteilt sich auch das Alter der partizipierenden Sportler (URQUHART 2006). Allein bei den für diese Arbeit getätigten Interviews war die Hälfte der befragten Inlineskater zum Untersuchungszeitpunkt älter als 21 Jahre und somit im deutschen Rechtsverständnis nicht mehr als Jugendlich zu bezeichnen.

Unter der angenommenen Gültigkeit der Aussagekraft für alle handelnden Individuen und der Anpassung an LÖWs Raumverständnis dient das Konzept als eine theoretische Grundlage für einen Teil der qualitativen Forschung dieser Arbeit.

3.2.1 Das Aneignungskonzept

Die frühen Ursprünge des Aneignungskonzeptes finden sich im 18. Jahrhundert, wobei die Bedeutung in dieser Zeit nicht über die rechtliche Auslegung der Aneignung von Gegenständen hinausgeht. Aus dieser ursprünglichen Interpretation entwickeln sich rechtsphilosophische und politökonomische Ausprägungen. Eine sozialpädagogische Weiterentwick- lung des Aneignungskonzeptes geht auf die sogenannte kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie zurück und ist immer mit dem Namen Leontjew verbunden. Sein Ansatz besteht darin, dass sich der Mensch in seiner Entwicklung aktiv mit der Umwelt auseinandersetzt und sich so die gegenständliche und symbolische Kultur der Umwelt aneignet (BRAUN 2004, S. 20f).

DEINETS tätigkeitstheoretischer Ansatz ist eine Weiterentwicklung des Aneignungskonzeptes von Leontjew. Bei DEINET wird der Aneignungs- prozess stärker in Verbindung mit der realen gesellschaftlichen Welt gesetzt. So werden Aneignung und Raum in einem sozialökologischen Theorieansatz miteinander verknüpft. Nach DEINET vermitteln sich gesellschaftliche Ver- hältnisse für Kinder und Jugendliche vor allem räumlich, da die Bedeutungen der angeeigneten Gegenstände immer auch mit Raum verbunden sind. Die so vollzogene Aneignungsleistung von Kindern und Jugendlichen sieht DEINET als Möglichkeit, Räumen neben den bereits bestehenden weitere Bedeutungen und Funktionen hinzuzufügen. Dieses Benutzen der Umwelt wird unterteilt in eine strukturbezogene Ebene und eine subjektbezogene Ebene. Die strukturbezogene Ebene beinhaltet die Umweltgegebenheiten, die subjektbezogene Ebene die individuellen Faktoren. Gesellschaftliche Grundvoraussetzungen können, bezogen auf den Aneignungsprozess, ein- schränkend wirken, da häufig räumliche Interessenskonflikte bestehen. Raumaneignung ist somit eine Nutzung der im Raum vorhandenen Möglichkeiten und deren Ausweitung. Neben den objektiv vorhandenen Merkmalen der Möglichkeiten eines Raumes bestimmen auch subjektive Bedeutungszuweisungen stark den Raumaneignungsprozess (DEINET 2005, S. 1ff).

HOLZKAMP erweitert das Aneignungskonzept um den Aspekt der Handlungsfähigkeit des Subjekts. Bestehende Regeln und Ordnungen können die Handlungsfähigkeit einschränken. Raumaneignung wird hier als Erweiterungsmöglichkeit der eingeschränkten Handlungsfähigkeit und somit als Verwirklichung des handelnden Subjekts verstanden. Von einer erfolgreichen Raumaneignung spricht HOLZKAMP, wenn sich das Individuum gegen andere im Raum bestehende Interessen durchzusetzen vermag (HOLZKAMP 1983, S. 241f).

Ein Individuum eignet sich also Raum an, indem es in einem ersten Schritt die bestehenden gesellschaftlichen Funktionen von Raum wahrnimmt und lernt. Der Raum kann dann in einem zweiten Schritt nach subjektiven Vorstellungen und je nach bestehender Handlungsfähigkeit aktiv genutzt und verändert werden. Die Handlungsfähigkeit wird bestimmt durch die strukturellen Gegebenheiten, also Regeln, Interessen und Ansprüchen an Raum und das Potential des aktiven Subjekts. Raum wird als angeeignet verstanden, wenn die subjektiven Interessen gegen bestehende Interessen durchgesetzt werden können und eine raumwirksame Handlung zustande- kommt.

