Die Kernenergiepolitik der SPD von 1966 bis 1977


Magisterarbeit, 2002

113 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Einführung und Fragestellung

Der Untersuchungszeitraum 1966-

Forschungstand

Quellen

I. Kapitel: Energiepolitische Weichenstellungen der Großen Koalition: Kohlehalden und De- monstrations -Kernkraftwerke
Das Krisenmanagement der SPD für den Erhalt des Energieträgers Kohle
Die staatliche Förderung der Kernenergie
Der übereilte Einstieg in die Kernenergie und die verhinderte Konfrontation
zwischen den Energieträgern Kohle und Kernenergie
Kernenergie in Parlament und Öffentlichkeit der 1960er Jahre

II. Kapitel: Die Schaffung von vollendeten Tatsachen. Kernenergie und das „moderne Deutsch- land“
„Das moderne Deutschland“: Wachstum und Wohlstand für alle
Ökonomische Gründe für die Expansion der Kernenergiekapazität
in der Bundesrepublik Deutschland
Kernforschung und die Bildungspolitik der sozialliberalen Koalition
Das Erwachen der Öffentlichkeit

III. Kapitel: Kernenergie und Energiepolitik im Zeichen der Energiekrise 1973/74
Das erste Energieprogramm der Bundesregierung vom September 1973
Das vierte Atomprogramm der Bundesregierung vom Oktober 1973:
Kernenergie als Anti-Öl Strategie?
Die erste Fortschreibung des Energieprogramms von Herbst 1974:
Kernenergie als Bestandteil des „Krisenmanagements“
Die zweite Fortschreibung des Energieprogramms vom Dezember 1977:
Das Ende der Kernenergieexpansion

IV. Kapitel: Die SPD im Atomkonflikt 1974-1977
Der Beginn der innerparteilichen Problematisierung der Kernenergienutzung
und die Auseinandersetzung um das „Restrisiko“
Die Volkspartei in der Auseinandersetzung mit der Anti-AKW-Bewegung
und die Auflösung des innerparteilichen nuklearen Konsenses
Das Entsorgungsproblem und die Eskalation von Brokdorf
Die Kernenergiefrage wird zur Zerreißprobe
Der Hamburger Parteitag 1977: Die „Optionenlehre“ und
der verhinderte Bruch der Partei

Schluss

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Einleitung

Einführung und Fragestellung

Als im Herbst 1998 die Rot-Grüne Koalition die Regierung übernahm, wurde im Koalitions- vertrag das Regierungsziel festgeschrieben, den Ausstieg aus der Kernenergienutzung per Gesetz zu regeln. In den Konsensgesprächen am 14. Juni 2000 legte die Bundesregierung daraufhin gemeinsam mit den Vertretern der Energiewirtschaft fest, die 19 Reaktoren, die in der Bundesrepublik derzeit pro Jahr 2500 Milliarden Kilowattstunden (KWh) an elektrischen Strom produzieren, und damit etwa ein Drittel des Strombedarfs decken, bis zum Jahr 2021 abzuschalten1. Knapp 34 Jahre nach der Inbetriebnahme des ersten bundesdeutschen De- monstrations-Kernkraftwerkes im bayerischen Gundremmingen wurde somit der Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Sowohl der Einstieg in die Kernenergienutzung, der nach der Fertigstellung des Gundremminger Atommeilers erfolgte, als auch der Ausstieg aus die- ser Technologie wurden somit unter der Regierungsbeteiligung der SPD vollzogen bzw. be- schlossen. Die Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland ist damit eng verbunden mit der Geschichte der SPD, die ihre Haltung zur Kern- energienutzung, seit den 1950er Jahren mehrmals geändert hat.

Auf ihrem langen Weg aus der Opposition hin zu einer Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition der Jahre 1966-1969 überwanden die Sozialdemokraten ihre anfängliche Atom- phobie, die sie in den 1950er Jahren zu einem - neben den bundesdeutschen Gewerkschaften - maßgeblichen Unterstützer der Anti-Atomwaffen Bewegung “Kampf dem Atomtod” ge- macht hatte2. Auf dem Godesberger Parteitag der SPD im Jahre 1959, auf dem sich die Partei als eine moderne Volkspartei definiert hatte, fanden die Sozialdemokraten letztendlich auch zu einer neuen Haltung zur Kernenergie. So ist an erster Stelle der Parteitagspräambel zu lesen:

“Das ist der Widerspruch unserer Zeit,

daß der Mensch die Urkraft des Atoms entfesselte und

sich jetzt vor den Folgen fürchtet; [...]

Aber das ist auch die Hoffnung unserer Zeit,

daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt..” 3.

Nachdem die SPD die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken befürwortete und somit die gleichen nuklearpolitischen Ziele wie die Unionsparteien vertrat, war in der Bun- desrepublik der späten 1950er und 1960er Jahre somit ein nuklearer Konsens durch alle gro- ßen Volksparteinen entstanden. In dieser Zeit wurden in der Entwicklung der Kernenergie große Schritte vollzogen und die sogenannte “spekulative Phase”4 der Kerntechnikentwick- lung, die durch Grundlagenforschung und Versuchsreaktoren geprägt war, fand ihren Ab- schluss mit der Errichtung der ersten Demonstrations-Kernkraftwerke. Als es darum ging, die politischen Weichenstellungen für den Einstieg in die friedliche Nutzung der Kernenergie zu vollziehen, war die SPD im Rahmen der Großen Koalition an der Regierung beteiligt und der in den 1970er Jahren massiv unternommene Ausbau der Kernenergiekapazität der Bun- desrepublik fand in der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition der Jahre 1969-1982 statt. Dieser brachte schließlich auch den Massenprotest der Anti-Atomkraft-Bewegung der späten 1970er und der 1980er Jahre mit sich, welche die Regierungspartei SPD vor neue Herausforderungen stellte. Die Volkspartei, die laut ihrem Bekenntnis zur friedlichen Nut- zung der Kernenergie, gerade durch die uneingeschränkte Förderung dieser neuen Energie- quelle “Wohlstand für alle” schaffen wollte, geriet in eine tiefe Krise, als das gewohnte Wirt- schaftswachstum in der Folge der ersten “Ölkrise” von Herbst 1973 erlahmte und die bun- desdeutsche Gesellschaft in eine allgemeine “Wachstumskrise” steuerte.

Wenn im Folgenden nun die Kernenergiepolitik der SPD für die Jahre 1966-1977 dargestellt werden soll, steht dabei in den ersten drei Kapiteln die Frage im Vordergrund, inwiefern die Regierungspartei SPD den Einstieg in die Kernenergienutzung durch deren Einbeziehung in energie- und technologiepolitische Strategien vorangetrieben hat und inwieweit die Partei überhaupt Einfluss auf den fortschreitenden Ausbau dieser Energieart hatte. In einem weite- ren, umfangreichen Kapitel soll daraufhin dargestellt werden, wie der „nukleare Konsens“5 in der Partei, die Kernenergie zur Schaffung von Wohlstand einzusetzen, unter dem Eindruck der Offenlegung der Risiken und Probleme dieser Technologie und der gleichzeitig entstehenden Bürgerinitiativ- und der Anti-AKW-Bewegung zerbrach.

Aus arbeitsökonomischen Gründen muss in dieser Arbeit die Beschäftigung der SPD zum Ende der 1960er Jahre mit dem „Atomwaffensperrvertrag“ und die rege Auseinandersetzung der SPD mit den Unionsparteien über dessen Unterzeichnung außen vor bleiben. Auch die gesamte Proliferationproblematik, also die potentielle Nutzung der friedlichen Kernenergie für militärische Zwecke, kann hier in Anbetracht des beschränkten Umfanges dieser Arbeit nicht bearbeitet werden. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich also ausschließlich mit der zivilen Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung.

Der Untersuchungszeitraum 1966-1977

Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit beginnt mit dem Jahr 1966. In diesem Jahr wurden die Sozialdemokraten im Rahmen der Großen Koalition das erste Mal an der Regierung be- teiligt und besetzten mit Karl Schiller als Wirtschaftsminister ein Schlüsselressort der Ener- gie- und Technologiepolitik. Auch für die Entwicklungsgeschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik ist das Jahr 1966 von großer Wichtigkeit: In jenem Jahr wurde, wie schon eingangs erwähnt, das erste nukleare Demonstrationskraftwerk im bayerischen Gundrem- mingen in Betrieb genommen und damit die sogenannte “spekulative Phase” der Kernener- gieentwicklung, in der es Politik und Industrie vor allem an der zukünftigen und theoreti- schen Möglichkeit der Kernenergienutzung gelegen war, abgeschlossen. Die nun folgende “Phase der Realinteressen”6 verschob die Perspektive von Politik und Wirtschaft auf die Kernenergie erheblich: Aus einem Interesse an einer zukünftigen Entwicklung der Kerntech- nik wurde ein Interesse an der Gegenwart. Die Macht des bisher investierten Kapitals führte zunehmend zu Sachzwängen, die den Entscheidungsspielraum der Politik zunehmend verengten7. Mit dem Jahr 1966 wurden damit eine Weichenstellung vollzogen, die dem Einstieg in die kommerzielle Nutzung der Kernenergie den Weg bereitete.

