Hilde Spiels Wien(er)bild im Kontext des zweiten Weltkriegs und Exils


Seminararbeit, 2015

20 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Spiels frühe Jahre in Wien und ihr Bildungsweg

3. Spiels Exil in London

4. Spiels „Rückkehr nach Wien“ 1946

5. Exkurs: Eine österreichische Nationalliteratur?

6. Spiels Wien(er)bild in der Remigration

Quellenverzeichnis

Der wienerische Mensch macht alles falsch in seinem langen Leben.

Hilde Spiel, „Das literarische Wien“

1. Einleitung

Hilde Spiels Wien- und Österreichbild im Allgemeinen war seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der daraus folgenden Emigration ein zwiespältiges. Einerseits war für sie Wien ein sicherer kultureller Hafen, zu dem sie aus der Emigration immer wieder zurückkehrte, andererseits war es ein Ort voller antisemitischer Stimmungen und Gefahren, vor denen sie gezwungen wurde zu fliehen. Erst im Jahre 1963 entschloss sie sich, wieder nach Wien zurückzukehren und fortan hier zu leben. Ihre telegrammartigen Tagebuchaufzeichnungen von 1946, die sie in einem BBC – Kalender verfasste und der sich heute im Besitz des Österreichischen Literaturarchivs befindet, offenbaren ihre nicht selten pathetischen Gefühle über die Rückkehr nach Wien: „Heiligenstadt unchanged. Walked in sinking light. Heartbreak beyond words.“[1] Sie hat sich wohl zeitlebens mit keinem anderem Thema derart intensiv wie mit Wien auseinandergesetzt und dies in allen möglichen Facetten; sei es in kultureller, gesellschaftlicher oder geschichtlicher Hinsicht. Zahlreiche Artikel und Bücher, in denen „Wien“ explizit in den Titeln erwähnt wird, beweisen dies. Die aus dem Englischen übersetzten Artikel in „Glanz und Untergang – Wien 1866 – 1936“, der von ihr herausgegebene und maßgeblich verfasste Band „Wien – Spektrum einer Stadt“ mit Beiträgen von u. a. Friedrich Achleitner und Hans Weigel und unzählige Essays und Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften seien als Beispiele erwähnt. Auch in ihrem Opus Magnum, „Fanny von Arnstein“, spielt Wien zur Zeit des Wiener Kongresses eine zentrale Rolle. Vor allem die Zeit um 1900 mit ihren weltweit einzigartigen kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften erweckte ihr Interesse. „Um die Jahrhundertwende wurde in Wien, wie längst erkannt, so gut wie jede neue und folgenreiche Theorie im Bereich der Kunst und Wissenschaft begründet oder entscheidend weiterentwickelt […].“[2] Sie war eine faszinierte Bewunderin der Werke Doderers, dem „besten modernen Kenner des homo viennensis“[3], der für sie als bester österreichischer Autor galt.

Diese Arbeit versucht, die verschiedenen Perspektiven von Hilde Spiels Wienbild (und der Wiener) zu untersuchen, die zwischen persönlicher Meinung, künstlerischer Betrachtung und wissenschaftlicher Analyse wechseln und geht in einem Exkurs der Frage nach, ob es in Spiels Verständnis eine spezifische österreichische Nationalliteratur gibt.

2. Spiels frühe Jahre in Wien und ihr Bildungsweg

Hilde Spiels Wurzeln und jenes ihrer Familie liegen im heutigen 19. Wiener Gemeindebezirk; hier wuchs sie auf und verlebte die glücklichste Zeit ihres Lebens, wie sie in ihren Autobiographien „Die hellen und die finsteren Zeiten“ und „Welche Welt ist meine Welt?“ preisgibt. Damals galt die Gegend noch als Dorf, Sievering; erst später wurden die Dörfer der Stadt Wien unter Döbling eingemeindet. Es war eine mehr ländliche als städtische Umgebung und sie wuchs trotz schwerer und entbehrungsreicher Zeiten relativ wohlbehütet auf. Als Kind assimilierter jüdischer Eltern (der Vater trat als Student dem Katholizismus bei), wurde sie früh in der Schule mit christlichen Idealen vertraut gemacht, die in einigen Belangen jüdischen Traditionen entgegenstanden, die sie von ihrer Großmutter kannte.