3.2.2 Modifikation des Aneignungskonzeptes nach LÖW

Da das Konzept der Raumaneignung bei einer Trennung von Subjekt und Raum das aktive Erschaffen von Raum durch das Subjekt ausschließt, bedarf es einer Modifikation des Konzeptes mithilfe eines relationalen Raumbegriffes wie ihn LÖW verwendet. Raumaneignung nach LÖW ist mehr als nur erfolgreiches Durchsetzen der Interessen des handelnden Individuums. Das aktive Erschaffen von Raum durch die Raumaneignung ist für diese Arbeit entscheidend, da so die Wechselwirkungen zwischen Handlungen und der bestehenden Struktur einbezogen werden können. Das Individuum handelt und erschafft so Raum, der wiederum durch seine Struktur das Handeln mitbestimmt. Der komplexe Prozess der Raum- aneignung im Sinne eines Erschaffens von Raum besteht aus Spacing, Syntheseleistung, der daraus resultierenden Bedeutungszuschreibung und den vorhandenen Möglichkeiten und Einschränkungen (LÖW, 2001, S. 172f). Diese vorhandenen Bedingungen der Handlungssituation setzen sich aus materiellen und symbolischen Komponenten zusammen. Die Wirkung dieser Komponenten auf das Subjekt beeinflusst wiederum das Handeln. Mit der individuellen Bedeutungszuweisung an den erschaffenen Raum stellt das Individuum auch gleichzeitig ein bestimmtes Verhältnis zu diesem Raum her, was mit einer subjektiven Wahrnehmung des Raumes einhergeht. Die Raumaneignung auf der Basis von LÖWs Raummodell steht in einem direkten Zusammenhang zur Wahrnehmung, da sich diese auf das Handeln des Individuums auswirkt und zusammen mit den Erinnerungs- und Vorstellungsprozessen die Syntheseleistung ermöglicht. Diese Synthese- leistung ist abhängig von vorhandenen Schemata des jeweiligen Individuums (wie Sozialisation und Bildung) und demnach häufig vorstrukturiert sowie selektiv ausgerichtet. LÖW spricht hier von einer Inszenierung, die eine gewisse Wahrnehmung und Atmosphäre zu erzeugen versucht (LÖW 2001, S. 197f).

Wenn ein Individuum eine positive Atmosphäre eines Raumes wahrnimmt, so wird es an demselben oder einem ähnlichen Ort versuchen, mithilfe der bewussten Wiederholung der Handlungssituation einen vergleichbaren Raum und ein vergleichbares Verhalten zu reproduzieren.

3.2.3 Gegenkultureller Raum

Bevor von gegenkulturellem Raum gesprochen werden kann, muss erst kurz der Begriff „Gegenkultur“ verständlich gemacht werden. LÖW geht hierfür von einer existierenden homogenen Kulturform der Gesellschaft aus. Diese Kulturform der Gesellschaft ist dominant gegenüber kleineren Kulturformen und erlangt im Raum durch institutionelle Regeln an Bedeutung für das Handeln des Individuums. Durchbricht das Individuum diese festen räumlichen Strukturen durch eine aktive Raumaneignung, kann so ein neuer Raum geschaffen werden (LÖW 2001, S. 186).

Wenn sich das Durchbrechen von festen räumlichen Strukturen regelmäßig und kollektiv wiederholt, kann es zu Veränderungen dieses Raumes und damit zu gesellschaftlichen Strukturveränderungen kommen. Ein durch gegen institutionalisierte Ordnungen gerichtetes Handeln entstehender Raum wird als gegenkultureller Raum bezeichnet. Der neue Raum existiert parallel zu den anderen Räumen, besteht aber durch seine Regeln ausweitende und brechende Form in einem Spannungsverhältnis zu den anderen Räumen.