Das Ende des Untersuchungszeitraumes stellt der Parteitag der SPD vom 15. -19. November 1977 in Hamburg dar. Hier wurden die Expansionspläne der SPD für einen fortwährenden Ausbau der Kernenergie beendet, indem fossilen Energieträgern der Vorrang vor der Kern- kraft bei der Stromerzeugung eingeräumt wurde8. Auf diesem Parteitag manifestierte die Par- tei ebenso ihre innere Spaltung in der Atomfrage, die im Laufe des aufziehenden Atomkon- flikts der 1970er Jahre entstanden war. Die SPD fand ab dem Herbst 1977 zu keinem atompolitischen Konsens mehr, sondern formulierte die sog. “Optionen-Lehre”9, die die Frage nach der weiteren Nutzung der Kernenergie mit einem “Sowohl als auch” beantwortete: “ [...] daher muß die Option für die Kernenergie offengehalten und die Option, künftig auf die Kernenergie zu verzichten zu können, geöffnet werden.”10 Was hier als notdürftiger Kompromiss entstand, sollte den Atomkonflikt, der die Partei seit dem Beginn der Auseinandersetzungen um die geplanten Kernkraftwerke in Whyl und Brokdorf zu zerreißen drohte, beruhigen.

Der gewählte Untersuchungszeitraum umfasst so die Phase der elementaren politischen Ent- scheidungen der Regierungspartei SPD, die zum Einstieg in die kommerzielle Nutzung der Kernenergie führten. Ebenso inbegriffen sind die Entstehungsjahre der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Kernenergie, die mit der Bauplatzbesetzung des geplanten Kern- kraftwerks Whyl im Jahre 1975 ihren Anfang nahm und schließlich zu den bürgerkriegsähn- lichen Auseinandersetzungen am Bauzaun des geplanten Kernkraftwerks Brokdorf der Jahre 1976 und 1977 führte.

Forschungstand

Bisher ist mit Jürgen Häuslers11 Arbeit aus dem Jahr 1988 nur eine einzige Studie erschienen, die sich mit dem Verhältnis der SPD zur Kernenergie während des oben genannten Zeitrau- mes beschäftigt. Häuslers Arbeit ist dabei stark von theoretischen Überlegungen zur Funktio- nalität des Parteiensystems und im Besonderen der Volksparteien getragen. Häusler greift dabei exemplarisch einige Beispiele und Aspekte der Kernenergiediskussion innerhalb der SPD heraus, ohne hierbei eine vollständige Darstellung des Konflikts zu unternehmen.

Über die bundesdeutsche Kernenergiegeschichte liegen jedoch bereits eine Fülle von Studien vor, deren Ergebnisse in diese Arbeit eingeflossen sind.

Als eine der frühesten deutschsprachigen Gesamtdarstellungen der bundesdeutschen Kernenergiegeschichte ist hierbei die Arbeit vor Hans-Joachim Bieber anzusehen, die zeitgleich mit der ersten großen Auseinandersetzungen um das geplante Kernkraftwerk Brokdorf im Jahre 1977 erschienen ist12. Bieber enthält sich in seiner Arbeit zwar eines Urteils über die Kernenergie, kritisiert aber die Konzeptlosigkeit der Atompolitik und die in dieser Arbeit vielfach dargestellte Selbstausschaltung des Parlaments in den atompolitischen Entscheidungsprozessen der 1960er Jahre. Die Arbeit beruht auf einer breiten Quellenbasis und bietet in der komplizierten Kernenergiegeschichte eine gute Orientierungshilfe.

Eine Reihe von parlamentarischen Insider-Kenntnissen enthält die Studie des ehemaligen SPD Bundestagsabgeordneten und Leiter der Arbeitsgruppe “Reaktorsicherheit” im Innen- ausschuss des Bundestages, Frank Haenschke13. Haenschke zog sich bereits nach einer Legis- laturperiode enttäuscht aus der Parlamentsarbeit zurück und plädiert in seinem Buch für eine stärkere parlamentarische Kontrolle der Atomwirtschaft. Er stellt dabei die von Atomexper- ten und Politikern so oft vorgebrachte Vorstellung einer „Sach-Rationalität”, die politische Entscheidungen erübrigt, in Frage. Über das Verhältnis seiner Partei zur Kernenergie schreibt Haenschke jedoch wenig.

Auch die Darstellung der bundesdeutschen Kernforschung und ihrer Probleme von Klaus Traube14 ist auf der Basis von Insider-Kenntnissen geschrieben. Traube war zunächst als Chefplaner am Bau des “schnellen Brutreaktors” in Kalkar beteiligt, verlor seinen Posten allerdings wegen angeblicher Kontakte zu Terroristen und wurde als Opfer geheimdienstlicher Abhörtätigkeit bekannt. In seinem Werk geht Traube besonders auf die Problematik ein, Großforschungsprojekte wie den Bau des “Schnellen Brüters” im Griff zu behalten und erklärt die Kerntechnik für wirtschaftlich ruinös.

Schlichtweg als bahnbrechend muss die Studie Joachim Radkaus über die Geschichte der deutschen Atomwirtschaft bezeichnet werden15. In seiner beeindruckenden Darstellung aus dem Jahr 1983 untersucht Radkau die politischen, technischen und wirtschaftlichen Hinter- gründe, unter denen sich die deutsche Atomwirtschaft zunächst zu einer “Zukunfts- und Wachstumsbranche entwickelte und dann schließlich in die Absatz- und Legitimationskrise der 1970er Jahre geriet. In Anbetracht des geringen zeitlichen Abstands zwischen dem Unter- suchungszeitraum und dem Veröffentlichungsdatum dieser Arbeit ist es erstaunlich, wie zu einem so frühen Zeitpunkt schon so viel Quellenmaterial, wie z.B. die Akten des Bundesfor- schungsministeriums und der deutschen Atomkommission und diverse Firmenarchive, einge- sehen und ausgewertet werden konnten. So war es Radkau schließlich möglich, bereits zum Anfang der 1980er Jahre, als sich die Friedens- und Anti-Atomkraftbewegung auf ihren Hö- hepunkt befand, eine wissenschaftlich fundierte und zugleich kritische Studie über die deut- sche Atomwirtschaft und die Kernenergiepolitik der Bundesrepublik vorzulegen. Bis heute gilt Radkaus Arbeit als Standardwerk der deutschen Kernenergiegeschichte.

An aktuelleren Forschungsarbeiten liegt unter anderen Wolfgang D. Müllers dreibändige Studie „Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland”16 von 1990 bzw. 1996 und 2001 vor. Dieses Werk erhebt schon allein dem Titel nach den Anspruch, ein Stan- dardwerk der Kernregiegeschichte zu sein, erfüllt diesen Anspruch jedoch nur in Hinblick auf den rein technikgeschichtlichen Aspekt des Themas. Wolfgang D. Müller war von 1956 bis zum Jahr 1985 Chefredakteur der Fachzeitschrift „Atomwirtschaft” (atw) und in dieser Funktion auch Mitglied des Interessenverbandes Deutsches Atomforums e.V. So wundert es wenig, wenn Müller in seiner Darstellung versucht, die Kernenergiegeschichte der Bundesrepu- blik als Erfolgsgeschichte zu schreiben. Der Untersuchungszeitraum der ersten beiden Bände endet bezeichnenderweise bereits 1969, so dass Müller die atompolitische Krise der 1970er Jahre nicht mehr behandelt und auch die Entstehung der Bürgerinitiativ- und Anti-AKW- Bewegung sowie deren Auswirkung auf die deutsche Atomwirtschaft somit nicht themati- siert. Die politische Entscheidungen, die den Einstieg in die Kernenergie in den 1960er Jah- ren ermöglicht hatten, werden von Müller als reine „Sach-Entscheidungen” dargestellt, wobei die Probleme der Kernenergienutzung fast gänzlich ausgeklammert werden. Der dritte Band dieses Werks wurde 2001 veröffentlicht. Dieser Band beschäftigt sich nicht, wie es konse- quenterweise zu erwarten gewesen wäre, mit der Entwicklung der Kerntechnik der Bundes- republik in den 1970er Jahren, sondern mit der Geschichte der Kernenergie in der DDR17. Die Unterschrift des Titels „Kernforschung und Kerntechnik im Schatten des Sozialismus” fällt dabei sehr wertend aus und legt die Vermutung nahe, Müller wolle mit diesem Band, der paradoxer Weise die Bezeichnung „Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland Band III” trägt, ein Negativbild gegen die seiner bisherigen Darstellung nach positiv verlaufene Kernenergiegeschichte der Bundesrepublik setzen. Es bleibt abzuwarten, ob sich Band IV dieser Reihe mit der Krise der bundesdeutschen Atomwirtschaft und der Krise der Atompolitik der 1970er und 1980er Jahre auseinandersetzen wird.