Ich wuchs mit den anderen Kindern in der Heiligenstädter Volksschule im Ablauf der christlichen Feste auf, ging zur Weihnachtskrippte, zur ersten Kommunion, zu den Maiandachten, den Fronleichnamsprozessionen. Nur eines verstand ich nicht. Wenn ich mit meiner Großmutter Laura in der Inneren Stadt spazierte, schien es sie zu stören, dass ich vor jeder der vielen Kirchen das Kreuz schlug. Ob das sein müsse, hat sich mich einmal gefragt.[4]

Religion spielte in ihrer Familie keine bedeutende Rolle; erst später, durch die Grauen des 2. Weltkriegs wurde ihr bewusst, welch wichtige Rolle das Jüdische für viele bekommen sollte. Bereits in ihrer Kindheit wehte der Hauch des Antisemitismus und des Rassismus, auch unter den Kindern, die vor ihr den jiddischen Sprech nachäffen. „Vorahnung künftiger Schrecken – und für mich, die eines Tages freiwillig ins Exil gehen wird, vielleicht schlimmer als sie. Ich habe jenen Augenblick nie vergessen […].“[5] Sie maturierte in der reformatorischen Schwarzwaldschule und im Herbst 1930 begann sie ihr Studium.

Ein entscheidender Tag für ihren weiteren Lebensweg war, als sie mit 17 Jahren erstmals an einem Intellektuellenzirkel in einem Kaffeehaus teilnahm. Im Café Herrenhaus verkehrten Philosophen, Literaten und Psychologen, die sich zusammentrafen und tagesaktuelle Themen und Probleme diskutierten. Hier traf sie Literaten wie Elias Canetti und Robert Neumann, der in ihrem „Leben eine Rolle spielte, denn er war es, der mein erstes Buch zu Scheuner [Verlag, Anm.] brachte“[6]. Im Frühjahr 1933, mit 21 Jahren, veröffentlichte sie ihren ersten Roman im Zsolnay Verlag; das Buch wurde für den Julius – Reich – Preis vorgeschlagen, dem damals einzigen öffentlichen Literaturpreis der Stadt Wien; sie musste sich aber Friedrich Torbergs „Der Schüler Gerber“ geschlagen geben. Es war der Beginn einer lebenslangen Feindschaft. Prägend für ihren weiteren Bildungsweg war vor allem ihre Begegnung mit dem Psychologenpaar Bühler, die psychologische Experimente durchführten und bei denen sie 1936 mit Auszeichnung zum Doktor der Philosophie promovierte. Über den Beginn ihres Studiums schrieb sie: „Sehr bald verwarf ich die anfangs erwählte Germanistik, hörte Vorlesungen über Kunst- und vergleichende Religionsgeschichte und schrieb mich schließlich in die Vorlesungen von Moritz Schlick und Karl Bühler.“[7] Durch Schlicks positivistische philosophische Methode, die mehr naturwissenschaftlich war als spekulativ philosophisch, sah sie ein, „dass man die Lösung der sogenannten Welträtsel lieber der Naturwissenschaft überlässt“[8]. Nebenbei arbeitete sie von 1933 bis 1935 an der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle an der Universität Wien und sie verfasste für die „Neue Freie Presse“ erste Kurzgeschichten und Essays. Das Studium, bis auf die Vorlesungen von Moritz Schlick, die sie gerne besucht, nimmt sie nicht allzu ernst („Wann habe ich eigentlich studiert.“[9] ); vielmehr konzentriert sie sich auf ihre literarische und essayistische Laufbahn.

Die Jahre vor dem drohenden Anschluss Österreichs waren, nicht verwunderlich, keine schöne Periode: „[…] eine verschwommene, verschmierte Zeit habe ich einmal die letzten Jahre vor dem Anschluss genannt.“[10] Viele Menschen, vor allem Intellektuelle, gehen, noch legal, ins Exil; so auch Hilde Spiel mit ihrem zukünftigen Mann Felix de Mendelssohn. „Dass ich Österreich noch im Herbst [1936, Anm.] verlassen will, steht schon lange fest.“[11] Über Frankreich geht es per Schiff nach Großbritannien und von Newhaven per Zug nach London. „Es roch nach Rauch und Virginiatabak, nach Lucky – Strike Zigaretten wie in der Pariser Métro, aber doch anders, ganz anders, wahrhaft fremd.“[12]