Die Konstitution von gegenkulturellem Raum durch eine stattfindende Raumaneignung resultiert nach LÖW aus einem vom handelnden Subjekt ausgehenden körperlich-emotionalen Begehren nach Veränderung (LÖW 2001, S. 184ff). Eine eigentliche Motivation gegen die Kultur direkt muss nicht erkennbar sein. Auch ohne die Absicht, bestehende Strukturen zu durchbrechen, kann dies durch Handlungen eintreten (LÖW 2001, S. 191). Für das in dieser Arbeit verwendete Beispiel der Inlineskater ist besonders der Aspekt der Erschaffung von gegenkulturellem Raum durch körperliches Begehren relevant. Die vollzogene kreative und gestaltende Handlung, also das aktive Befahren von Objekten und Hindernissen im öffentlichen Raum mit Inlineskates, weicht häufig von den bestehenden räumlichen Strukturen ab. Das Individuum, in diesem Fall der Inlineskater, besitzt subjektive Vorstellungen des Raums, die von den bestehenden räumlichen Strukturen abweichen. Werden diese Vorstellungen nun durch Handlungen umgesetzt, wird gegenkultureller Raum erschaffen.

3.3 Raumwahrnehmung

Wie bereits in Kapitel 3.2.2 angesprochen beeinflusst die Wahrnehmung das Handeln des Individuums und damit auch den Prozess der Raumaneignung. Demnach ist es für diese Arbeit notwendig das Phänomen der Wahrnehmung aus einer geographischen Perspektive zu beschreiben.

3.3.1 Der Begriff „Wahrnehmung“

Bevor jedoch näher auf geographische Konzepte der Raumwahrnehmung eingegangen werden kann, soll versucht werden, den Begriff „Wahrnehmung“ zu skizzieren. Problematisch ist auch hier, dass verschie- dene wissenschaftliche Definitionen und umgangssprachliche Bedeutungen existieren. Meist wird von einer Aufnahme und Verarbeitung von Umwelt- reizen gesprochen. WISWEDE versteht unter Wahrnehmung „jenen kom- plexen Vorgang, durch den das Individuum die verschiedenen Sinnesreize auswählt, organisiert und im Rahmen eines bedeutungsgeladenen und zusammenhängenden Bildes von der Welt interpretiert“ (in WIRTH 1981, S. 161). Da alle Sinne des Menschen beteiligt sind, ist Wahrnehmung auch mehr als eine rein visuelle Aufnahme von Information. Wahrnehmung wird als eine aktive Aneignung verschiedener Einflüsse verstanden. Der Begriff „Perzeption“ bezeichnet eine daraus resultierende Gesamtheit der Prozesse der Informationsverarbeitung. Wahrnehmungen, Erinnerungen, Einstellungen, Präferenzen und psychologische Faktoren wie beispielsweise soziodemographische Einflüsse bilden zusammen die jeweilige Perzeption des Individuums. Dieser Prozess kann sowohl bewusst als auch unbewusst stattfinden und wird konstant mit subjektiven Schemata abgeglichen (DOWNS/ STEA 1973, S. 13ff).

In der englischsprachigen Literatur wird der Begriff „Wahrnehmung“ in „perception“ und „cognition“ unterteilt. „Perception“ bezeichnet den Prozess der Bewusstwerdung der Umweltstimuli. „Cognition“ beschreibt die Fähigkeit, das Wahrgenommene im Gedächtnis zu speichern und zu ordnen und das daraus resultierende Wissen zu benutzen. In diesem Verständnis ist Wahrnehmung ein entscheidender Teil des Erkenntnisprozesses (also des Lernen und Denkens) des Menschen (DOWNS/ STEA 1973, S. 8f).

3.3.2 Geschichte der Wahrnehmungsgeographie

Der wahrnehmungsgeographische Ansatz entwickelt sich seit den 70er Jahren als neuer Forschungszweig der Sozialgeographie. Im Zuge der „kognitiven Wende“ in der geographisch-raumwissenschaftlichen Theoriebildung werden Hypothesen und Konzepte der „Spatial Analysis“ durch den verhaltens- und wahrnehmungstheoretischen Ansatz („Behavioral Approach“) in Frage gestellt und erweitert (WIRTH 1981, S. 161).

Die Wegbereiter der Wahrnehmungsgeographie stammen aus verschie- densten Wissenschaftsdisziplinen. Unterschiedliche Konzepte und Denk- richtungen zum Problem der individuellen Raumwahrnehmung sind beispiels- weise in den Bereichen Psychologie, Umweltpsychologie, Architektur und Städtebau bereits vor den 70er Jahren vorhanden. Eine breit gefasste Auflistung der Disziplinen und der jeweils untersuchten Forschungsfelder gibt TZSCHASCHEL unter Verwendung des Begriffs „Mikrogeographie“. Die Mikrogeographie untersucht die räumlichen Handlungen von einzelnen Akteuren und versucht den Bezug zwischen Individuum und Raum zu erkennen (TZSCHASCHEL 1986, S. 10ff).