Als aktuellste Darstellung der Kernenergiegeschichte und insbesondere des Atomkonflikts ist die Arbeit von Markus Mohr18 zu nennen, die im Jahr 2001 auf dem Buchmarkt erschienen ist. Mohr stellt darin die gewerkschaftlichen Positionen zur Kernenergie von 1975 bis in die 1990er Jahre hinein dar. Hierbei zeigt Mohr im Detail, wie die Schlüsselgewerkschaften in der Atomindustrie, wie z.B. die IG Metall und die IG Bergbau Energie, durch den DGB da- von abgehalten wurden, die Kernenergieproblematik zu thematisieren bzw. Kernkraftgegner aus den Gewerkschaftsreihen zum Stillschweigen gebracht wurden und schließlich der ge- samte Gewerkschaftsapparat in die Opposition zur Bürgerinitiativ- und Anti-AKW- Bewegung geriet. Lediglich am Rande wird hierbei die Diskussion innerhalb der SPD um die Kernenergienutzung dargestellt.

Quellen

Für die vorliegende Arbeit wurden in erster Linie gedruckte Quellen verwendet. Neben den stenographischen Protokollen der entsprechenden Bundestagssitzungen seien hier exempla- risch die als Bundestagsdrucksachen erschienen Energieprogramme der Bundesregierung genannt19. Die Diskussion um die Kernenergie innerhalb der SPD findet ihren Niederschlag in den von der Partei herausgegebenen Jahrbüchern und Parteitagsprotokollen sowie in den unregelmäßig erscheinenden „Pressediensten“ der Partei. Über die Diskussion innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion gibt der ebenfalls unregelmäßig erscheinende „Tagesdienst“ Aus- kunft, der ab Herbst 1976 in „SPD-Service“ umbenannt wurde. Zusätzlich wurden die SPD- Publikation “Vorwärts” und monatlich erscheinende “Neue Gesellschaft” durchgesehen.

Da die Partei jedoch bis zur Mitte der 1970er Jahre wenig zur Kernenergiefrage veröffent- licht hat, stellen für dieser Arbeit die großen bundesdeutschen Tages- und Wochenzeitungen, sowie die Nachrichtenmagazine „DER SPIEGEL“ und „Der Stern“ eine wichtige Quelle dar. Eine große Arbeitserleichterung bei der Suche nach relevanten Artikeln bot dabei die nach Sachthemen geordnete Presseausschnittssammlung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung in Bonn, die auf Mikrofilm vorliegt. Hierin waren auch alle relevanten „SPD-Pressedienste“ und die „Tagesdienste“ der SPD-Bundestagsfraktionen zu finden.

Einen vertieften Einblick in die innerparteiliche Diskussion konnte durch die Durchsicht der Nachlässe von Horst Ehmke20 und Hans Matthöfer21 im Archiv der Sozialen Demokratie (AdSD) der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn gewonnen werden. Das Privatarchiv Helmut Schmidts konnte hier ebenfalls teilweise gesichtet werden. Dabei fanden sich einige erhellende Aufzeichnungen des Bundeskanzlers zur Kernenergie und seine persönlichen Einschätzungen zum innerparteilichen Konflikt um diese Technologie22.

I. Energiepolitische Weichenstellungen der Großen Koalition: Kohlehalden und Demonstrations-Kernkraftwerke

Das Krisenmanagement der SPD für den Erhalt des Energieträgers Kohle

Das Energieversorgungssystem der Bundesrepublik veränderte sich in den 1960er Jahren grundlegend. Der bisher wichtigste Primärenergieträger Kohle wurde seit den späten 1950er Jahren durch das immer billiger werdende Erdöl abgelöst. So sank der Anteil der Steinkohle am Primärenergieverbrauch der Bundesrepublik, der im Jahr 1958 noch 65,4 % betragen hat- te, im Jahr 1966 auf 38,3%. Der Anteil des Erdöls wuchs im selben Zeitraum von 14,8% auf 45,7%23. Der westdeutsche Steinkohlebergbau, der unter relativ ungünstigen ökonomischen Bedingungen produzierte, geriet somit seit den späten 1950er Jahren in eine tiefe Absatzkri- se. Diese wurde noch dazu dadurch verstärkt, dass billigere Kohle aus den USA auf den eu- ropäischen Energiemarkt drängte24. Neben den sozialen und wirtschaftlichen Problemen für die traditionellen westdeutschen Kohleabbaugebiete entstand mit dieser Entwicklung ein neues Problem in der Energiestruktur der Bundesrepublik: Im Gegensatz zu den späten 1950er Jahren, als Westdeutschland noch als Netto-Exporteur von Energie auf dem Welt- markt auftrat25, war die westdeutsche Energieproduktion im Laufe der 1960er Jahre von Erd- ölimporten aus dem Ausland abhängig geworden. Die Energiepolitik der Bundesregierung unter Adenauer und Erhard problematisierte diese neue Abhängigkeit von Erdölimporten jedoch nicht. Die energiepolitischen Maßnahmen der Regierung Adenauer und Erhard zielten zu keinem Zeitpunkt daraufhin ab, den Import von Erdöl zu verringern. Im Gegenteil: Der billigen Verfügbarkeit von Energie wurde, im Interesse der energieintensiven Industrie, Vor- rang vor der Bekämpfung einer Importabhängigkeit eingeräumt26. Die aus sozialpolitischen Gründen seit 1965 ergriffenen Maßnahmen zum Schutz der deutschen Kohleförderung, wie z.B. die steuerliche Belastung des Heizöls und die Zollbelastung der Importkohle, sollten den Absatz der Kohle stabilisieren, bzw. ein weiteres Schrumpfen des Kohlesektors in der Energiestruktur verhindern27. Das Wachstum des Kohlesektors zu fördern war jedoch zu keinem Zeitpunkt Ziel der damaligen unionsgeführten Bundesregierungen. Die ergriffenen Maßnah- men reichten schließlich nicht einmal aus, die Schrumpfung des Kohleanteils am Primärener- gieverbrauch zu verhindern. So kam es im Laufe der 1960er Jahre zu einem gewaltigen Be- schäftigungseinbruch im Kohlebergbau: In der gesamten Kohlebranche waren in der Bundes- republik im Jahr 1957 noch 607 439 Menschen tätig. Im Jahr 1966 fanden dagegen nur noch 333 855 Menschen Beschäftigung in diesem Bereich28. Zum Ende der 1950er Jahre wurde daher ein kostspieliges Subventionsprogramm der Bundesregierung notwendig, um diesen Strukturwandel in den Kohleabbaugebieten sozialverträglich zu gestalten: So wurden von 1958 bis 1967 nicht weniger als 50 verschiedene Förderungs- und Hilfsmaßnahmen für den Erhalt der Kohlewirtschaft beschlossen. Hierzu gehörten beispielsweise Sozialversicherungs- subventionen, Frachthilfen, Bergarbeiterwohnungsbau und Entlastungen auf dem For- schungssektor. Insgesamt stieg das Subventionsvolumen der Kohlewirtschaft von 0,8 Milli- arden DM im Jahr 1958 auf insgesamt 3,3 Milliarden DM im Jahr 196729. Der Rückgang der Beschäftigungszahlen im Kohlebergbau konnte jedoch nicht aufgehalten werden.

Für den Misserfolg der energiepolitischen Interventionen in der späten Adenauerzeit und der Erhard-Ära lassen sich verschiedene Gründe angeben, die letztendlich alle auf einen zentra- len Widerspruch rückführbar sind: Zum einen war die CDU durch die wirtschaftliche Grund- entscheidung gebunden, den Markt auch dann sich selbst zu überlassen, wenn Dysfunktiona- litäten und Disproportionen auftreten. Zum anderen musste die CDU als Volkspartei die Inte- ressen der von der Umstrukturierung betroffenen Arbeitnehmer genauso vertreten wie die Interessen der Montanindustrie und somit die Existenz des Ruhrbergbaus mit Hilfe von gro- ßen Subventionen und unfangreichen Förderprogrammen garantieren. Dieses politische Di- lemma führte zu einer wenig effektiven Interventionspolitik, die sämtliche Fördermittel des Bundes gleichmäßig auf die gesamte Branche verteilte30. Diese Subventionspolitik wird ge- meinhin als „Gieskannenprinzip“ bezeichnet31. Sie orientierte sich nicht an betriebswirt- schaftlichen Kriterien und griff nicht in die Entscheidungskompetenz der Unternehmen ein. So stabilisierten die gewährten Subventionen auf der einen Seite die Förderkapazitäten schon längst unrentabel gewordener Kohlezechen; andererseits wurden Kohlebetriebe, die rentabel produzieren hätten können, mit zu wenig neuen Kapital, das für gewinnsteigernde Investitio- nen gesorgt hätte, versorgt32. Auch die flankierenden Maßnahmen der liberal-konservativen Regierung wie die Zollbelastung der Importkohle aus dem Jahr 1959 und die beiden soge- nannten „Verstromungsgesetze“ aus den Jahren 1965 bzw. 1966 konnten den Absatz der heimischen Kohle nicht mehr stabilisieren33. Die seit den späten 1950er Jahren entstehenden Halden in den Kohlerevieren waren ein weithin sichtbares Symbol für diese verfehlte Sub- ventionspolitik.