3. Spiels Exil in London

Es war kein leichter Schritt für Hilde Spiel, ihr so vertrautes Österreich zu verlassen und nach London ins Exil zu ziehen; zumal die Gräueltaten der Nazis noch nicht wirklich begonnen hatten und Wien noch verhältnismäßig sicher war für Juden. Sie empfand den Auszug aus Österreich als großen persönlichen Verlust. „Das, was ich verloren hatte, war Österreich, die Summe meiner noch so kurzen Erinnerung […]. […] Mit fünfundzwanzig verließ ich mein Land, wollte nun in London leben, aus Abscheu und Abwehr gegen den Hahnenschwänzlerstaat.“[13] Spiel hat sich im Londoner Exil, im physischen „äußeren Exil“, nie wirklich heimatlich und daher wohl gefühlt, sie war aber „bestrebt, möglichst schnell Eingang in die englische Kultur und Gesellschaft zu finden“[14]. Die Konsequenz dieses Unwohlseins führte dazu, dass sie sich zeitweise in ein geistiges „inneres Exil“ flüchtete. Dies bedeutete vor allem, dass sie sich gleichzeitig mit der Auseinandersetzung des Englischen auch intensiv mit der Österreichischen und Wienerischen Kultur, Gesellschaft und Geschichte auseinandersetzte. Etliche Essays für englische Zeitung und Zeitschriften erschienen in dieser Zeit und sie verfasste einen historischen Roman, „Die Früchte des Wohlstands“, der zur Zeit der Wiener Weltausstellung spielt. Sie wollte dadurch „[…] weg aus der Zeit und aus dem Raum und weil ich mir einen Freiraum schaffen wollte.“[15] Spiel emigrierte zwar im Herbst 1936 „freiwillig“ und legal nach England, ihr eigentliches Exil begann aber in ihren eigenen Worten erst mit dem ‚seligen Einmünden der Nahezu-Nazis ins Dritte Reich‘[16] ; also jener Zeitpunkt, an dem es ihr unter Todesgefahr tatsächlich unmöglich war, nach Österreich zurückzukehren und dort zu leben.

Es war ihr ein großes Anliegen, in ihrer neuen Lebenswelt Fuß zu fassen und idealerweise auch im Englischen einen eigenen sprachlichen Stil zu finden. Als sie einsah, „[…] dass ihre für ein deutschsprachiges Publikum geschriebene Literatur in England keinen großen Anklang fand, entschied sie sich für ein Wagnis: Sie beschloss, in Zukunft in Englisch zu schreiben.“[17] Eine Konsequenz daraus war, dass sie versuchte, sich von deutschsprachigen Literaten und Intellektuellen zu distanzieren und sich mit Englischsprachigen zu umgeben. Mit den Jahren musste sie allerdings feststellen, dass sie, trotz der großen Wertschätzung gegenüber der britischen Kultur und Lebensart, sich dieser nie wirklich zugehörig fühlte. „Selbst gute Bekannte und Freunde ließen sie bei Kriegsende deutlich spüren, dass sie zwar ‚in England‘, aber nicht ‚of England‘ war.“[18] Trotzdem fühlte sie sich in England wohl und den Umständen entsprechend sicher, da sie von den Behörden stets korrekt behandelt wurde. „Die Engländer waren keine Engel – aber der Grundton im Umgang, in der Behandlung des Mitmenschen war immer anständig, wohlwollen, höflich.“[19]

Vieles, was sie über Wien (und Österreich) wusste und über die Wiener Seele (und österreichische Seele) zu spüren vermeinte, kam von der Lektüre der von ihr hochgeschätzten Werke Doderers („seine ‚Strudlhofstiege‘ gab mir ein so vertrautes Gefühl für diese Stadt“[20] ), dessen Werk sie in England entdeckte. Sie war mit ihm auch freundschaftlich verbunden und stand in ihrer Londoner Zeit in regem brieflichem Kontakt mit ihm (in einigen Briefen nennt Doderer sie vertraulich „Hilderl“[21] ). Sie schreibt brieflich an ihm: „Ich wollte, mit einem Wort, der Roman [i.e. „Die Dämonen“; Anm.] würde länger und länger, ein vollendeter Spiegel Österreichs und seiner Gesellschaft.“[22] Sie gibt in einem Brief aus London vom Juni 1951 an dem Kabarettisten Fritz Feldner selbst zu, dass sie wegen der unglaublichen Qualität seiner Werke ihm vieles, unter anderem seine zeitweilige Sympathie mit den Nazis, verziehen hat: „Im Übrigen hätte ich ihm wohl auch verziehen, wenn er Schlimmeres getan hätte. Verzeihen müssen. Denn sein Buch [i.d. „Die Strudlhofstiege“, Anm.] geht mir in einer Weise nahe, wie noch nie eines, einfach weil es auf das diffizilste wachruft, was mir das Wichtigste im Leben ist: Erbgut und Kindheit in Wien.“[23] Es waren wohl vor allem die Romane und Werke Doderers, hierbei in erster Linie „Die Strudlhofstiege“, die ihr die Stadt aus der Entfernung nahe brachten.