Die subjektiven menschlichen Erfahrungen von Raum und der subjektiv wahrgenommene Raum an sich bilden das Zentrum des Interesses der wahrnehmungsgeographischen Forschung (BARTELS/ HARD 1975, S. 104). Mit diesem, im englischsprachigen Raum „Behavioral Approach“ genannten Ansatz wurden die restriktiven Annahmen des homo oeconomicus dahingehend erweitert, dass der Mensch die Umwelt subjektiv, und nicht wie sie objektiv zu sein scheint, wahrnimmt. Diese subjektive Wahrnehmung geschieht weder neutral noch objektiv, sondern findet immer selektiv und wertend statt. Wahrnehmungsgeographisch ausgerichtete Forschung untersucht die Wahrnehmung, die Vorstellung von Raum, die Bewertung von Wahrnehmung und Raum und das daraus resultierende Verhalten des Individuums im Raum (WERLEN 2004, S. 265f).

Die Grundannahme des „Behavioral Approach“ liegt darin, dass die selektive Wahrnehmung der Umwelt das Verhalten und Handeln des Menschen in dieser beeinflusst. DOWNS und STEA unterscheiden hier die Einflüsse von „Spatial Cognition“, „Image“ und „Mental Map“. Um die räumlichen Strukturen zu verstehen, müssen die zugrunde liegenden Entscheidungen und Verhaltensweisen demnach bekannt sein, das sogenannte „Behavior in Space“. Die Mental Map - Forschung versucht, dieses räumliche Verhalten sichtbar zu machen. Da Wahrnehmung als ein meist unbewusst statt- findender Teil des menschlichen Lebens verstanden wird, ist es außerdem wichtig, in welcher Weise etwas vom Individuum wahrgenommen wird und was dies für das räumliche Handeln und Verhalten bedeutet (DOWNS/ STEA 1973, S. 9f). Wenn der Mensch in Relevanz zum Raum in irgendeiner Form aktiv wird (was sich auch in Form einer unterlassenen Aktivität äußern kann), gilt dies in der Wahrnehmungsgeographie als Verhalten. Ursache des raumrelevanten Verhaltens ist in diesem Fall ein Reiz (WEICHHART 2008, S. 214).

Daraus ergeben sich nach DOWNS wahrnehmungsgeographische Unter- suchungsfelder: die subjektive Umweltwahrnehmung, das Bewertungs- verhalten und das Entscheidungsverhalten des Individuums (DOWNS 1970, S. 80). Besonders die subjektive Umweltwahrnehmung und das daraus resultierende Entscheidungsverhalten, also welchen Teil der Umwelt der Mensch wahrnimmt und wie sich das auf sein räumliches Verhalten auswirkt, sollen in dieser Arbeit am Beispiel der Inlineskater untersucht werden. Der klassische deterministische Ansatz definiert das Verhalten als direktes Resultat der Wirkung von Raum auf ein Subjekt. Durch den wahrnehmungs- geographischen Ansatz wird er in dem Sinne ergänzt, dass die Wahr- nehmung, die Vorstellung, die Bewertung, das Bewusstsein und die Über- prüfung von Handlungsalternativen zwischen der Raumwirkung und dem resultierenden Verhalten des Menschen gegenüber dem Raum wirksam sind (WIRTH 1981, S. 164).