Die enge Verbindung zwischen der oben beschriebenen Strukturkrise im Kohlebergbau bzw. der damit einhergehenden steigenden Arbeitslosigkeit in den Kohlebergbaugebieten und dem ersten scharfen Konjunktureinbruch in der Geschichte der Bundesrepublik, bilden die öko- nomischen Rahmenbedingungen für den Machtverlust der Union im Jahr 1966. Nicht zuletzt bestand zwischen der Krise in den Kohlerevieren und der Haushaltskrise im Bund ein enger Zusammenhang, denn die starke finanzielle Förderung des Kohlebergbaus hatte große Löcher im Bundeshaushalt hinterlassen. Bei den Wahlen zum nordrhein-westfälischen Landtag im Juli 1966 wurde die CDU entscheidend durch die SPD geschlagen. Diese Wahlniederlage im bevölkerungsreichsten Bundesland beschleunigte auch im Bund das politische Ende der Re- gierung Erhard. Am 13. Dezember 1966 kam es zur Auflösung des liberal-konservativen Bündnisses auf der Bundesebene.

Nach der Bildung der Großen Koalition wurde ein konzeptionell neuer Versuch zur Lösung der Kohlekrise unternommen. Unter dem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Karl Schiller entstand die sogenannte „Konzertierte Aktion Kohle“34. Eine erstes Ergebnis dieser Aktion, an der neben den Unternehmerverbänden auch die IG Bergbau mitwirkten, war das sogenannte „Drei Phasen-Programm“ des Wirtschaftsministeriums, das die Anpassung der Steinkohleförderung an den Absatz sicherstellen sollte35. Die wesentlichen Elemente dieses energiepolitischen Programms waren das Kohleanpassungsgesetz und die auf seiner Grund- lage vorgesehene Neuordnung des Ruhrkohlebergbaus durch die Gründung einer Einheitsge- sellschaft, der Ruhrkohle AG36. Mit der Verabschiedung des Kohleanpassungsgesetzes am 3. April 1968 und der Gründung der Ruhrkohle AG am 18. Juli 1969 sowie der erweiterten Fortführung der flankierenden Maßnahmen hatte die „Konzertierte Aktion“ letztendlich Er- folg: Der dramatische Beschäftigungsrückgang im Kohlesektor konnte vorerst aufgehalten werden37. Die Fördermittel des Bundes für die Kohlereviere wurden im Zuge der Aktion auf rund 1 Milliarde DM im Jahr 1968 und auf 707 Millionen DM im Jahr 1969 zurückgefah- ren38. Die besondere Leistung dieses „Krisenmanagements“ der SPD-geführten Wirtschafts- politik lag dabei nicht im ökonomischen Bereich, sondern in den von der Sozialdemokratie inszenierten politischen Formen der Krisen- und Konfliktregulierung39. Im Gegensatz zur Union vermochte die Sozialdemokratie eine „Konzertierte Aktion“ zwischen den beteiligten Parteien wie Gewerkschaften und Unternehmerverbänden zu organisieren und damit einen von allen Seiten getragenen Maßnahmenkatalog zu erstellen. Durch die hier praktizierte Zusammenarbeit zwischen Staat, Unternehmen und Gewerkschaften war die fundamentale Absatzkrise des Ruhrkohlebergbaus zwar nicht behoben, der politische Konflikt um diesen E- nergieträger war aber zunächst befriedet. Die „Konzertierte Aktion Kohle“ war einer der ersten politischen Erfolge der Regierungspartei SPD. Das der SPD hatte sich so in seiner ersten Anwendung bewährt40.

Die staatliche Förderung der Kernenergie

Die Energiepolitik der 1960er Jahre war in erster Linie „Kohlepolitik“. Ein umfassendes e- nergiepolitisches Konzept der Bundesregierung, welches das Zusammenwirken sämtlicher Primärenergieträger geregelt hätte, existierte bislang nicht und so erfolgte die Förderung des Energieträgers Kohle in erster Linie aus struktur- und beschäftigungspolitischen Gründen41.

Ebenso enorm wie die Förderung des Kohlebergbaus waren die staatlichen Maßnahmen zur Entwicklung einer weiteren Energiequelle, der Kernenergie42. Hier zielten die staatlichen Maßnahmen daraufhin ab, das bisherige Unvermögen der Privatwirtschaft, die Kernenergie zur marktfähigen Energiequelle zu entwickeln, zu kompensieren und der westdeutschen Industrie auf dem zukunftsversprechenden Reaktormarkt internationale Konkurrenzfähigkeit zu sichern43. Das Erreichen einer internationalen Spitzenposition im Bereich der Kerntechnik hatte eindeutig Vorrang vor energiepolitischen Überlegungen. So heißt es in den Bundesforschungsberichten aus dem Jahren 1965 und 1969:

„Der Entschluß des Bundes, die Kernforschung und kerntechnische Entwicklung mit staat- lichen Mitteln zu fördern, beruhte vorwiegend auf allgemeinen forschungs- und wirt- schaftspolitischen Gedanken [...] Die technischen Fortschritte, die im Zusammenhang mit den Arbeiten zur Kernenergienutzung auftreten, sind Maßstab für das technische Niveau eines Industrielandes in der Konkurrenz [...] mit anderen Ländern. Ein weiteres Motiv für die Förderung der Kernenergienutzung durch den Bund war energiepolitischer Natur.“44 Eine Verringerung der Erdölabhängigkeit der Bundesrepublik oder gar die Furcht vor einer drohenden Energieknappheit spielten als Motive für die Förderung der Kernenergie eine un- tergeordnete Rolle. So ist es wenig verwunderlich, dass ausgerechnet im Jahre 1967, als eine durch die Kohle-Überproduktion verursachte Lawine von Zechenstillegungen jegliche Sorge vor einer nahenden Energienot so abwegig wie nur möglich erscheinen ließ, die ersten beiden Kernkraftwerke auf kommerzieller Basis bestellt wurden45. Kurz zuvor, im November 1966, hatte die deutsche Atom- und Energiewirtschaft ihr erstes Demonstrationskraftwerk in Gund- remmingen in Betrieb genommen46. Der Betrieb dieser ersten Demonstrations- Kernkraftwerke, die das erste Mal in der deutschen Kernenergiegeschichte große Mengen an Elektrizität erzeugen sollten, war ein zentrales Ziel des zweiten Atomprogramms der Bundes- regierung, das 1962 beschlossen wurde47. Das nachfolgende dritte Atomprogramm der Gro- ßen Koalition aus dem Jahr 196748 war im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern ein offi- zielles Programm der Bundesregierung und dokumentiert den Aufstieg der Atompolitik von einem technologiepolitischen Randthema hin zu einem zentralen Gegenstand der Wirt- schaftspolitik49: Bereits im Januar des Jahres 1967 forderte der Bundestag, einem Antrag des zuständigen Ausschusses entsprechend, die Bundesregierung auf, sich für einen steigenden Anteil der Kernenergie an der Deckung des Energiebedarfs einzusetzen50. Auch die Medien, wie z.B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, nahmen das Thema Kernenergie verstärkt wahr und forderten, die Entwicklung der Kernenergie nicht durch die überproportionalen Kohle- subventionen zu behindern, bzw. die Kernenergie insgesamt ebenso stark zu fördern wie den Steinkohlebergbau51.

Angesichts der Tatsache, dass bereits 1964 zwischen dem Forschungs-, Finanz- und Wirt- schaftsministerium und der Atomwirtschaft vereinbart wurde, beim Bau der ersten drei De- monstrations-Kernkraftwerke in Gundremmingen, Lingen und Obrigheim 90% der Bau- und Entwicklungskosten durch Bundesmittel zu übernehmen52, zeigt sich, wie wenig Medien und Parlament im Laufe der 1960er Jahre über den Stand und das Ausmaß der staatlichen Kern- energieförderung informiert gewesen waren53. Die Befürchtung, die Kernenergie bekomme zu wenig staatliche Unterstützung, war in Anbetracht der bereits im zweiten Atomprogramm für die Jahre 1962-1967 beschlossenen Förderung der Kernenergie mit 3,8 Milliarden DM reichlich abwegig54. Das am 13. Dezember 1967 vom Bundeskabinett beschlossene dritte Atomprogramm vergrößerte das Subventionsvolumen der Kernenergie nochmals: Für die Laufzeit des Programms von 1967 bis 1972 wurden insgesamt 5,05 Milliarden DM einge- plant55.