Mich hat dieses Buch so erschüttert, so in allen Fasern ergriffen, so aufgerührt in meiner grenzenlosen Liebe zu Wien, die mit den Jahren und mit der Entfernung immer – ich möchte fast sagen – ärger wird wie eine Krankheit, dass ich ihm wehrlos gegenüber stehe.[24]

Die intensivierte Auseinandersetzung mit ihrer alten Heimat Österreich kann sicherlich auch als Versuch verstanden werden, sich von der „‘Krankheit Exil‘ - ein Begriff, den sie bei einer Tagung 1975 selbst prägte“[25], wenn schon nicht zu heilen, so doch zumindest die Symptome zu lindern. Diese „Krankheit des Exils“ betraf ihrer Meinung nach all jene, die fest verwurzelt waren in ihrer alten Heimat und sich in neuen Lebensumgebungen nicht wohl fühlten und sich nur schwer oder gar nicht anpassen konnten. „Bei manchen war es vielleicht Charakterschwäche, bei anderen der Mangel an Disziplin, wieder bei anderen die absolute Unfähigkeit, an einem anderen Ort sesshaft und heimisch zu werden.“[26] Ihr ganz persönliches Heimatgefühl drückt sie in einem Interview in poetischen Worten aus:

[…] eine geschwunge Kontur, das verblaßte Schild eines Vorstadtladens mit der Aufschrift „Zum heiligen Florian“, eine sattgrüne Wiese im Salzburgischen ganz mit Löwenzah übersät, ein Sonntagmorgen mit hellem Lichteinfall im Musikvereinssaal oder auch ein einziger übermächtiger Augenblick, ein Stück festgebannter Vergangenheit, Sommerhitze in einem Döblinger Garte, völlige Stille, Küchengeruch aus dem Haus und ein Gefühl unendlicher Geborgenheit, völligen Ausgesöhntseins mit dem Schicksal, sich auf dieser Welt zu befinden.[27]

Wenngleich sie zutiefst enttäuscht war von den Gräueltaten der österreichischen und deutschen Nationalsozialisten und nach Kriegsende 1945 „nicht fähig war, den Menschen, die gerade noch Nazis gewesen, gegenüberzutreten“, begann sie sich doch „bald danach dafür zu interessieren, was aus Österreich geworden war“[28]. In London konnte sie durch journalistische Publikationen ganz gut verdienen; finanzielle Engpässe waren wohl kein Grund, zurück nach Österreich zu kehren; vielmehr vermisste sie Stimmung und die Lebensart der alten Heimat. Sie musste sich also für ihren zukünftigen Lebensort entscheiden, da die „Alternative London oder Wien gegen Ende der fünfziger Jahre immer drückender“[29] wurde. Was ihr an Großbritannien vor allem missfiel, war die Hochnäsigkeit der Briten den Kontinentaleuropäern gegenüber.

Eine Schwierigkeit für sie bestand vor allem darin, dass sie sich eine neue Sprache aneignen musste und zwar derart, um qualitätsvolle Romane und Essays, eine typische britische Disziplin und sicherlich Spiels Steckenpferd, schreiben zu können. Zwei wichtige Kriterien spielten hierbei für sie zentrale Rollen: „Erstens, den Wortschatz und die Syntax nicht zu überschreiten, die man in dem betreffenden Augenblick ohne Anstrengung beherrscht, und zweitens, den eigenen Gedankengang niemals aus dem einen in das andere Idiom zu übersetzen.“[30] Besonders mit dem zweiten Kriterium hatte sie Schwierigkeiten, da sie vor allem in der Anfangszeit in England vorerst mit „nahezu wörtlichen Übersetzungen“ aus dem Deutschen ins Englische arbeitete. Diese Vorgehensweise erleichterte es ihr wiederum, ihre auf Englisch verfassten Texte ins Deutsche zu übersetzen.[31]

Trotz des Versuchs des kompletten Einlebens in die englische Gesellschaft fühlte sie sich mit den Jahren zunehmend entfremdet von England, denn „Selbst gute Bekannte und Freunde ließen sie bei Kriegsende deutlich spüren, dass sie zwar ‚in England‘, aber nicht ‚of England‘ war.“[32] Gleichzeitig fühlte sie sich aber von Österreich entfremdet; so galt es, eine endgültige Entscheidung über ihre zukünftige Heimat zu fällen.

