Gerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit. Zwei Essays zu Indien


Essay, 2014

12 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Grundrechte in Indien – Ideale und Wirklichkeiten

Vor wenigen Wochen erschütterte ein weiterer, grausiger Vergewaltigungsfall aus Indien die westliche Medienlandschaft: Zwei minderjährige Mädchen waren anscheinend von einer Gruppe von Männern missbraucht und anschließend an einem Baum erhängt worden – ein Akt dem Polizei und Staat zunächst mit kalter Gleichgültigkeit begegneten1. Besonders brutale Fälle lösen auch in der indischen Öffentlichkeit Empörung aus, für einen Großteil interessiert sich jedoch kaum jemand. Fraglos besteht ein Zusammenhang mit der Diskriminierung von Frauen, aber es steckt noch mehr dahinter: caste beats gender – entscheidender als das Geschlecht der Opfer ist ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der dalits, der „Unterdrückten“, die außerhalb des Kastensystems und damit ganz unten in der Hackordnung der indischen Sozialhierarchie stehen. Im krassen Gegensatz dazu steht die 1950 in Kraft getretene indische Verfassung, deren Grundrechtekatalog allen Bürgern Gleichheit vor dem Gesetz und Nichtdiskriminierung aufgrund von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht oder Herkunft zusichert. Der Fall der erhängten Mädchen steht damit exemplarisch für eine gesamte Bevölkerungsgruppe, deren Grundrechte mit Füßen getreten werden. Wie kann das sein? Ist Indien etwa noch zu unterentwickelt für eine moderne Rechtsordnung?

Meine Meinung zum Thema Grundrechte in Indien ist auf Goethe-artige Weise schizophren: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust – nenne wir sie die Kulturrelativistin und die Menschenrechtlerin. Vor allem die Kulturrelativistin fühlt sich durch normative Thesen der Unterentwicklung Indiens provoziert, wie sie zum Beispiel in Pressebeiträgen der eher unreflektierten Sorte anzutreffen sind. Die Erklärung für Ungerechtigkeiten in der angeblichen Rückständigkeit einer Gesellschaft zu suchen, entlarvt eine ethnozentrische Perspektive und einen elementaren Mangel an Verständnis für die Kulturgebundenheit von Werten. Hinter der Behauptung, Indien sei „noch zu unterentwickelt“ steckt die Vorstellung einer Art kulturellen Evolution, an deren Anfang die komplette Barbarei steht und deren Ziel und Endpunkt unsere eigene, „moderne“ Gesellschaftsform ist... Wir sind die Krone der Schöpfung, welch wohliges Gefühl! Aber wer definiert eigentlich, was entwickelt und damit überlegen ist? Um wessen Ideale geht es hier eigentlich? Natürlich um die der sogenannten westlichen Welt, von denen wir oft wie selbstverständlich annehmen, sie seien die beste Option für alle anderen. Doch wer das tut, macht auch seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit zum universellen Maßstab. Ethnozentriker und Fortschrittsgläubige, ihr maßt euch eine Deutungshoheit an, die euch nicht im Mindesten zusteht! Ohne über euren eigenen Tellerrand zu gucken, könnt ihr nicht mal ansatzweise verstehen, was ein genuin indisches Gerechtigkeitsverständnis sein könnte...