Wie anhand dieser Zahl deutlich wird, erhielt die Atomplanung des Bundes unter der Großen Koalition eine neue Dynamik. Die ökonomischen Rahmenbedingungen hatten sich dahinge- hend verschoben, dass ein kommerzieller Einstieg in die Kernenergie nun als sinnvoll er- schien: In der Industrie begannen sich nach der Rezession von 1966/67 Kapitalüberfluss und Kapazitätenüberhang abzuzeichnen und die bis dahin relativ hohen Kapitalkosten für Kern- kraftwerke schreckten die Industrie nicht mehr davon ab, in diese Technologie zu investie- ren56. Die Rezession hatte zu einer Renaissance des Keynesianismus in der Wirtschaftspolitik geführt und die Kerntechnik stand nun bereit, um von der Expansion des Bundeshaushaltes ihren Anteil mitzunehmen. Die sich in diesen Jahren verschärfende „Kohlekrise“ führte in diesem wirtschaftspolitischen Gesamtrahmen dazu, ökonomische Strukturpolitik, wie es z.B. die Maßnahmen zum Erhalt des Energieträgers Kohle und die Subventionierung der nuklea- ren Demonstrationskraftwerke waren, als Normalerscheinung zu begreifen57. So ging das Demonstrationskraftwerk Gundremmingen 1966 in Betrieb, die Werke Lingen und Obrig- heim folgten im Jahr 1968. Es hätte dem Sinn dieser Anlagen entsprochen, wenn vor der Be- stellung der ersten kommerziellen Kernkraftwerke durch die Energieversorgungsunterneh- men erst einmal Erfahrungen und Ergebnisse des Betriebs dieser Kraftwerke gesammelt wor- den wären, zumal angesichts des Überflusses an heimischer Steinkohle und an billigem Erdöl keinerlei Grund zur Eile beim Einstieg in diese Technologie bestanden hatte. Tatsächlich hatte aber weder die Industrie noch die Bundesregierung die Geduld, mit dem Einstieg in die Kernenergie noch lange zu warten. Und so kam es bereits im Herbst 1967, noch vor der Fer- tigstellung der Anlagen in Lingen und Obrigheim, zur Bestellung der ersten Kernkraftwerke auf kommerzieller Basis.

Der übereilte Einstieg in die Kernenergie und die verhinderte Konfrontation zwischen den Energieträgern Kohle und Kernenergie

Ab 1966 lässt sich eine zunehmende Nervosität in der deutschen Atomwirtschaft feststellen. Mit „Beängstigung“ registrierte das Fachblatt „Atomwirtschaft“ (atw) eine „Bestell- Explosion“ von Kernkraftwerken in den USA58. Hier waren seit dem Jahr 1965 insgesamt 14 Kernkraftwerke mit einer Leistung von über 10 000 MW durch die US- Energieversorgungsunternehmen geordert worden, während in der Bundesrepublik bisher nur Versuchs- und Demonstrationskraftwerke errichtet worden waren. Bundesforschungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) äußerte sich besorgt über die Stellung der bundesdeutschen Kernenergie auf dem Weltmarkt, als er in einer Bundestagsdebatte am 12. Oktober 1966 for- derte, der deutschen Atomindustrie weiterhin Zuschüsse zu erteilen, damit sich diese auf dem Exportmarkt behaupten könne59. Der Chefredakteur der atw, Wolfgang D. Müller, schlug in seinem Leitartikel der Januar-Ausgabe des Jahres 1967 vor, der Staat möge durch die Gewäh- rung von Darlehen und steuerfreien Rücklagen sowie von Abschreibungserleichterungen den Energieversorgungsunternehmen (EVU) den Einstieg in die Kernenergie erleichtern und ge- wissermaßen „Starthilfe“ für den Atomeinstieg leisten. Das „Handelsblatt“ nahm diese Vor- schläge bereitwillig auf und forderte in einem Leitartikel die Bundesregierung ebenfalls dazu auf, der Energiewirtschaft unter die Arme zu greifen60. Die Atomindustrie setzte die Bundes- regierung wenig später mit ihrer Androhung unter Druck „wenn es nicht bald zu einer Bestel- lung mehrer Kernkraftwerke mit 600 MW Leistung durch deutsche Energieversorgungsun- ternehmen komme“ werde sie die fertig entwickelten Reaktorbaulinien auflösen61.

Das Zögern der Elektrizitätswirtschaft, in die Kernenergie einzusteigen und somit die ersten Kernkraftwerke zu bestellen, war indes wohlbegründet. So rechnete Oskar Löbl, Berater des Rheinisch-Westfälischen-Elektrizitätswerks (RWE) und somit Vertreter eines der größten Energieversorgungsunternehmen der Bundesrepublik und Miteigentümer des Demonstrationskraftwerks Gundremmingen in der „atw“ vor, dass „die Kosteneinsparungen durch Kernenergie, wenn überhaupt vorhanden, so gering sind, dass sie sich bei einer Veränderung der Ausgangsdaten leicht in Nichts auflösen können“ 62. Er verwies dabei auf die „ganz speziellen Schwierigkeiten“, die die Kernenergie mit sich brächte, „angefangen von der gefahrlosen Beseitigung und Unterbringung der kumulativ anwach- senden bedeutenden Mengen an radioaktiven Spaltprodukten bis zu der immer schwieriger werdenden Standortfrage“63

In einer bemerkenswerten Weitsicht beschrieb Löbl hier das komplette Dilemma der Kern- energienutzung, das sich in dieser Klarheit erst ab Mitte der 1970er Jahre enthüllen sollte. Während sich die Energiewirtschaft also sichtlich sträubte, die Kernenergie für die Stromer- zeugung zu nutzen, machte Bundesforschungsminister Gerhard Stoltenberg und die Presse weiter mobil für den Atomstrom. So beklagte die ZEIT „Stromkosten von 2 Pfennig je Kilo- wattstunde“ seien durch die fortgeschrittene Kerntechnik zwar „in greifbare Nähe gerückt“, jedoch lassen die Aufträge für die Reaktorbauindustrie „nach wie vor auf sich warten“64. Stoltenberg wurde nicht müde, in der Öffentlichkeit Zuversicht und Optimismus hinsichtlich der Kernenergieentwicklung zu verbreiten, indem er den Bau von 30 bis 50 Kernkraftwerken in der Bundesrepublik innerhalb der „nächsten 10 Jahre“ voraussagte65. Das „Handelsblatt“ schlug hingegen Alarm im Hinblick auf die schwindenden Exportchancen der deutschen Re- aktorindustrie, da Referenz-Kernkraftwerke im Inland bislang fehlten:

„Im Gegensatz zu den USA wird jedoch bei uns die wirtschaftliche Auswertung des un- zweifelhaften Erfolges der Reaktorindustrie durch energiewirtschaftliche Schwierigkeiten gehemmt, die ihre tiefsten Wurzeln [...] in der allgemeinen Energiepolitik der Regierung haben.“66.

Dieser Vorwurf zielte auf die Kohlesubventionierung. Die ZEIT konkretisierte den Vorwurf noch weitergehend und kommentierte die Flaute auf der Reaktorbauindustrie mit der Feststel- lung „Die Kohlesubvention beginnt, atomaren Schaden anzurichten“67. Hier wurden nicht nur die staatlichen Maßnahmen zum Erhalt der Steinkohleproduktion als fortschritts- und innova- tionsfeindlich gebrandmarkt, hier wurde darüber hinaus eine Konfrontation zwischen den Energieträgern Kohle und Kernenergie postuliert, die in der Realität nie wirklich stattgefun- den hatte. Zwar wäre eine offen ausgetragene Kontroverse zwischen den beiden Energieträ- gern mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen für die Energiepolitik, die ökologische Ent- wicklung und die Wirtschaft im Vorfeld des kommerziellen Einstieges in die Kerntechnik im Interesse eines funktionierenden politischen Willensbildungsprozesses gewesen, eine solche Auseinandersetzung fand jedoch nur verdeckt und unterschwellig statt68. Eigentlich wäre von der Sache her anzunehmen, dass die Beziehung zwischen Kohle und Urandaszentrale The- ma der deutschen Kernenergiegeschichte dargestellt hätte, da die Kernenergie ja genau zu dem Zeitpunkt auf dem Energiemarkt antrat, als die Kohle sich in ihrer schwersten Absatz- krise befand und weitgehend vom Erdöl verdrängt wurde. In der Realität war es jedoch zu zahlreichen Bündnissen zwischen den beiden Energieträgern gekommen und die existieren- den Konflikte wurden im Geheimen und hinter verschlossenen Türen ausgetragen. Joachim Radkau kommt in seiner Studie zu dem Schluss, dass eine offen ausgetragene Konfrontation zwischen Kohle und Kernenergie in den 1960er Jahren deshalb nicht zustande kam, weil bei- de Energieträger gleichermaßen von der Vormachtstellung des Erdöls auf dem Energiemarkt bedroht waren und beide somit in ihrer Existenz von staatlichen Subventionen abhängig wa- ren69. Vertreter beider Interessen - von Kohle wie von Kernenergie - begründeten die Not- wendigkeit der Kohle- bzw. Kernenergieförderung mit der Gefahr einer zu großen Importab- hängigkeit durch einen hohen Erdölanteil am Primärenergieverbrauch70. Letztendlich konnte die Kernenergie, die eben erst auf dem Weg war, in die Realität umgesetzt zu werden, dem traditionellen Energieträger Kohle nicht allzu gefährlich werden, so dass ein Konkurrenzver- hältnis nicht wirklich entstand. Darüber hinaus waren die Kohlesubventionen für die Kern- energieentwicklung stets sehr praktisch gewesen: Die Subventionierung der Kohle bot den Kernkraft-Vertretern einen Grund, nun ihrerseits auch für den Bau von kommerziellen Kern- kraftwerken Subventionen zu fordern71, und das zu einer Zeit, in der Minister Stoltenberg ankündigte, die staatliche Förderung erprobter Kernkraftwerke „allmählich auslaufen“ zu lassen72.