Mitte der 1950er Jahre stand sie in London in besonders intensivem Kontakt mit Doderer, dessen Werke ihr Wien so nahe brachten. Sie sendeten einander ihre Werke zu und baten um die Meinung des anderen. Für Hilde Spiel war es eine große Ehre, die Werke des wohl bedeutendsten österreichischen Schriftstellers seiner Zeit vorab lesen zu dürfen und ihm Ratschläge zu erteilen. Ihm vertraute sie auch ihre seit den 1960ern erschwerte Situation in London an, in dessen Folge sie an eine endgültige Rückkehr nach Österreich dachte. „Ich habe es schwer im Augenblick […]. Es ist möglich, dass in diesem Sommer doch diese oder jene schwerwiegende Entscheidung fällt.“ Damit war ihre Rückkehr nach Österreich gemeint.

4. Spiels „Rückkehr nach Wien“ 1946

Hilde Spiels Zeit im englischen Exil währte vom Herbst 1936 bis zum Sommer 1963, also 27 Jahre. Nach zehn Jahren in der Emigration kehrte Spiel aber schon im Jänner 1946 als „War Correspondent“ für die linksliberale Zeitung „New Statesman“, für die sie seit zwei Jahren Essays und Kritiken verfasste, erstmals seit ihrer Emigration nach Wien zurück. „[…] Ende Januar, kann ich, vom New Statesman akkreditiert, in Khaki eingekleidet, das Streifband mit der nicht mehr zutreffenden Bezeichnung ‚War Correspondent‘ an der Schulter, in Croydon eine zerbeulte Dakota besteigen, die mich über Brüssel und Frankfurt nach Wien bringen wird.“[33] Sie hat die Redaktion ausdrücklich darum gebeten, als Auslandskorrespondentin in Wien arbeiten zu dürfen, auch um alte Bekannte und Verwandte wieder zu sehen, sofern sie überlebt haben und um sich selbst ein Bild davon zu machen, wie Wien die Kriegszeiten durchlebt hatte. Sie erhielt den Auftrag, in knapp einem Monat „Reportagen über die soziale und politische Situation im befreiten Österreich zu liefern.“[34] Aus dieser Zeit stammt das 1968 erschienene Tagebuch „Rückkehr nach Wien“, in dem sie ihre Erlebnisse und Eindrücke in Wien zwischen dem 29. Jänner bis zum 7. März festhielt. Auf die Frage, wie es für sie war, das zerstörte Wien nach 10 Jahren Exil wiederzusehen, antwortet sie:

Begleitet von sehr gemischten Gefühlen. […] Dort erschütterten mich weniger die Bombenschäden als die völlige Verelendung der Bevölkerung. Ich war nicht frei von Ressentiments. Gerade weil es meine Vaterstadt war, versuchte ich, hinter die Kulissen zu schauen.[35]

In einem TV Interview in der vom ORF produzierten Reihe „Zeitzeugen“ sprach sie gar von einer „Schizophrenie“[36] der Gefühle und auch in einem Interview spricht sie von „einem wirklich schizophrenen Gefühl“[37], das sie spürte. Damit meinte sie wohl die unangenehme und eigentümliche Diskrepanz, in ihrer alten Heimat für den früheren Feind in britischer Uniform zu arbeiten. Sie war ja fast zeitlebens hin und hergerissen, was nun ihre Heimat sei: London oder Wien, und diese Identitätskrise erreichte während ihrer Rückkehr wohl ihren Höhepunkt.