3.3.3 Geographische Wahrnehmungskonzepte

Um verstehen zu können, welche Rolle die Wahrnehmung beim Verhalten und damit auch beim Prozess der Raumaneignung spielt, bestehen in der Wahrnehmungsgeographie unterschiedliche Modelle und Konzepte. Die Ansätze von LYNCH und DOWNS werden im Folgenden kurz skizzieren und ihre Bedeutung für die Fragestellung dieser Arbeit aufgezeigt. LYNCHS Werk „Image of the City“ bildet einen ersten grundlegenden Über- blick über wahrnehmungs- und verhaltensorientierte Ansätze der Geo- graphie. Nach LYNCH ist die wichtigste Eigenschaft eines städtischen Raums das Potential dieses Raums, von einem Betrachter durch die Er- schaffung eines subjektiven Vorstellungsbildes, dem Raumimage, inter- pretiert zu werden (LYNCH 1960, S. 3). Es bestehen vier Grundpositionen des Raumimages bei LYNCH:

-Wahrnehmung als dialektischer Prozess
-Environmental Image
-Mental Maps
-Erkennen und Bedeutungszuschreibung

Für LYNCH steht die Wahrnehmung der Umwelt in einem dialektischen Prozess mit dem Menschen selbst, indem sich sowohl der Betrachter als auch das Betrachtete gegenseitig beeinflussen. Individuelle Erfahrungen und der (eigene) räumliche Zusammenhang sind entscheidend für das Wahrnehmen und das Bewerten des Wahrgenommenen. So fließen Eigenschaften des Wahrnehmenden und Eigenschaften des Wahrzu- nehmenden in die Wahrnehmung mit ein, wobei LYNCH besonders die aktive und selektive Rolle des Wahrnehmenden betont (LYNCH 1960, S. 6). Das Environmental Image bildet sich bei LYNCH aus der direkten Wahrnehmung und der Erfahrung eines Menschen. Es ist ein mentales Abbild der physischen Umgebung eines Menschen, welches als Grundlage aller räumlichen Handlungen verstanden wird. Aus LYNCHS Environmental Image wurde das Konzept der kognitiven Karte weiterentwickelt, welches eine zentrale Rolle bei der geographischen Untersuchung von Wahrnehmung und räumlichem Verhalten einnimmt (FRÖHLICH 2007, S.33). Das Environmental Image setzt sich nach LYNCH aus fünf Strukturelementen zusammen, die als Orientierungshilfen in der Stadt vorhanden sind: Merkzeichen, Brenn- und Knotenpunkte, Wege, Grenzlinien und Bereiche (REDTENBACHER 1996, S. 39).

Mental Maps werden in LYNCHS Untersuchung als graphisches und methodisches Werkzeug verwendet. Man versteht darunter eine angefertigte Kartenskizze, die die Vorstellung von Räumen verbildlicht darstellt. LYNCH verwendet Mental Maps, um Teile des alltäglichen Lebensraumes unter der Perspektive der individuellen oder kollektiven Raumwahrnehmung untersuchen zu können (FRÖHLICH 2007, S. 33f).

Eine für diese Arbeit notwendige exaktere Beschreibung der Mental Map folgt in Kapitel 3.3.4. LYNCH teilt das Environmental Image in zwei voneinander zu trennende Komponenten: das Erkennen und die Bedeutungszuschreibung. Das Erkennen ist hier als „die Identifizierung eines Objektes als eigenständiger Entität in Unterscheidung von anderen Objekten sowie auf das Erkennen bzw. Konstituieren eines räumlichen oder strukturellen Beziehungsgefüges zwischen dem erkannten Objekt und seiner Umgebung, in die auch der Betrachter eingebettet ist“ zu verstehen (FRÖHLICH 2007, S. 34). Dem steht nach LYNCH die entscheidende Bedeutungszuschreibung durch den Betrachter gegenüber (FRÖHLICH 2007, S. 34).

Entscheidend für diese Arbeit ist, dass in LYNCHS Ansatz der Wahr- nehmungsprozess subjektiv, aber auch kollektiv stattfinden kann. Innerhalb von Gruppen ergeben sich häufig Wahrnehmungsmuster, die identisch oder zumindest ähnlich auf bestimmte Merkmale hin gerichtet sind. Eine kollektive Wahrnehmung bei Inlineskatern ist in diesem Verständnis die Ausrichtung und Konzentration des Blicks auf die zum Befahren geeigneten Objekte. Bei dieser selektiven Wahrnehmungsweise wird in der benachbarten Sport- disziplin Skateboarding auch von dem sogenannten „Skater´s Eye“ ge- sprochen (BORDEN 2001, S. 218).