An dieser Stelle könnte die Gegenseite genervt einwenden, ob es nicht reichte, sich den bereits erwähnten Grundrechtekatalog der indischen Verfassung anzuschauen, einer Verfassung, die schließlich im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung von Indern für Inder verfasst worden ist. Als vermeintlichen Trumpf könnte sie die Lichtgestalt Gandhi ins Feld führen, der an eben dieser Verfassung mitwirkte und zeitlebens gegen die Diskriminierung der „Unberührbaren“ kämpfte – auch er, zweifellos ein Inder! Emischer geht’s nicht! Tatsächlich!? Vergleicht man die indische Verfassung mit dem deutschen Grundgesetz fällt eine frappierende Ähnlichkeit auf. Ebenso ergeht es einem, wenn man diese beiden mit der Charta der Menschenrechte vergleicht, die 1789 aus der französischen Revolution hervorging, und gleich im ersten Artikel festschreibt: Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Wie es aussieht bedienen sich sowohl Deutsche, als auch Inder bei ihrer Gesetzgebung großzügig am Gedankengut der Aufklärung. Und nicht nur an diesem: dass gleiche Regeln und Gesetze für alle Menschen gelten sollen, ist auch eines der Grundprinzipien des Christentums, das mit seinen Zehn Geboten eben solche allgemein gültigen und für alle verbindlichen Regeln aufstellt. In Bezug auf das Grundgesetz haben diese Wurzeln zweifellos eine geschichtliche Bedingtheit, während die indische Verfassung eher wie ein Importprodukt aus dem Westen wirkt. Gandhi hat schließlich in London studiert...

Wie groß tatsächlich die Kluft ist, die sich zwischen der westlich geprägten Verfassung und den wahrhaft indischen Werten auftut, erkennt man nicht an der Oberfläche. Da oben lässt sich die Welt zwar so schön einfach in gut und böse einteilen, liebe Ethnozentriker und Fortschrittsgläubige, aber was entgeht euch nicht alles! Wenige Dinge sind so faszinierend, wie die Grundprinzipien hinduistischer Weltanschauung. Da gibt es dharma, das kosmische Gesetz, das jedem Menschen seinen Platz in der Gemeinschaft zuweist. Solange jeder seine Rolle akzeptiert, leben sie in Harmonie; wird hingegen das kosmische Gesetz verletzt, herrscht Unfrieden. Was genau diese Rolle ausmacht wird spezifiziert durch den persönlichen svadharma, der abhängig ist von historischer Epoche, Lebensphase, Charakter und nicht zuletzt von varna und jati. Der svadharma legt also fest, was für den individuellen Menschen bzw. für Subgruppen in der Gesellschaft als richtiges und falsches Handeln gilt. Da die Menschen durch das kosmische Gesetz ungleich sind, kann es zwangsläufig keine allgemein gültigen Regeln und Gesetze geben! Dieser ethische Relativismus steht im krassen Gegensatz zur westlich-christlichen Gerechtigkeitsvorstellung, die sich auf die Prämisse der Universalität stützt. Wie wirkt sich nun diese Logik auf das indische Gerechtigkeitsverständnis aus? Im Hinblick darauf gilt es noch ein weiteres Grundprinzip zu beachten: karma, den ewigen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt in eine neue Existenz. Diesem Kreislauf ist ein Hindu aber nicht machtlos ausgeliefert. Durch richtiges Handeln, also Handeln gemäß seinem svadharma, kann er sich die Wiedergeburt in eine bessere Existenz erarbeiten. Im Gegensatz dazu wird er für schlechte Taten mit mieseren Umständen im nächsten Leben bestraft, zum Beispiel indem er als dalit wiedergeboren wird oder, wenn es ganz schlimm kommt, sogar als bewegungsloser Stein. Man kann sich karma als gewaltiges Punktespiel vorstellen: Wer die Regeln verletzt und durch schlechte Lebensweise Punkte verliert, wird in der nächsten Runde bestraft; wer hingegen seinen Platz akzeptiert und sich angemessen verhält kommt weiter. Ziel des Spiels ist moksha, die Befreiung aus dem Kreislauf und endgültige Erlösung von der materiellen Welt. Gerade Un gleichheit ist zwangsläufig gerecht, da jeder genau das bekommt, was er verdient.