Im Jahr 1967, als die Bestellungen der ersten kommerziellen Kernkraftwerke auf sich warten ließ, und die Reaktorbauindustrie nervös und ungeduldig in den Startlöchern saß, ergriff die Bundesregierung angeregt durch das Forschungsministerium, schließlich die Initiative. Ganz nach dem Vorbild der „Konzertierten Aktion Kohle“ wurden Verhandlungen mit den Ener- gieversorgungsunternehmen und der Atomindustrie aufgenommen mit dem Ziel, den Atom- einstieg in einer einvernehmlichen Lösung zwischen allen Beteiligten zu organisieren73. Der Interessenverband der deutschen Atomindustrie, das deutsche Atomforum e.V.(DAF), legte der Bundesregierung während der Verhandlungen eine Liste von Empfehlungen vor, die der Kernenergie endlich zum Durchbruch verhelfen sollten. Hier wurden vor allem die Gewäh- rung großzügiger steuerlicher Abschreibungen sowie die Vergabe von Krediten durch die Bundesregierung eingefordert74. Stoltenberg versicherte sogleich, er werde die Vorschläge „sehr sorgfältig prüfen“, wenngleich er im Prinzip darauf bestehen müsse, dass kommerzielle Kraftwerke „ohne Staatshilfen“ erbaut werden75. Stoltenberg hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon erfolgreich in die Vorverhandlungen um die geplanten Kernkraftwerke Stade und Würgassen eingeschaltet und als die beiden Werke schließlich im Herbst 1967 mit nur etwa einer Woche Abstand bestellt wurden, geschah dies offenbar in einer „konzertierten“ Aktion, da je eine Bestellung an die konkurrierenden Reaktorbaufirmen AEG und Siemens erteilt wurde und somit die gesamte Branche gleichmäßig an den Aufträgen beteiligt wurde76.

Ähnlich wie die Kohle hatte der Energieträger Kernenergie in den 1960er Jahren bereits zu Beginn ihres Daseins eine fundamentale Absatzkrise durchlaufen und, wie im Falle der Koh- le, hatte die Bundesregierung eine „konzertierte Aktion“ zugunsten der Kernenergie initiiert, ohne die dieser Energieträger zu dieser Zeit keinen Eingang in die Energieproduktion gefun- den hätte. Das korporatistische Wirtschaftssteuerungsmodell der SPD, welches vorsah, durch eine korrigierende, steuernde und intervenierende Konjunktur-, Struktur- und Sozialpolitik die Wirtschaft auf den Wachtums- und vor allem auf den Modernisierungspfad zurückzufüh- ren, hatte hier erneut eine Anwendung gefunden77. Zwar war im Fall der Kernenergie die Regie der entsprechenden Maßnahmen in der Hand des CDU-geführten Bundesforschungs- ministeriums gelegen, der Geist der SPD-Wirtschaftspolitik hatte aber offensichtlich auch hier Einzug gehalten: Der Erfolg der Konzertierungsstrategie, wie er bereits im Kohlesektor zu verzeichnen war, führte zu einer Modifikation des politischen Regimes und der staatliche Eingriff in das Marktgeschehen verlor auch für die CDU ihren prohibitiven Charakter78.

Mehr als erstaunlich ist es festzustellen, dass die hier beschriebene massive finanzielle Förde- rung der Kernenergie im Laufe der 1960er Jahre weder durch Parlament noch in der Öffentlichkeit besonders wahrgenommen oder gar problematisiert wurden79.

Kernenergie in Parlament undÖffentlichkeit der 1960er Jahre

Wie wenig sich das Parlament im Laufe der 1960er Jahre mit dem Thema Kernenergie auseinandergesetzt hatte, gestand der SPD-Bundestagsabgeordnete und Mitglied des Ausschusses für Forschung und Technologie Gerhard Flämig im Jahr 1973 ein:

„Ich habe [...] keine Parlamentsdebatte erlebt über Atomprogramme, wo es um Milliarden- beträge ging [...]. Wenn wir als Abgeordnete überhaupt da eingestiegen sind, dann, weil von anderer Seite aus uns Fragen gestellt wurden und wir dann ganz bescheiden gesagt ha- ben: <<Was hat denn das für Folgen, was passiert denn, wenn wir das beschließen oder nicht beschließen? >> Wir haben ganz vorsichtige Ansätze einer Technologiedebatte einmal gemacht mit der Folge, daß das Haus leer war - das war für die große Masse unserer Abge- ordneten Kaffeetrinkenszeit [...]“ 80.

Symptomatisch für diese Nicht-Beachtung der Kernenergie durch das Parlament war die Umfunktionierung des Bundestagsausschusses für Atomfragen zum Ausschuss für Wissenschaft, Kulturpolitik, Publizistik und Atomfragen im Jahr 1965, der sich fortan nur noch peripher mit der Kernenergie auseinander setzte81. Ausgerechnet in dem Jahrzehnt also, in dem die meisten politischen Entscheidungen bezüglich der Kernenergie zu fällen waren, war das Parlament nur marginal an diesen Weichenstellungen beteiligt.

Das maßgebliche Gremium der atompolitischen Entscheidungen war in Wirklichkeit die deutsche Atomkommission (DAtK). Gegründet 1956, bestand diese Expertengremium aus bis zu 200 Mitgliedern, die von Hochschulen, Industrie, Gewerkschaften und Energieversor- gungsunternehmen entsandt wurden. Die DAtK erarbeitete in Verbindung mit dem Ministe- rium für Atomfragen bzw. dem Bundesministerium für Forschung und Technologie bis 1968 jene drei Atomprogramme, welche die Verwirklichung der Kernenergie in der Bundesrepu- blik mit Forschungsgeldern in der Höhe von insgesamt 11,4 Milliarden DM erst ermöglichten82. In den 1950er Jahren hatte die SPD als oppositionspolitische Pflichtübung noch gele- gentlich kritisiert, dass die DAtK lediglich dem Atomministerium zugeordnet war und sich gegen Parlament und Öffentlichkeit abschottete83. In den 1960er Jahren unternahm die Frak- tionen des Bundestages keinen einzigen Versuch mehr, eine Direktbeziehung zwischen dem Bundestag und der DAtK herzustellen, um auf diese Weise zumindest einen laufenden In- formationsfluss zwischen der DAtK und dem Parlament zu gewährleisten. Auch die DAtK kümmerte sich wenig um einen Kontakt zum Bundestag und dessen Ausschüsse. So kam es, dass die Kommission in Zusammenarbeit mit dem Atom- bzw. Forschungsministerium - bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1971- durch Parlament und Öffentlichkeit völlig unkontrolliert Entscheidungen traf - wie z.B. den Bau von Demonstrationskraftwerken - die nicht nur reine Sachentscheidungen waren, sondern von allgemeinen politischen Interesse waren84. Joachim Radkau bemerkt in seiner Studie zu diesen oligarchischen Strukturen in der deutschen Atom- politik: „man kann in den DAtK-Protokollen über weite Strecken hinweg schier vergessen, daß sich all das in einem parlamentarischen Staat abspielte“85.