Für die Wahrnehmungsgeographie sind neben den von LYNCH beschriebenen Grundkonzepten der Wahrnehmung noch eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte für das „Bild der Welt“ bedeutsam. Das paradigmatische Wahrnehmungsschema des Behavioral Approach von DOWNS (siehe Abbildung 2) beschreibt die Selektivität des Prozesses der Wahrnehmung durch den Menschen als Filter und die Kopplung von Wahrnehmung, Image und daraus resultierendem Verhalten.

Abbildung 1: Paradigmatisches Wahrnehmungsschema des Behavioral Approach

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: DOWNS 1970, S. 85)

DOWNS geht davon aus, dass menschliches Verhalten durch Umweltreize hervorgerufen wird, welche im Wahrnehmungsprozess verarbeitet werden. Den Ausgangspunkt sieht DOWNS in der „realen Welt“ als Informations- quelle. Die Informationen dieser „realen Welt“ werden vom Menschen mit seinen Sinnen aufgenommen und zu einem „Image“ verwertet. Dies geschieht basierend auf einem individuellen Wertesystem, nach dem der Information jeweils eine spezifische Bedeutung zugesprochen wird. Das „Image“ ist demnach ein verändertes Bild der „realen Welt“. Die Entscheidungen des Individuums basieren auf dem „Image“. Aufgrund der Informationen des „Images“ kann dann vom Individuum entschieden werden, ob ein räumliches Verhalten vollzogen werden kann oder ob in der „realen Welt“ weiter nach zusätzlichen Informationen gesucht werden soll. Das resultierende raumwirksame Verhalten beeinflusst wiederum die „reale Welt“. Die Informationen der „realen Welt“ werden durch den beschriebenen Wahrnehmungsprozess verändert und vereinfacht (WEICHHART 2008, S. 141f).

Die selektive Funktion des Menschen als Filter im Wahrnehmungsprozess wird von DOWN mit einer limitierten Wahrnehmungskapazität der menschlichen Sinneswahrnehmung begründet. Außerdem „filtert“ das indi- viduelle Wertesystem die Informationen der „realen Welt“ nicht bei jedem Individuum gleich. Dieses Wertesystem unterliegt verschiedensten Einflussfaktoren, wie beispielsweise kulturellen und sozialen (FRÖHLICH 2007, S. 37). Hier liegt auch ein Hauptkritikpunkt des Modells, da komplexe Vorgänge des Wahrnehmungsprozesses auf Filtermechanismen reduziert werden.

STEGMANN erweitert die Variablen für Filter in der Wahrnehmung unter anderem hinsichtlich des Einflusses von medialer Information. In diesem Verständnis wird das Wissen eines Individuums über Räume neben der selbst erlebten Wahrnehmung auch durch sekundär vermittelte Vorstellungs- bilder (zum Beispiel über Medien) beeinflusst (FRÖHLICH 2007, S. 37). Diese Erkenntnis ist für die Arbeit wichtig, da, wie bereits in Kapitel 2.2 erwähnt, auf Inlineskating bezogene Medien in besonderer Form mit dem Sport verknüpft sind und ihnen demnach eine wesentliche Bedeutung für den Einfluss auf die Wahrnehmung zugesprochen werden kann.

DOWNS Wahrnehmungsschema mit dem Zusammenhang von Wahr- nehmung, Image und Verhalten orientiert sich an einem behavioristischen Grundkonzept.

[...]

Ende der Leseprobe aus 130 Seiten

Details

Titel
Wahrnehmung und Aneignung von urbanem Raum von Extremsportlern
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Fakultät für Geowissenschaften, Department für Geographie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
130
Katalognummer
V318690
ISBN (eBook)
9783668183186
ISBN (Buch)
9783668183193
Dateigröße
10236 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
skate, skateboarding, skateboard, öffentlicher raum, inline skating, aggressive skating, raumnutzung, urbaner raum, stadtnutzung, städtischer raum, nutzungskonflikte, wahrnehmungsgeographie, raumaneignung, stadtgeographie, extremsport, raumwahrnehmung, stadtwahrnehmung, qualitative sozialforschung, subjektive wahrnehmung, raummodell, raumerschaffung, anthropogeographie, münchen, aneignungskomzept, konflikte im öffentlichen raum, multimethodik, skate spots
Arbeit zitieren
Dipl. Geograph Univ. Mark Heuss (Autor:in), 2010, Wahrnehmung und Aneignung von urbanem Raum von Extremsportlern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/318690

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