Eine zwingende Logik – und außerdem eine Jahrtausende alte, die tief in der indischen Psyche und Kultur verankert ist. Ist es daher noch besonders verwunderlich, wenn die in der Verfassung festgeschriebene Gleichstellung nicht umgesetzt wird? Natürlich nicht. Eine Verfassung, die eindeutig nicht zu den überlieferten Werten passt, kann keiner Ernst nehmen: Gleichheit und Ungleichheit schließen einander aus – was könnte offensichtlicher sein? Würde die Kulturrelativistin allein meinen Standpunkt bestimmen, wäre die logische Konsequenz: Dem Westen die Grundrechte, den Indern ein anderes, ihrer Kultur entsprechendes Regelwerk, das auf der Vorstellung der verdienten Ungleichheit basiert. Unser eigenes Gerechtigkeitsverständnis ist nicht das Maß aller Dinge, sagt sie ganz laut: Das eigene Ideal als Maßstab nehmen – normativ; nur von der eigenen Wirklichkeit ausgehen – ethnozentrisch. Es gibt so viele verschiedene Ideale und Wirklichkeiten! Und wer weiß, vielleicht wird der Regeln-brechende Hindu ja tatsächlich als Stein wiedergeboren...

Die Kulturrelativistin ist laut und vehement, aber sie hat eine nicht minder laute Konkurrentin: die Menschenrechtlerin. Diese findet, die Kulturrelativistin leistet zwar einen wertvollen Beitrag, geht aber auch manchmal gewaltig in die Irre: Sie mag einige handfeste Argumente haben, aber wenn man die zu Ende denkt, sind sie beim besten Willen nicht mehr vertretbar. Die beiden aufgehängten dalit -Mädchen hätten das grausame Verbrechen, das an ihnen verübt wurde, also verdient, da sie in einem früheren Leben nicht genug Karmapunkte gesammelt haben? Diese Ansicht findet die Menschenrechtlerin in mir einfach nur zynisch! Und im Übrigen ist das auch eine sehr bequeme Argumentation für die Vergewaltiger, um ihre Tat zu rechtfertigen. Kultur wird hier als Totschlagargument missbraucht! Nur weil die Prinzipien des dharma und karma uralt sind, sind sie noch lange nicht gerecht und vielleicht gerade durch ihr Alter der heutigen Zeit nicht mehr angemessen. Kulturelle Werte sind durchaus wandelbar, was die Kulturrelativistin bei all ihrer Bemühung um Wertschätzung gerne mal vergisst. Da hilft es, sie an unsere eigene Kulturgeschichte zu erinnern: Im Mittelalter in Westeuropa beispielsweise hat sich kein Mensch dafür interessiert, wenn ein armes Bauernmädchen von adeligen Männern vergewaltigt wurde und es gab kein Gericht, das auch nur entfernt in Betracht gezogen hätte, die Täter zu verurteilen. Bis zur industriellen Revolution war die Würde des Menschen, die uns heute so ohne jeden Zweifel als unantastbar gilt, eindeutig standesabhängig! Ist es gut, dass wir das heute anders sehen? Gerade eine junge Frau ohne irgendwelche blaublütigen Vorfahren sollten hier wohl als erste aus vollem Herzen zustimmen. Die emische Perspektive wertschätzen ist zweifellos ehrenhaft und richtig, aber eben nicht um jeden Preis, liebe Kulturrelativistin.

