Karl der Große als „Vater Europas“. Ein Mythos der Geschichtsschreibung?


Bachelorarbeit, 2013

36 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Leben Karls des Großen
2.1 Geburt, Kindheit und Jugend
2.2 Die Teilung des Reiches

3. Die Ausdehnung des Reiches
3.1 Der Langobarden-Feldzug
3.2 Der Krieg gegen die Sachsen
3.3 Der Feldzug auf die iberische Halbinsel

4. Die Kaiserkrönung

5. Die Karolingische Renaissance
5.1 Das Bildungswesen
5.2 Die Kirchenreform
5.3 Das Rechtssystem

6. Karl der Große und Europa
6.1 Was ist Europa?
6.2 Karl als Begründer Europas
6.3 Nachleben und Mythos

7. Zusammenfassung und Fazit

8. Quellen und Literatur
8.1 Quellen
8.2 Literatur

1. Einleitung

„Die Geschichte Karls des Großen ist die Geschichte Europas“ – so betitelt Dieter Hägermann die Einleitung seiner Karlsbiografie aus dem Jahr 2000[1]. Gewiss wird Karl dem Großen nicht nur von manchen Historikern ein großer Einfluss auf die Entwicklung Europas zugeschrieben. Mit der Zeit wurde aus Karl ein Mythos, dessen Schaffen mit dem ersten Versuch, ein einiges Europa zu schaffen, gleichgesetzt wird. Jacques Le Goff verweist auf die Betitelung Karls des Großen Bauherr Europas „dessen kurzlebiges Reich der erste wirkliche Entwurf Europas gewesen sei“[2]. Im selben Sinne wird Karl gerne als „Vater Europas“ bezeichnet. Auf diesem Titel und den damit verbundenen Fragen baut diese Bachelorarbeit auf. Die Hauptfragen, die es zu beantworten gilt sind folgende: Kann man Karl den Großen wirklich als Vater Europas bezeichnen? Hat er diesen Titel mit seinen Taten verdient oder entstand dieser Titel erst später, zusammen mit dem Karlsmythos? Die Diskussion zu diesem Thema hält bereits seit langer Zeit an. So weist Max Kerner in seinem Aufsatz „Mythos Karl der Große“ darauf hin, dass das Mittelalter nach Karl ihn zwar als idealen König verehrte, die Neuzeit jedoch andere Meinungen und Urteile hervorbrachte. So wird Karl der Große unter anderem als Despot oder auch Sachsenschlächter bezeichnet bzw. „verunglimpft“[3].

Fakt ist, dass Karl der Große – seien die genannten Verunglimpfungen nun wahr oder unwahr – die Geschichte Europas mit seinen Taten geprägt hat. Auch 1200 Jahre nach seinem Tod ist sein Name weitbekannt. In Städten wie Aachen, die in direkter Verbindung zur Lebensgeschichte Karls stehen, ist der Karlsmythos auch heutzutage mitunter noch gegenwärtig. Die alljährliche Verleihung des Aachener Karlspreises als Preis für Verdienste um die Integration Europas trägt diesen Namen nicht grundlos, sondern verweist auf den Glauben, dass Karls Taten der Einheit Europas bereits im Mittelalter zuträglich waren.

Diese Bachelorarbeit soll anhand der Positionen verschiedener Historiker und mit Hinblick auf zeitgenössische Quellen, wie z.B. die Annales regni Francorum, das Paderborner Epos, die Vita Karoli Magni Einhards sowie die Gesta Karoli Magni Imperatoris Notkers, klären, ob Karl dem Großen der Titel „Vater Europas“ wirklich zusteht. Dazu sollen das Leben Karls, insbesondere seine Feldzüge zur Erweiterung des Frankenreiches, sowie seine Verdienste um Kultur und Bildung näher beleuchtet werden, um anhand dessen seinen Einfluss auf Europa zu verdeutlichen.