Nachdem die staatlichen Fördermaßnahmen für die Kernenergie beschlossen waren, hatte die deutsche Atomwirtschaft freilich wenig Interesse an einer vertieften öffentlichen Diskussion über die Risiken und Chancen der Kernenergie. Öffentliches Interesse an der Kernenergie wurde als etwas Lästiges und Hinderliches empfunden. So empfahl der Vertreter der ameri- kanischen Atomindustrie Theos J. Thomson in Karlsruhe auf einer Tagung der deutschen Atomwirtschaft bereits im Jahr 1964, man solle öffentliche Diskussionen über Atomanlagen möglichst im Frühstadium verhindern, da sonst Forderungen nach „unerfüllbaren Garantien [...] und sonstige Komplikationen“86 zu erwarten seien. Die deutsche Atomwirtschaft beher- zigte diesen Rat offensichtlich und so kam es, dass der Bereich „Public Relations“, der in anderen Industriezweigen ein Schlüsselressort darstellt, von der deutschen Atomwirtschaft stets stiefmütterlich behandelt wurde. Beim Ausbau des Kernforschungszentrums Karlsruhe etwa gab es weder öffentliche Grundsteinlegungen noch Richtfeste oder Einweihungsfeiern, die in anderen Industriesparten für Publicity-Zwecke besonders gerne und ausgiebig zeleb- riert werden87. Selbst 1966, also im „Annus Mirabilis“ der deutschen Kernenergieentwick- lung, in dem das Demonstrationskraftwerk Gundremmingen und damit das erste Leistungs- Kernkraftwerk fertiggestellt wurde, kam es zu keiner groß angelegten Werbekampagne für die Kernenergie. Im Gegenteil: Die Zeitschrift „Atomwirtschaft“ registrierte verärgert, dass es auf der im September 1966 in Basel abgehaltenen Fachmesse NUCLEX 66 im Gegensatz zu anderen Nationen keinen deutschen Informationsstand, „keinen deutschen Empfang, ja nicht einmal eine deutsche Pressekonferenz“88 gegeben habe. Im Jahr 1970 äußerte sich die „Atomwirtschaft“ ebenfalls verärgert darüber, dass seitens der Atomindustrie immer noch wenig Interesse bestehe, die Presse über die eigenen Aktivitäten zu informieren. Hier würde eine Chance verpasst, die Öffentlichkeitsarbeit - etwa bei der Inbetriebnahme eines neuen Kernkraftwerkes - zu einem Teil der Presse zu übertragen. Statt dessen sei man froh, wenn die Medien möglichst wenig Informationen von Seiten der Atomindustrie erhalte: „Ist ein Werk errichtet und in Betrieb genommen, atmen alle Beteiligten auf: Was nun geschieht, geht die Öffentlichkeit nichts mehr an, sofern nicht gerade ein größerer Unfall passiert“89.

Auch die Presse ging im Laufe der 1960er Jahre und bis in die 1970er Jahre hinein nur wenig kritisch mit der neuen Energiequelle um. Artikel, die Probleme der Kerntechnik erläutern oder gar aufdecken, finden sich so gut wie keine. Die große Ausnahme bildet der Journalist Kurt Rudzinski, der mit seiner fachmännischen Kritik an der Kernenergie in der F.A.Z. wäh- rend der 60er und frühen 70er Jahren mehrere Versuche unternahm, die ökonomischen und technischen Schwierigkeiten der Kernenergienutzung publik zu machen und dabei allein auf weiter Flur stand 90. Empirisch belegt ist dieses Desinteresse der Medien für die Jahre 1970 bis 1974: Als das Battelle-Institut 1974 im Auftrage des Bundesforschungsministeriums eine Untersuchung über „Bürgerinitiativen im Bereich von Kernkraftwerken“ vornahm und dabei auch die Berichterstattung der Presse von 1970 bis 1974 analysierte, kam es zu dem unerwar- teten Ergebnis, dass von den etwa 20 000 registrierten Artikeln zur Kernkraft „nur ein mini- maler Bruchteil“ nämlich ganze 123, „Bedenken gegen diese Energiequelle“ äußerten und entsprechende Bürgerinitiativen einer Erwähnung würdigten!91. Für die Berichterstattung in den 1960er Jahren kann ein noch geringerer Anteil angenommen werden.

So kam es, dass im Laufe der 1960er Jahre und insbesondere während der Regierungszeit der Großen Koalition wichtige, wenn nicht gar die wichtigsten Entscheidungen zum Einstieg in die Kernenergie getroffen wurden, ohne dass Parlament und Öffentlichkeit über diese Vor- gänge im Bilde waren. Andererseits wurden seitens der Bundestagsfraktionen und der ent- sprechenden Ausschüsse nur wenige Versuche unternommen, dieses Informationsdefizit, welches letztendlich zur Unmündigkeit des Parlaments in der Kernenergiefrage geführt hatte, zu beheben. Das langjährige Mitglied des mit den Sicherheitsproblemen der Kernenergie befassten Innenausschusses, Frank Haenschke (SPD), bemerkte hierzu, dass die Parlamenta- rier in den Ausschüssen angesichts der hoch komplizierten technischen Sacheverhalte, oft schlichtweg überfordert und somit unfähig waren, sich ein unabhängiges Urteil zu bilden. Hinzu kam die Tatsache, dass die beratenden Sachverständigen die von den Ausschüssen gehört wurden, zumeist selbst von der Atomindustrie abhängig waren, und damit eine Bera- tung des Parlaments durch unabhängige Experten nicht stattfinden konnte92. Die Kontroll- funktion des Parlaments konnte nicht erfüllt werden und der Einstieg in die Kernenergie er- folgte im Wesentlichen, ohne dass Parlament und Öffentlichkeit auf diese Entscheidung Ein- fluss gehabt hatten.

Angesichts dieser Vernachlässigung des Themas Kernenergie durch Medien und Parlament wundert es wenig, wenn sich im Laufe der 1960er Jahre auch keinerlei Auseinandersetzun- gen innerhalb der SPD um die Chancen und Risiken dieser Technologie nachweisen lassen. In der Tat fand innerhalb der SPD die kontroverse Auseinandersetzung der 1950er Jahre um die friedliche Nutzung der Kernenergie und eine eventuelle atomare Bewaffung der Bundes- wehr mit dem Godesberger Parteitag einen Abschluss. Es folgte eine lange Pause in der Kernenergiediskussion, die vom Ende der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre dauerte. In die- ser Zeit wurden die Risiken der neuen Energiequelle nicht thematisiert. Dies zeigt sich u.a. in den Wahlkämpfen der 1960er Jahren. Hier blieb das Thema Kernenergie weitgehend ausge- spart: Als die Partei beispielsweise 1965 mit Willy Brandt als Kanzlerkandidat zur Bundes- tagswahl antrat, war eines der Themen im Wahlkampf die Forderung nach einer „langfristi- gen Energiepolitik“93. Demnach müsse nach einer „grundlegenden Bestandsaufnahme“ das Zusammenwirken der verschiedenen Energieträger festgelegt werden. Gedacht war hier vor allem an Kohle, Mineralöl und Erdgas. Von der Kernenergie war hier, selbst ein Jahr vor der Fertigstellung des ersten Demonstrations-Kernkraftwerkes, keine Rede. Erst als die Kern- energie in die kommerzielle Phase eintrat, also die wichtigsten Weichenstellungen zumAtomeinstieg bereits vollzogen waren, bemühte sich die SPD, die Kernenergie in ihre Programmatik einzubeziehen.

[...]


1 Atomwirtschaft, Internationale Zeitschrift für Kernenergie (atw), 46. Jahrgang (2001), S. 551.

2 Andreas Buro, Historische Erfahrung und außerparlamentarische Politik. Vom Atomstreit der 60er Jahre zur ökologischen Bewegung heute, In: Jörg Hallerbach (Hg.), Die eigentliche Kernspaltung. Gewerkschaften und Bürgerinitiativen im Streit um die Atomkraft, Darmstadt 1978, S. 21.

3 Zitiert nach Dieter Dowe und Kurt Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 1990, S. 350 f.

4 Zur Periodisierung der Entwicklung der Kernenergie in Deutschland siehe Joachim Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 18 ff.

5 Häusler, Jürgen, Der Traum wird zum Alptraum - Das Dilemma einer Volkspartei. Die SPD im Atomkonflikt, Berlin 1988, S. 114 ff.

6 Radkau, Aufstieg, S.19.

7 Ebenda.

8 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Hg.), Protokoll des Hamburger Parteitages der SPD 1977, Bonn 1977, S. 989.

9 Siehe Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Reinbek 1996, S. 296.

10 Vorstand der SPD (Hg.), Beschlüsse zur Energiepoltik, Bonn 1977, S. 8.

11 Jürgen Häusler, Der Traum wird zum Alptraum. Das Dilemma einer Volkspartei: Die SPD im Atomkonflikt, West Berlin 1988.

12 Hans-Joachim Bieber, Zur politischen Geschichte der friedlichen Kernenergienutzung in der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1977 (= Materialien zum Gutachten der Forschugsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Hg., Alternative Möglichkeiten für die Energiepolitik, Band 3).

13 Frank Haenschke, Modell Deutschland. Die Bundesrepublik in der technologischen Krise, Reinbek 1977.

14 Klaus Traube, Müssen wir umschalten? Von den politischen Grenzen der Technik, Reinbek 1978.

15 Radkau, Aufstieg, Siehe auch Fußnote 4. Die diesem Buch zugrundeliegende Habilitationsschrift wurde bereits 1981 eingereicht. Die veröffentlichte Fassung liegt seit 1983 vor.

16 Wolfgang D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Band I: Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, Band II: Auf der Suche nach dem Erfolg - Die Sechziger Jahre, Stuttgart 1996.