Zudem schwächeln ihre kulturverliebten Argumente noch an anderer Stelle: Inwieweit gibt es diese eine, indische, emische Perspektive überhaupt? Wenn schon plurale Wirklichkeit, warum dann nicht auch innerhalb Indiens? Hier schafft es die wohlmeinende Kulturrelativistin wohl nur über den eigenen Tellerrand, um es sich direkt danach tief auf dem Boden des nächsten Tellers bequem zu machen... Dabei übersieht sie tausende indische Menschenrechtsaktivisten, die mittlerweile die Nachfolge von Lichtgestalt Gandhi angetreten haben. Die mit mittlerweile 20.000 Mitgliedern größte Frauenrechtsgruppe Gulabi Gang ist nur eines von vielen Beispielen. Seit ihrer Gründung durch die Aktivistin Sampat Pal im Jahr 2006 nimmt sich die auch als Pink Sari Revolution bezeichnete Gruppe eben jenen Fällen von Gewalt gegen meist kastenlose Frauen an, für die sich die Polizei nicht interessiert – und zwar indem sie mit leuchtend pinken Saris bekleidet medienwirksam die Täter verprügelt2. Und wenn selbst eine Latrinenputzerin, die zu den Untersten der Untersten der indischen Gesellschaftshierarchie gehört, vor einem westlichen Journalisten selbstbewusst behauptet, ja, wir machen eine schmutzige Arbeit, aber deshalb sind wir als Menschen nicht weniger wert, ist das schon ein deutliches Zeichen für eine grundlegend veränderte Einstellung3. Die Kastenlosen wollen nicht länger unberührbar sein, noch wollen sie gönnerhaft als „Kinder Gottes“ bezeichnet werden. Sie nennen sich dalits, die „Unterdrückten“, und erheben Anspruch auf Würde. Dharma forever? Mitnichten! Im Grunde ist es wenig überraschend, dass gerade die Benachteiligten das althergebrachte System als ungerecht empfinden, während die Befürworter mehrheitlich aus den privilegierten varna kommen. An dieser Stelle lohnt es sich tatsächlich, unter die Oberfläche zu blicken: Hinter der vordergründigen political correctness der Höhergestellten verbirgt sich nur allzu oft noch immer ein tief empfundener Ekel vor Verunreinigung durch die Unberührbaren. Auch das vordergründig irrationale Verhalten so mancher armer shudra oder vaishya, sich zum dalit zu erklären, ergibt Sinn, wenn man weiß, dass sie damit von der bestehenden Quotenpolitik profitieren. Fakt ist, für all diese Inder ist nicht mehr ausschließlich das kosmische Gesetz sinnstiftend! Von svadharma als einziger, handlungsleitender Maxime auszugehen, ist daher schlichtweg falsch und schon allein deshalb kann es ein „ihrer Kultur entsprechendes Regelwerk“ nicht geben. Die Kulturrelativistin wettert (zurecht!) gegen den westlichen Ethnozentrismus, ersetzt ihn dann aber dummerweise nur durch einen imaginären indischen...

Ebenso fatal ist die Schlussfolgerung der Kulturrelativistin, die universellen Menschenrechte nur dem Westen zuzugestehen. Da sträubt sich alles in der Menschenrechtlerin – ein solcher Gedanke ist Verrat an der Idee an sich: die Menschenrechte sind ja gerade universell, da sie für alle Menschen gelten! Es widerspricht daher in höchstem Maße meinen Gerechtigkeitsvorstellungen, diese Grundrechte nur jenen zu gönnen, deren Vorfahren die ideellen Grundlagen dafür geschaffen haben – also uns selbst. Kommt man damit nicht vom Regen des Ethnozentrismus in die Traufe des Egozentrismus? Die Kulturrelativistin hat es zwar gut gemeint mit ihrer Wertschätzung der hinduistischen Perspektive, aber den Indern aber als Konsequenz die Menschenrechte abzusprechen, verkehrt die hehre Wertschätzung in Abwertung! Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht.

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Details

Titel
Gerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit. Zwei Essays zu Indien
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Fachbereich Interkulturelle Wirtschaftskommunikation)
Veranstaltung
Seminar Deutsch-Indische Beziehungen
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
12
Katalognummer
V316134
ISBN (eBook)
9783668159570
ISBN (Buch)
9783668159587
Dateigröße
631 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Indien, Gerechtigkeit, Entwicklungszusammenarbeit, Entwicklungshilfe, Karma, Dharma, Varna und Jati, Kaste, Dependenztheorie, Menschenrechte, Dalits, Ethnozentrismus, Kulturrelativismus
Arbeit zitieren
Anna Carina Speitkamp (Autor:in), 2014, Gerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit. Zwei Essays zu Indien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/316134

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