2. Das Leben Karls des Großen

2.1 Geburt, Kindheit und Jugend

Das Geburtsjahr Karls des Großen kann nicht eindeutig belegt werden und war daher schon Thema von Forschung und Diskussionen. Ursprünglich galt das Jahr 742 als Geburtsjahr Karls, dann 747 und inzwischen 748[4]. Allgemein ist zu Karls Kindheit und Jugend wenig bis gar nichts bekannt, wie auch Karls Biograf Einhard zugeben muss:

„De cuius nativitate atque infantia vel etiam pueritia quia neque scriptis usquam aliquid declaratum est, neque quisquam modo superesse invenitur, qui horum se dicat habere notitiam, scribere ineptum iudicans ad actus et mores ceterasque vitae illius partes explicandas ac demonstrandas, omissis incognitis, transire disposui; ita tamen, ut, primo res gestas et domi et foris, deinde mores et studia eius, tum de regni administratione et fine narrando, nihil de his quae cognitu vel digna vel necessaria sunt praetermittam.”[5]

Das Jahr 748, genauer gesagt der 2. April, ein Datum, das heutzutage als wahrscheinlich angenommen wird, findet sich in den Annales Petaviani. Da es sich jedoch nur in einer der drei erhaltenen Handschriften dieses Werkes findet, ist es wohl berechtigt auch dieses Datum zumindest in Frage zu stellen. Wilfried Hartmann verweist jedoch berechtigt darauf, dass mit dem Geburtsdatum Karls am 2. April 748 “eine ganze Reihe von Ereignissen und Tatsachen besser verständlich gemacht werden können“[6]. Aus derselben Quelle geht das Geburtsjahr von Karls jüngerem Bruder Karlmann, 751, hervor. Überliefert ist weiterhin, dass Karls Vater Pippin der Jüngere ihn im Jahr 760 mit dem Schutz des Klosters St. Calais beauftragte. Karl hatte somit im Alter von zwölf Jahren die Amtsmündigkeit und eine gewisse Selbstständigkeit erreicht[7], was im Mittelalter nicht so unüblich war, wie es heute erscheint.

2.2 Die Teilung des Reiches

Wie zu dieser Zeit nicht unüblich, entschloss sich Pippin sein Reich nicht alleine dem älteren Sohn zu vermachen, sondern das Reich unter seinen beiden Söhnen aufzuteilen. Offiziell erfolgte die Teilung kurz vor Pippins Tod, ein Mahnschreiben Papst Pauls I. aus dem Jahre 764 erlaubt jedoch die Annahme, dass Karl und Karlmann bereits zu dieser Zeit einen Anteil an der Herrschaft ihres Vaters hatten, da Paul die beiden als „Könige“ anspricht[8]. Da Karlmann zu dieser Zeit erst 13 Jahre alt gewesen wäre – wenn man denn vom Jahr 751 als Geburtsjahr ausgeht – ist dies fraglich, wenn auch nicht unmöglich.

Überliefert ist, dass die offizielle Erhebung Karls und Karlmanns zu Königen im Jahr 768 erfolgte, nur kurz nach dem Tod Pippins. Die Teilung des Reiches erfolgte noch kurz vor Pippins Tod mit Zustimmung der Großen des karolingischen Reiches. Karl erhielt die nördlichen Teile Austrasiens und Neustriens und die westlichen Gebiete Aquitaniens. Karlmann erhielt den östlichen Teil Aquitaniens, sowie Burgund, das Elsass, die Provence, Septimanien, Soissons, Paris und Alemannien. Die beiden herrschten damit gemeinsam über große Teile dessen, was heutzutage Deutschland, Niederlande, Belgien und Frankreich ist. Von Einigkeit zwischen den Brüdern kann jedoch keine Rede sein, vielmehr führte der Tod des Vaters und die Aufteilung des Reiches, sowie die daraus folgende gleichberechtigte Stellung der beiden als Könige, zu Zwietracht, wobei das Verhältnis wohl von vornherein angespannt gewesen war. Über die Gründe für dieses schlechte Verhältnis kann nur spekuliert werden. Möglicherweise ist ein Grund darin zu finden, dass Karlmann seinem Bruder die gleichberechtigte Stellung nicht gönnte, weil dieser womöglich ein unehelicher Sohn Pippins war, und Karlmann somit, obwohl er der jüngere Bruder war, eine Bevorzugung durch seinen Vater und eine höhere Stellung nach der Aufteilung des Reiches erwartet hätte[9]. Eine Verschlechterung des Verhältnisses der Brüder ergab sich dadurch, dass Karl offenbar durch Heirat mit der Tochter des langobardischen Königs Desiderius versuchte seinen Einfluss im Süden des Reiches, genauer gesagt in Bayern und Italien, zu erweitern. Sowohl Bayern als auch Italien grenzten an Karlmanns Teil des Frankenreiches, womit Karlmann dies wohl als Einmischung in seine eigenen Interessen gesehen haben wird[10]. Da Karlmann bereits im Jahre 771 verstarb blieben eventuelle kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern jedoch aus. Der Reichsteil Karlmanns ging somit an Karl über und er wurde zum Alleinherrscher des Frankenreiches. Bemerkenswert ist, dass die zeitgenössischen Quellen so gut wie nichts über die drei Jahre gemeinsamer Herrschaft Karls und Karlmanns zu sagen haben. Einhard erwähnt diese Zeit nur in einem einzigen Kapitel seiner Vita Karoli Magni:

„Franci siquidem facto sollemniter generali conventu ambos sibi reges constituunt, ea conditione praemissa, ut totum regni corpus ex aequo partirentur, et Karolus eam partem, quam pater eorum Pippinus tenuerat, Karlomannus vero eam, cui patruus eorum Karlomannus praeerat, regendi gratia susciperet. Susceptae sunt utrimque conditiones, et pars regni divisi iuxta modum sibi propositum ab utroque recepta est. Mansitque ista, quamvis cum summa difficultate, concordia, multis ex parte Karlomanni societatem separare molientibus, adeo ut quidam eos etiam bello committere sint meditati. Sed in hoc plus suspecti quam periculi fuisse ipse rerum exitus adprobavit, cum defuncto Karlomanno uxor eius et filii cum quibusdam, qui ex optimatum eius numero primores erant, Italiam fuga petiit et nullis existentibus causis, spreto mariti fratre, sub Desiderii regis Langobardorum patrocinium se cum liberis suis contulit. Et Karlomannus quidem post administratum communiter biennio regnum morbo decessit; Karolus autem fratre defuncto consensu omnium Francorum rex constituitur.“[11]

3. Die Ausdehnung des Reiches

3.1 Der Langobarden-Feldzug

Es dauerte nicht lange von Karlmanns Tod und Karls Aufstieg zum König über das gesamte Frankenreich bis zum Beginn von Karls Politik zur Ausdehnung des Reiches. Als erstes Ziel bot sich das Langobardenreich geradezu an. Ein Grund für den Feldzug ist darin zu sehen, dass sich die Witwe und die beiden Söhne Karlmanns kurz nach seinem Tod in Richtung Italien abgesetzt hatten und dort Aufnahme bei König Desiderius gefunden hatte. Die Söhne Karlmanns, obwohl zu dieser Zeit noch sehr jung, hätten eines Tages zur Gefahr für Karl und seine Gesamtherrschaft werden können, da sie eventuell als Nachfolger als Könige des ehemaligen Teilreiches in Frage gekommen wären. Karl reagierte unter anderem, indem er die Ehe mit Desiderius‘ Tochter für nichtig erklärte und sie nach Italien zurückschickte[12]. Einen weiteren Grund für den Langobarden-Feldzug Karls kann man im Verhältnis Karls zum Papst und zum Kirchenstaat sehen. Im Jahre 754 war bereits Pippin der Jüngere gegen die Langobarden zu Felde gezogen, nachdem der damalige Papst, Stephan II., ihn um Schutz und Hilfe gegen den Langobardenkönig Aistulf gebeten hatte. Mit der sogenannten Pippinischen Schenkung übergab Pippin schließlich alle von ihm eroberten Gebiete an den Papst und trug damit praktisch zur Gründung des Kirchenstaates bei. Ob es diese Pippinische Schenkung wirklich so gegeben hat ist allerdings fraglich, vor allem da kein zeitgenössisches Dokument vorliegt, das die Existenz bestätigen könnte.