Die Stadt hatte nichts mehr von dem Glanz früherer Tage, die sie in ihrer Erinnerung hatte; sie glich durch die zahlreichen Zerstörungen des 2. Weltkriegs einem Trümmerhaufen. Als sie die zerstörte Stadt sieht, wird ihr bewusst, „[…] daß von nun ab jeder meiner Wege von Erinnerungen beschattet sein wird. Unvermeidlich werde ich meine Kindheit verklären […].“[38] Sie möchte aber nicht sentimental werden, sondern einen möglichst nüchternen Bericht der Situation vom Nachkriegswien beschreiben. „Aber ich bin nicht gekommen, um mein früheres Leben zu beweinen.“[39] Nicht sentimental, jedoch persönlich und analytisch, versucht sie dem Leser die Zustände des Ortes und der Zeit zu schildern. Sehr schnell wird ihr klar, dass die antisemitische Stimmung durch die Kapitulation des Deutschen Reiches nicht verschwunden ist und es kommt ihr zu „[…] Bewusstsein, hier nicht mehr herzugehören […]“[40]. Sie musste auch feststellen, „[…] dass ein Anknüpfen an die Zeit vor 1938 nicht möglich war“[41]. Dieses Bewusstwerden enttäuscht sie, da somit an eine längerfristige Rückkehr (noch) nicht zu denken ist. Sie ist zerrissen zwischen verklärter Erinnerung und bitterer Gegenwart; es stimmt sie aber freudig, dass die Wahrzeichen der Stadt, allen voran der Stephansdom, „dem geheimnisvollsten Bauwerk Wiens“[42], von den Bomben weitestgehend verschont geblieben sind. Mehr noch als die Zerstörung der Stadt erschüttert sie das Elend der Bevölkerung; sie versucht aber, sich zu zügeln und den persönlichen Gefühlen nicht zu viel Raum lassen. „Aber ich bin nicht gekommen, um mein früheres Leben zu beweinen.“[43]

Besonders intensive Gefühle kommen in ihr auf, als sie Heiligenstadt besucht („Einmal brach ich zusammen bei meiner ersten Rückkehr nach Wien, am Heiligenstädter Pfarrplatz“[44] ), wo sie ihre Kindheit und Jugend verlebt hattt und wo die Familie mütterlicherseits seit Generationen lebte. „In all den Seitengassen wurde Familiengeschichte gemacht.“[45] Es ist dies jener Ort, nach dem sie in London am meisten Heimweh hatte. „Wann immer ich in den zehn Jahren meiner Abwesenheit Heimweh hatte, war es nach diesem Ort.“[46] Verdrängte Erinnerungen kommen hoch und psychoanalytisch sieht sie ein, „dass angestaute Gefühle, jahrelang unterdrückt […] aller Kummer um die Erniedrigung meiner Heimat, alle Sorge um meine Kindheit im Krieg, aller Schmerz um den Tod meines Vaters“[47] hervortreten. Auf die Frage, was Heimat für sie bedeutet, antwortet sie:

Das ist das, was der Hofmannsthal ein bisschen fragwürdig den ‚geistigen Raum der Nation‘ genannt hat. Es ist die Summe der künstlerischen und geistigen Hervorbringungen, und es sind Orte. Hier in Heiligenstadt habe ich mich immer zu Hause gefühlt, an diesem kleinen Platz um die Ecke von der Vogelgasse, in der ich aufgewachsen bin – hier habe ich ein ganz starkes Heimatgefühl. Heimat ist zweierlei: etwas sehr Reales und etwas Ideelles.[48]

Sie schreibt in ihrer ersten Autobiographie „Die hellen und die finsteren Zeiten“ vom „Paradies der Probusgasse“[49], aus dem sie vertrieben wurde; derart stark hat sie zeitlebens ihre Kindheit im 19. Wiener Bezirk wahrscheinlich verklärt und dies ist wenig verwunderlich, wenn man in Betracht zieht, dass sie 2 Weltkriege miterleben musste.

[...]


[1] Hilde Spiel – Weltbürgerin der Literatur. Hg. Neunzig, Hans A. und Schramm, Ingrid. Zsolnay Verlag. Wien. 1999. S. 82.

[2] Spiel, Hilde: Glanz und Untergang – Wien 1866 – 1938. List Verlag. München. 1988. S. 126.

[3] Spiel, Hilde: Die Dämonie der Gemütlichkeit. Hg. Neunzig, Hans A.. List Verlag. München. 1991. S. 15.

[4] Spiel, Hilde: Die hellen und die finsteren Zeiten – Erinnerungen 1911 – 1946. List Verlag. München. 1989. S. 32.

[5] Ebd. S. 33.