17 Wolfgang D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der DDR. (=Geschichte der Kernenergie in der Bundes- republik Deutschland, Band III: Kernforschung und Kerntechnik im Schatten des Sozialismus), Stuttgart 2001.

18 Markus Mohr, Die Gewerkschaften und der Atomkonflikt, Münster 2001.

19

Erstes Energieprogramm: Deutscher Bundestag, Drucksache 7/1057 vom 03.10.1973, Bonn 1973; Erste

Fortschreibung des Energieprogramms: Deutscher Bundestag, Drucksache 7/2713 vom 30.10.1974, Bonn 1974; Zweite Fortschreibung des Energieprogramms: Deutscher Bundestag, Drucksache 8/1357 vom

19.12.1977.

20 Bundesminister für Forschung und Technologie von 1972 bis 1974. Nachlass: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn (AdSD). Signatur 1/HEAA.

21 Bundesminister für Forschung und Technologie von 1974 bis 1978. Nachlass: AdSD, Noch nicht verzeichnet.

22 AdSD, Nachlass Helmut Schmidt, 1/HSAA.

23 Manfred Horn, Die Energiepolitik der Bundesregierung von 1958 bis 1972: Zur Bedeutung der Penetration ausländischer Ölkonzerne in die Energiewirtschaft der BRD für die Abhängigkeit interner Strukturen und Entwicklungen, Berlin 1977, S. 114.

24 Martin Meyer-Renschhausen, Das Energieprogramm der Bundesregierung. Ursachen und Probleme staatlicher Planung im Energiesektor, Frankfurt a. M./New York 1981, S. 5.

25 Ebenda.

26 Siehe hierzu Peter Schaaf, Ruhrbergbau und Sozialdemokratie. Die Energiepolitik der Großen Koalition 1966-1969, Marburg 1978, S. 59 ff.

27 Meyer-Renschhausen, Energieprogramm, S. 6.

28 Schaaf, Ruhrbergbau, S. 90.

29 Schaaf, Ruhrbergbau, S. 65.

30 Drummer u.a., Energiepolitik, S. 363 f.

31 Christoph Nonn, Die Ruhrbergbaukrise, Entindustrialisierung und Politik 1958 - 1969, Göttingen 2001, S. 298.

32 Ebenda, siehe auch: Drummer u.a., Energiepolitik, S. 364.

33 Horn, Energiepolitik, S. 256 f.

34 Drummer u.a., Energiepolitik, S. 365.

35 Schaaf, Ruhrbergbau, S. 269 f.

36 Ebenda, S.287 ff.

37 Schaaf, Ruhrbergbau, S. 346.

38 Schaaf, Ruhrbergbau, S. 339.

39 Drummer u.a., Energiepolitik, S. 366.

40 Ebenda.

41 Meyer-Renschhausen, Energieprogramm, S. 14 f.

42 Ebenda.

43 Radkau, Aufstieg, S.163 ff.

44 Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, Forschungsbericht I, Bonn 1965, S. 54 und Bundesministerium für Forschung und Technologie, Bundesbericht Forschung III, Bonn 1969, S. 41.

45 KKW Würgassen mit 670 MW, bestellt von Preußen Elektra am 23.10.1967, errichtet und fertiggestellt durch AEG am 31.01.1972; KKS Stade mit 660 MW, bestellt von Nordwestdeutsch Kraftwerke AG am 11.10.1967, erbaut und fertiggestellt durch Siemens im Januar 1972. Siehe Müller, Geschichte, Band II, S. 395 f.

46 Müller, Geschichte, Band II, S. 363 ff.

47 Das Atomprogramm der Bundesrepublik Deutschland 1963-1967, In: Wolfgang Cartellieri, Taschenbuch für Atomfragen 1964, Bonn 1964. S. 163 ff.

48 Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, Drittes Atomprogramm der Bundesrepublik Deutschland 1968-1972, Bonn 1968.

49 Siehe hierzu Radkau, Aufstieg, S. 216 f.

50 atw 12 (1967), S. 109.

51 Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.), 28.05.1966, „Kohlesubvention hemmt Atomwirtschaft“ und DIE ZEIT, 30.09.1966, „Brennstoff Atom“.

52 Radkau, Aufstieg, S. 202.

53 Vgl. hierzu Ebenda, S. 411 ff.

54 Müller, Geschichte, Band II, S. 345.

55 Ebenda, S. 349.

56 Radkau, Aufstieg, S. 210.

57 Ebenda.

58 atw 11 (1966), S. 353.

59 Handelsblatt, 13.10.1966, „Zukunft gehört der Kernenergie“.

60 Handelsblatt, 01.02.1967, „Starthilfe für Atomkraftwerke erwünscht“.

61 Die Welt, 19.04.1967, „Reaktorbauer sitzen in den Startlöchern“.

62 atw 11 (1966), S. 24.

63 Ebenda.

64 DIE ZEIT, 02.06.1967, „Papas Kraftwerk will nicht sterben“, vgl. hierzu Handelsblatt, 06.01.1967, „Gute Aussichten für die Atomenergie“.

65 F.A.Z, 13.12.1966, „Optimistisch für den Atomstrom“, sowie Generalanzeiger, 09.03.196, „Atomenergie ist wettbewerbsfähig“ und DER SPIEGEL Nr. 51/1967, S. 105.

66 Handelsblatt, 30.05.1967, „Atomenergie: Rückstand wächst“.

67 DIE ZEIT, 14.04.1967. „Atomschaden“, vgl. hierzu auch F.A.Z., 28.05.1966, „Kohlesubvention hemmt Atomwirtschaft“ und DIE ZEIT, 02.06.1967, „Papas Kraftwerk will nicht sterben“.

68 Radkau, Aufstieg, S. 123 ff.

69 Ebenda, S. 125.

70 Ebenda.

71 Ebenda, S. 126.

72 Die Welt, 13.12.1966, „Kerntechnik braucht zwei Milliarden“.

73 Radkau, Aufstieg, S. 212 f.

74 Ebenda, S. 214.

75 atw 12 (1967), S. 345. Siehe hierzu auch: Deutscher Bundestag, Verhandlungen des deutschen Bundestages,

5. Wahlperiode, 116. Sitzung am 28.06.1967, Bonn 1967.

76 KKW Würgassen mit 670 MW Leistung, bestellt von Preußen Elektra am 23.10.1967, errichtet und fertigge- stellt durch AEG am 31.01.1972; KKS Stade Leistung mit 660 MW, bestellt von Nordwestdeutsche Kraftwerke AG am 11.10.1967, erbaut und fertiggestellt durch Siemens im Januar 1972. Siehe Müller, Geschichte, Band II,

S. 395 f.

77 Vgl. hierzu Drummer u.a., Energiepolitik, S. 365 f.

78 Ebenda, S. 366 und Radkau, Aufstieg, S. 210.

79 Haenschke, Modell, S. 101.

80 Zitiert nach Radkau, Aufstieg, S. 427.

81 atw 11 (1966), S. 11. und atw 14 (1969), S. 65.

82 Karl G. Tempel, Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. (= Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin Hg., Politik in Schaubildern, Bd. 10), Berlin 1981, S. 18.

83 Radkau, Aufstieg, S. 426, Siehe hierzu auch: Haenschke, Modell, S. 92 f.

84 Siehe hierzu Jürgen Peter Pesch, Staatliche Forschungs- und Entwicklungspolitik im Spannungsfeld zwischen Regierung, Parlament und privaten Experten, untersucht am Beispiel der deutschen Atompolitik, (Diss.) Frei- burg 1975.

85 Radkau, Aufstieg, S. 426.

86 Zitiert nach Radkau, Aufstieg, S. 412.

87 Ebenda.

88 atw 11 (1966), S. 541 ff.

89 atw 15 (1970), S. 65.

90 z.B. F.A.Z., 23.04.1969 „Die Kerntechnik birgt Risiken“ und 14.05.1969 „Größt anzunehmendes Risiko“.

91 Battelle-Institut (Hg.), Bürgerinitiativen im Bereich von Kernkraftwerken, Bonn 1975. S. 54 ff. Vgl. auch

Shirley van Buiren, Die Kernenergie-Kontroverse im Spiegel der Tageszeitungen. Empirische Untersuchung im Auftrag des Bundesministers des Inneren. München / Wien 1980. S. 15 f.

92 Haenschke, Modell, S. 92 f.

93 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Hg.), Jahrbuch der SPD 1964/1965. Bonn 1965, S. 84.

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Die Kernenergiepolitik der SPD von 1966 bis 1977
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für neuere und neueste Geschichte)
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
113
Katalognummer
V3181
ISBN (eBook)
9783638119306
Dateigröße
1177 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kernenergiepolitik, Thema GAU
Arbeit zitieren
Christian Schaaf (Autor:in), 2002, Die Kernenergiepolitik der SPD von 1966 bis 1977, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3181

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Titel: Die Kernenergiepolitik der SPD von 1966 bis 1977



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