Die mit der Pippinischen Schenkung in Verbindung gebrachte Beziehung zwischen Papsttum und fränkischem Herrscher jedenfalls scheint existiert zu haben, denn Hadrian I. bat Karl im Jahr 773 um Hilfe gegen Desiderius, so wie Papst Stephan II. einst Pippin um Hilfe gegen Aistulf gebeten hatte. Desiderius hatte einige Gebiete besetzt, die Pippin einst dem Papst überstellt hatte, und Papst Hadrian zählte nun auf den Schutz und die Unterstützung des fränkischen Königs. Karl kam wie gerufen, jedoch scheint es ihm, anders als seinem Vater im Jahr 754, von vornherein um die Erweiterung des Frankenreiches gegangen zu sein. Er plante also nicht, die eroberten langobardischen Gebiete dem Papst zu überstellen[13]. Kaum mit einem großen Heer über die Alpen gekommen, eroberte Karl Verona, wo es ihm gelang die Witwe Karlmanns, Gerberga, sowie ihre Söhne gefangen zu nehmen[14]. Den Plan Desiderius‘ und Gerbergas, Karlmanns Söhne auf den Thron ihres verstorbenen Vaters zu bringen, war somit vereitelt und die Gefahr für die Alleinherrschaft Karls über das fränkische Gesamtreich ausgeräumt. Karl machte sich nun auf den Weg nach Pavia, um weiter gegen Desiderius vorzugehen und die von ihm besetzten Gebiete für sich zu gewinnen. Ein Bericht von Karls Ankunft vor den Stadtmauern Pavias findet sich in Notkers Gesta Karoli Magni. Da Notker Karl in seinem kompletten Werk mythisch überhöht und übermäßig positiv darstellt ist an den Einzelheiten des Berichtes durchaus zu zweifeln. So sehnt Desiderius beim Anblick Karls und seines heranrückenden Heeres plötzlich den Tod herbei[15]. Die Belagerung Pavias dauerte bis ins Jahr 774 an. Desiderius war schließlich gezwungen aufzugeben, was dadurch beschleunigt wurde, dass nebenbei auch noch Große des Langobardenreiches gegen ihn intrigierten[16]. Er ergab sich kampflos, und wurde schließlich ins Kloster geschickt.

Mit dem Sieg in Pavia endete Karls Feldzug gegen das Langobardenreich. Um es in den Worten Siegfried Epperleins auszudrücken: „Karl, der Eroberer, machte sich ohne besondere Wahl oder Krönung zum König der Langobarden“[17]. Mit Übernahme des Königtums im Langobardenreich gewann Karl gleichzeitig einen neuen Titel, den des „Patrizius Romanorum“[18]. Unangefochten war seine Macht damit allerdings nicht, denn wie schon Desiderius sah sich Karl bald mit Intrigen und Machtgier der langobardischen Großen konfrontiert. Im Jahr 775 kam es zu zwei weiteren Belagerungen und 776 zum Aufstand des Herzogs Hrodgar von Friaul, der noch im gleichen Jahr niedergeschlagen wurde. Erst 781 wurde das Langobardenreich „nach fränkischem Muster umorganisiert und es wurden meist fränkische Grafen als königliche Amtsträger installiert“[19].

3.2 Der Krieg gegen die Sachsen

Karls Feldzug gegen die Sachsen, eigentlich mehrere Feldzüge und Schlachten über einen Zeitraum von über drei Jahrzehnten, kann wohl als eine der bekanntesten Episoden in Karls Herrschaft bezeichnet werden. Einhard umschreibt den Feldzug, bzw. Krieg gegen die Sachsen in seiner Vita Karoli Magni wie folgt:

„Quo nullum neque prolixius neque atrocius Francorumque populo laboriosius susceptum est; quia Saxones, sicut omnes fere Germaniam incolentes nationes, et natura feroces et cultui daemonum dediti nostraeque religioni contrarii neque divina neque humana iura vel polluere vel transgredi inhonestum arbitrabantur.“[20]

Anders, als bei Karls Feldzug gegen das Langobardenreich, ging es bei seinem Vorgehen gegen die Sachsen um mehr als nur eine reine Erweiterung des Frankenreiches. Vielmehr scheint er es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, die Sachsen, zum größten Teil heidnischen Glaubens, zum Christentum zu bekehren. Hans-Dietrich Kahl weist in seinem Aufsatz „Karl der Große und die Sachsen – Stufen und Motive einer historischen Eskalation“ allerdings darauf hin, dass die Ausgangslage in Sachsen vor Karls Feldzug nicht völlig geklärt ist. Einige Historiker sind der Meinung, dass Teile Sachsen schon vorher das Christentum angenommen hatten. Er selbst jedoch hält „ein solches Bild für das Ergebnis eines Wunschdenkens, das sich bestrebt zeigt, christliche Tradition im Lande so weit wie irgend möglich zurückzuprojizieren.“[21]