[6] Hilde Spiel – Die Grande Dame. Gespräche mit Anne Linsel. Hg. Hermann, Ingo. Lamuv Verlag. Göttingen. 1992. S. 27.

[7] Spiel, Hilde: Die hellen und die finsteren Zeiten. S. 73.

[8] Hilde Spiel – Die Grande Dame. S. 18.

[9] Spiel, Hilde: Die hellen und die finsteren Zeiten. S. 121.

[10] Ebd. S. 103.

[11] Ebd. S. 145.

[12] Ebd. S. 147.

[13] Spiel, Hilde: In meinem Garten schlendernd. Essays. Nymphenburger Verlag. München. 1981. S. 14.

[14] Wiesinger – Stock, Sandra: Hilde Spiel – Ein Leben ohne Heimat? Verlag für Gesellschaftskritik. Wien. 1996. S. 64.

[15] Howells, Christa Victoria: Heimat und Exil: Ihre Dynamik im Werk von Hilde Spiel. Bell & Howell. Michigan. 1994. S. 241.

[16] Wiesinger – Stock, Sandra: Hilde Spiel – Ein Leben ohne Heimat? S. 64.

[17] Ebd. S. 65.

[18] Ebd. S. 87.

[19] Hilde Spiel – Die Grande Dame. S. 39.

[20] Spiel, Hilde: In meinem Garten schlendernd. S. 15.

[21] Vgl. z.B. Spiel, Hilde: Briefwechsel. S. 192.

[22] Spiel, Hilde: Briefwechsel. Hg. Neunzig, Hans A.. List Verlag. München. 1995. S. 76.

[23] Ebd. S. 27.

[24] Ebd. S. 26.

[25] Ebd. S. 89.

[26] Hilde Spiel – Die Grande Dame. S. 49.

[27] Ebd. S. 54.

[28] Ebd. S. 90ff.

[29] Hilde Spiel – Weltbürgerin der Literatur. Hg. Neunzig und Schramm. S. 19.

[30] Howells, Christa Victoria: Heimat und Exil. S. 160.

[31] Aus „The Darkened Room“, wahrscheinlich eine Anspielung auf Virginia Woolfs „A Room Without a View“, über welches sie einen Essay verfasste, wurde in der deutschsprachigen Übersetzung „Lisas Zimmer“.

[32] Wiesinger – Stock, Sandra: Hilde Spiel – Ein Leben ohne Heimat? S. 87.

[33] Spiel, Hilde: Welche Welt ist meine Welt? Erinnerungen 1946 – 1989. List Verlag. München. 1990. S. 222.

[34] Wiesinger – Stock, Sandra: Hilde Spiel – Ein Leben ohne Heimat? S. 92.

[35] Hilde Spiel – Die Grande Dame. S. 72ff..

[36] Vgl. Wiesinger – Stock, Sandra: Hilde Spiel – Ein Leben ohne Heimat? S. 93.

[37] Spiel, Hilde: Rückkehr nach Wien. Ein Tagebuch. Milena Verlag. Wien. 2009. S. 73.

[38] Ebd. S. 21.

[39] Ebd. S. 21.

[40] Ebd. S. 24.

[41] Wiesinger – Stock, Sandra: Hilde Spiel – Ein Leben ohne Heimat? S. 176.

[42] Spiel, Hilde: Die Dämonie der Gemütlichkeit. S. 16.

[43] Spiel, Hilde: Rückkehr nach Wien. S. 21.

[44] Spiel, Hilde: Welche Welt ist meine Welt? S. 8.

[45] Spiel, Hilde: Rückkehr nach Wien. S. 50.

[46] Ebd. S. 53.

[47] Ebd. S. 54.

[48] Hilde Spiel – Die Grande Dame. S. 54.

[49] Spiel, Hilde: Die hellen und die finsteren Zeiten. S. 36.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Hilde Spiels Wien(er)bild im Kontext des zweiten Weltkriegs und Exils
Hochschule
Universität Wien  (Vergleichende Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Remigration, Gender, Generation
Note
2
Autor
Jahr
2015
Seiten
20
Katalognummer
V317290
ISBN (eBook)
9783668163126
ISBN (Buch)
9783668163133
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hilde Spiel, Feminismus, Wien, Exilliteratur, Gender
Arbeit zitieren
Siawasch Aeenechi (Autor:in), 2015, Hilde Spiels Wien(er)bild im Kontext des zweiten Weltkriegs und Exils, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/317290

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