Im Jahr 772 – noch vor seinem Vorgehen gegen die Langobarden – begann Karl seinen ersten Feldzug gegen die Sachsen. Nicht nur in Religion unterschieden sich die Sachsen von den Franken, auch ihre Verfassung unterschied sich höchstwahrscheinlich grundlegend von der der Franken. Der Einfluss des Adels war geringer und es gab keinen ständigen Anführer oder König. Für die Dauer eines Feldzuges wurde ein dux bzw. Heerführer in einer Versammlung gewählt, an welcher nicht nur der sächsische Adel, sondern auch freie und halbfreie Bürger teilnahmen[22]. Karls Feldzug von 772 stellte keineswegs die erste Auseinandersetzung mit den Sachsen dar, welche immer mal wieder durch Überfälle auf das fränkische Grenzgebiet aufgefallen waren. Ein Versuch, das sächsische Reich in das Frankenreich zu integrieren, hatte jedoch vorher nie stattgefunden, und es ist zumindest fraglich, ob Karl die Integration der Sachsen in sein Reich von vornherein geplant hatte[23]. Karls erster Vorstoß nach Sachsen war erfolgreich. Unter anderem eroberte er die Eresburg südlich von Paderborn und zerstörte die Irminsul, bevor er noch im selben Jahr wieder heimkehrte. Die Zerstörung der Irminsul ist in der Forschung bereits mehrfach diskutiert worden. Die meisten halten die Irminsul für ein heidnisches Heiligtum der Sachsen, womit ihre Zerstörung religiöse Gründe gehabt hätte. Laut Hans-Dietrich Kahl „beseitigt [die Zerstörung der Irminsul] eine Stätte des ‚Teufelsdienstes‘ und führt damit einen augenfälligen ‚Ohnmachtsbeweis‘ im Hinblick auf die dort verehrten Gottheiten – den Beweis, daß der Christengott durch seine Diener dort ungestraft schalten kann, ohne daß Gegenwirkungen möglich sind.“[24]

Kurz darauf kehrte Karl bereits ins Frankenreich zurück, um von dort aus im Jahr 773 zu seinem im vorigen Abschnitt beschriebenen, erfolgreichen Feldzug gegen die Langobarden unter König Desiderius aufzubrechen. Noch während Karl gegen Desiderius vorging, überfielen die Sachsen grenznahe Gebiete, was Karl dazu veranlasste im Winter 774/775 erneut gegen die Sachen vorzurücken. Laut den Einhardsannalen soll er zu diesem Zeitpunkt den Entschluss gefasst haben, die Sachsen zum Christentum zu bekehren – oder sie, sollte dies nicht erfolgreich sein, auszurotten:

„Cum rex in villa Carisiaco hiermaret, consilium iniit, ut perfidam ac foedifragam Saxonum genterm bello adgrederetur et eo usque perseveraret du maut victi christianae religioni subicerentur aut omnino tollerentur.“[25]

Ob dies wirklich offiziell als Alternative beschlossen wurde – Christianisierung oder vollständige Ausrottung – ist zumindest diskussionswürdig, vor allem auch weil der Beschluss ein komplettes Volk auszurotten doch etwas radikal erscheint. Zwischen dem Reichstag von Quierzy, auf dem dies beschlossen worden sein soll, und der Niederschrift der sogenannten Einhardsannalen liegen einige Jahre und diese Annalen sind die einzige Überlieferung, die das neue Konzept im Hinblick auf die Sachsen in diesem Wortlaut wiedergibt. Hans-Dietrich Kahl ist dennoch der Meinung, dass die Glaubwürdigkeit dieser Aussage grundlos angezweifelt wurde. Er gibt zu bedenken, dass „die ganze Sachsenpolitik Karls des Großen in der Folge wirkt wie eine schrittweise, systematische Ausführung genau dieses Plans […]“[26]. Dieter Hägermann hingegen lässt die Frage, ob die Alternative für Verweigerung des Christentums wirklich die Ausrottung eines kompletten Volkes sein sollte, dahingestellt. Stattdessen sieht er in den Plänen Karls, den Gegner entweder zu bekehren oder zu vernichten, einen Ausdruck äußerster Entschlossenheit. Das langfristige Ziel „die dergestalt eroberten Territorien zu okkupieren oder gar zu annektieren“ erkennt er dagegen zu dieser Zeit noch nicht[27].

Der Feldzug des Jahres 775 schien größtenteils erfolgreich. An der Stelle des heutigen Paderborn errichtete Karl eine Pfalz namens Karlsburg, wo er 777 zum ersten Mal einen Reichstag auf sächsischem Gebiet abhielt. Zahlreiche sächsische Adlige kamen, um den Treueeid abzulegen und sich taufen zu lassen. Die Einhardsannalen geben dieses Ereignis wie folgt wieder:

„Rex prima veris adspirante termperie Noviomagum profectus est et post celebratam ibidem paschalis festi solleminitatem propter fraudulentas Saxonum promissiones quibus fidem habere non poterat, as locum , qui Padrabrunno vocatur, generalem populi sui conventum in eo habituris cum ingenti exercitu in Saxoniam profectus est. Eo cum venisset, totum perfidae Saxoniam senatum ac populum, quem ad se venire iusserat, morigerum ac fallaciter sibi devotum invenit.“[28]

Im gleichen Jahr begann die systematische Christianisierung des sächsischen Volkes. Oftmals hatten die Menschen jedoch kaum Ahnung, was der Glauben, zu dem sie sich nun bekannten, überhaupt bedeutete. Viele von ihnen wurden einfach zwangsmissioniert und in Massentaufen zu Christen gemacht[29]. Auf politischer Ebene scheint Karl jedoch bescheiden gewesen sein. Zwar erhielt er durch einen neuen Vertrag mit den Sachsen die förmliche Oberherrschaft über das sächsische Volk, jedoch wurde den Sachsen gleichzeitig eine weitgehend unabhängige Entwicklung ihrer Gesellschaft unter ihren alten Anführern erlaubt, sollten sie sich an den Vertrag halten. Abgesehen von ihrer Konvertierung zum Christentum wurde den Sachsen praktisch ihre Freiheit zugesichert[30]. Da die Unterwerfung unter den König des Frankenreiches und der Übertritt zum Christentum jedoch mit einer Art Steuerabgabe verbunden waren – die Sachsen wurden verpflichtet, ein Zehntel ihres landwirtschaftlichen Ertrages abzugeben – verbanden viele von ihnen das Christentum bald mit sklavischer Abhängigkeit und ernster Einschränkung ihrer Freiheit[31].

Es dauerte kaum ein Jahr, bis die Sachsen sich erneut gegen die Franken erhoben und damit gegen den auf dem Reichstag in Paderborn gefassten Vertrag verstießen. In der Zwischenzeit hatte Karl einen Feldzug auf die iberische Halbinsel unternommen, welcher nicht überaus erfolgreich gewesen war, und welcher im nächsten Unterkapitel dieser Arbeit noch näher beleuchtet werden wird. Anführer der aufständischen Sachsen war nun Widukind, ein sächsischer Adliger, der am Reichstag in Paderborn im vorigen Jahr nicht teilgenommen hatte, und sich demnach Karl dort auch nicht unterworfen hatte[32]. Dieter Hägermann sieht in den Wintermonaten der Jahre 778 und 779 die Zeit, in der Karl schließlich einsah, dass er sein Vorgehen gegenüber den Sachsen verschärfen musste. Verträge reichten nicht aus, vielmehr musste das Volk der Sachsen vollständig unterworfen werden, inklusive militärischer Besatzung, administrativer Neuordnung und der Einrichtung von Kirchengemeinden. Da die Kulturen der Franken und Sachsen offenbar nicht miteinander zu vereinbaren waren, musste eine dieser Kulturen ausgelöscht werden um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen[33]. Im Jahr 780 war die Unterwerfung der Sachsen bereits weit vorangeschritten und in ganz Sachsen gab es Kirchen, Klöster und fränkische Stützpunkte. Karl sah nun die Zeit gekommen, Sachsen offiziell zu einem Teil des Frankenreiches zu machen. Auf einer Reichsversammlung in Lippspringe wurde unter anderem beschlossen, dass die Sachsen von nun an die fränkische Gerichtsverfassung übernehmen würden. Von den anwesenden sächsischen Adligen wurden einige zu Grafen ernannt. Offenbar hatte Karl ein gewisses Vertrauen in den sächsischen Adel, der durch das Bündnis mit dem fränkischen König auch seine eigene Stellung gegenüber dem sächsischen Volk stärken konnte. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Widukind in Lippspringe, wie schon 777 in Paderborn, nicht anwesend war[34]. Im selben Jahr, vermutlich auch auf der Reichsversammlung in Lippspringe, wurde die sogenannte Capitulatio de partibus Saxoniae erlassen. Dieser Erlass zwang den Sachsen nicht nur eine feudale Gesellschaftsordnung auf, er enthielt auch eine Liste von Vergehen und damit einhergehenden Strafen. Auf viele Vergehen, z.B. das Ausüben heidnischer Bräuche oder auch nur das Essen von Fleisch während der christlichen Fastenzeit, stand die Todesstrafe. Auch die Verweigerung der Taufe soll nun mit dem Tode bestraft werden[35]:

“4. Si quis sanctum quadragensimale ieiunium pro despectu christianitatis contempserit et carnem comederit, morte moriatur; sed tamen consideretur a sacerdote ne forte causa necessitatis hoc cuilibet proveniat ut carnem commedat. […]

“8. Si quis deinceps in gente Saxonorum inter eos latens non baptizatus se abscondere voluerit et ad baptismum venire contempserit paganusque permanere voluerit, morte moriatur.”[36]

Dass es nur kurz nach der Reichsversammlung von Lippspringe zu einem erneuten sächsischen Aufstand kam, kann eventuell als Reaktion auf den Erlass der Capitulatio de partibus Saxoniae gewertet werden. Als es einer Gruppe Sachsen gelang, ein fränkisches Heer, welches eigentlich auf dem Weg nach Osten gewesen war um gegen die Sorben vorzugehen, zu vernichten, reagierte Karl mit äußerster Härte. In Verden an der Aller veranstaltete er ein Strafgericht, welches als „Blutgericht von Verden“ in die Geschichte eingehen sollte und wohl das Hauptereignis ist, welches ihm von einigen Seiten den Beinamen „Sachsenschlächter“ eingetragen hat. Die Reichsannalen des Jahres 782 aus diesem Jahr:

„Hoc audiens domnus Carolus rex una cum Francis, quos sub celeritate coniungere potuit, illuc perrexit et pervenit usque ad locum, ubi Alara confluit in Wisora. Tunc omnes Saxones iterum convenientes subdiderunt se sub potestate supradicti domni regis et reddiderunt omnes malefactores illos, qui ipsud rebellium maxime terminaverunt, ad occidendun IIIID; quod ita et factum est, excepto Widochindo, qui fuga lapsus est partibus Nordmanniae. Haec omnia peracta reversus est praefatus domnus rex in Francia. Et celebravit natalem Domini in villa, quae dicitur Teodone-villa, et pascha similiter.[37]

In den Einhardsannalen findet sich eine leicht abgewandelte Version dieser Ereignisse:

„Cuius rei nuntium cum rex accepisset, nihil sibi cunctandum arbitratus collecto festinanter exercitu un Saxoniam proficistur accitisque ad se cunctis Saxonum primoribus de auctoribus factae defectionis inquisivit. Et cum omnes Widokindum huius sceleris auctorem proclament, eum tamen trader nequirent, eo quod is re perpetrate ad Normannos se contulerat ceterorum, qui persuasion eius morem gerentes tantum facinus peregerunt, usque ad quattuor milia D traditi et super Alaram fluvium in loco, qui Ferdun vocatur, iussu regis omnes una die decollate sunt. Huiusmodi vinsicta patrata rex Theodone-villa in hiberna concessit ibique natalem Domini, ibi et pascha more solito celebravit.”[38]

[...]


[1] Hägermann, Dieter: Karl der Große. Herrscher des Abendlandes, Berlin 2000, S. 9 (hiernach zitiert als Hägermann, Dieter: Karl der Große).

[2] Le Goff, Jacques: Die Geburt Europas im Mittelalter, München 2004, S. 48 (hiernach zitiert als Le Goff, Jacques: Die Geburt Europas).

[3] Kerner, Max: Mythos Karl der Große. In: Schweizer Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum (Hrsg.): Karl der Große und Europa. Symposium, Frankfurt am Main 2004, S. 87.

[4] Vgl. hierzu: Hägermann, Dieter: Karl der Große. S. 31.

[5] Holder-Egger, Oswald (Ed.): Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 25: Einhardi Vita Karoli Magni, Hannover 1911, S. 6 (hiernach zitiert als Einhard: Vita Karoli Magni). Vgl. hierzu: auch: Hartmann, Wilfried: Karl der Große, Stuttgart 2010, S. 39 (hiernach zitiert als Hartmann, Wilfried: Karl der Große).

[6] Hartmann, Wilfried: Karl der Große,, S. 40.

[7] Hägermann, Dieter: Karl der Große, S. 34.

[8] Vgl. hierzu: Hartmann, Wilfried: Karl der Große, S. 45.

[9] Vgl. hierzu: Epperlein, Siegfried: Karl der Große – Eine Biographie, Berlin 1971, S. 17 (hiernach zitiert als (Epperlein, Siegfried: Karl der Große).

[10] Kalckhoff, Andreas: Karl der Große – Profile eines Herrschers, München 1987, S. 38-39 (hiernach zitiert als Kalckhoff, Andreas: Karl der Große).

[11] Einhard: Vita Karoli Magni , S. 5-6.

[12] Vgl. hierzu: Kalckhoff, Andreas: Karl der Große, S. 39.

[13] Vgl. hierzu: Hartmann, Wilfried: Karl der Große, S. 83.

[14] Epperlein, Siegfried: Karl der Große, S. 21.

[15] Haefele, Hans F. (Hrsg.): Notker der Stammler: Taten Karls des Großen, Berlin 1959, S. 82: “Quam videns Desiderius stupefactus: ‘Iste est inquit Karolus. Et Otkerus: ‘Non infor adhuc neque adhuc’. Post hanc cernuntur episcopu abbatesque et clerici capellani cum comitibus suis. Quibus aspectis hec vix egre iam lucis inimicus mortisque Desideriius singultando blateravit […]”

[16] Vgl. hierzu: Hägermann, Dieter: Karl der Große, S. 128..

[17] Epperlein, Siegfried: Karl der Große, S. 22.

[18] Hägermann, Dieter: Karl der Große, S. 129.

[19] Hartmann, Wilfried: Karl der Große, S. 84.

[20] Einhard: Vita Karoli Magni, S. 9.

[21] Kahl, Hans-Dietrich: Karl der Große und die Sachsen – Stufen und Motive einer historischen Eskalation. In: Ludat, Herbert; Schwinges, Rainer Christoph (Hrsg.): Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Giessener Festgabe für František Graus zum 60. Geburtstag, Köln/Wien 1982, S. 54 (hiernach zitiert als Kahl, Hans-Dietrich: Karl der Große und die Sachsen).

[22] Vgl. hierzu: Hartmann, Wilfried: Karl der Große, S. 98.

[23] Ebd..

[24] Kahl, Hans-Dietrich: Karl der Große und die Sachsen, S. 57.

[25] Kurze, Friedrich (Hrsg.): Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 6: Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, Hannover 1895, S. 41, (hiernach zitiert als Annales regni Francorum).

[26] Kahl, Hans-Dietrich: Karl der Große und die Sachsen, S. 62. Vgl. zum Kriegsziel gegen die Sachsen außerdem S. 60-66. Auch wenn Kahls Ausführungen zum Thema keineswegs unschlüssig erscheinen, möchte ich doch weiterhin anzweifeln, ob die Pläne Karls des Großen von vornherein die Ausrottung des sächsischen Volkes als Alternative zu Christianisierung beinhalteten. Vielmehr sehe ich die Möglichkeit, dass die Franken sich schlichtweg nicht bewusst waren, auf was sie sich einließen, und dass ihre Unkenntnis der Sachsen und ihrer Kultur den Krieg zu der langen, blutigen Angelegenheit machte, die er laut Überlieferung schließlich war.

[27] Hägermann, Dieter: Karl der Große, S. 137.

[28] Annales regni Francorum, S. 49.

[29] Hartmann, Wilfired: Karl der Große, S. 100.

[30] Vgl. hierzu: Kahl, Hans-Dietrich: Karl der Große und die Sachsen, S. 79-80.

[31] Hartmann, Wilfried: Karl der Große, S. 100.

[32] Annales regni Francorum, S. 49: „Nam cuncti bus as eum venerunt preater Widokindum, unum ex primoribus Westfalorum, qui multorum sibi facinorum conscious et ob id regem veritus as Sigifridum Danorum regem profugerat.”

[33] Vgl. hierzu: Hägermann, Dieter: Karl der Große, S. 163-164.

[34] Epperlein, Siegfried: Karl der Große, S. 36-37.

[35] Hartmann, Wilfried: Karl der Große, S. 102.

[36] Boretius, Alfred (Hrsg.): Monumenta Germaniae historica inde ab anno Christi quingentesimo usque ad annum millesimum et quingentesimum (Band 1), S. 68-69 (hiernach zitiert als MGH Capitularia regum Francorum 1).

[37] Annales regni Francorum, S. 62.

[38] Ebd., S. 63-65.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Karl der Große als „Vater Europas“. Ein Mythos der Geschichtsschreibung?
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Historisches Institut)
Note
3,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
36
Katalognummer
V318659
ISBN (eBook)
9783668187535
ISBN (Buch)
9783668187542
Dateigröße
537 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
karl, große, vater, europas, mythos, geschichtsschreibung
Arbeit zitieren
B.A. Gabriele Grenkowski (Autor:in), 2013, Karl der Große als „Vater Europas“. Ein Mythos der Geschichtsschreibung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/318659

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