Volksherrschaft nach Aristoteles und die moderne parlamentarische Demokratie


Hausarbeit, 2015

27 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

0. Einleitung

1. Die aristotelische Staatsformenlehre
1.1 Demokratie
1.2 Politie

2. Die moderne parlamentarische Demokratie
2.1 Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung
2.2 Repräsentation und Parteien
2.3 Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit

3. Volksherrschaft nach Aristoteles und die moderne parlamentarische Demokratie im Vergleich
3.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede
3.2 Stärken und Schwächen

4. Fazit

0. Einleitung

Die aristotelische Politik gilt als Fortsetzung von Aristoteles' Nikomachischer Ethik, an deren Ende Aristoteles „das Thema der Gesetzgebung“[1] und das „Thema der Staatsverfassung“[2] als nächsten Forschungsgegenstand ankündigt, „damit die philosophische Untersuchung über die menschlichen Dinge so weit wie möglich zu Ende gebracht wird“[3]. Die Frage nach der Legitimation der staatlichen Autorität, die die moderne politische Philosophie dominiert, fehlt bei Aristoteles. Der Staat und die staatliche Führung erscheinen ihm als unverzichtbar für das gute Leben des einzelnen Menschen, der als politisches Lebewesen zur Erlangung seiner Glückseligkeit auf die Einordnung in eine Gemeinschaft angewiesen ist.[4]

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt eine Renaissance der politischen Philosophie des Aristoteles ein und erfasst u. a. die Philosophinnen Hannah Arendt und Martha Nussbaum.[5] Angesichts der Aktualität der aristotelischen Politik für die moderne politische Philosophie werden in der vorliegenden Arbeit die aristotelische Volksherrschaft und die moderne parlamentarische Demokratie miteinander verglichen und ihre Unterschiede kritisch bewertet. Unter der Volksherrschaft nach Aristoteles verstehe ich die aristotelische Bestimmung der Demokratie sowie Aristoteles' Entwurf der Politie als gemeinwohlorientierte Form der Volksherrschaft und bestmögliche Staatsverfassung.

Nach der Untersuchung der Demokratie und Politie in der aristotelischen Staatsformenlehre und vor dem Hintergrund der antiken athenischen Demokratie stelle ich die Grundlagen und Erscheinungsformen der modernen parlamentarischen Demokratie dar. In diesem Zusammenhang erläutere ich die Prinzipien der Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Ferner werfe ich einen Blick auf den repräsentativen Charakter der parlamentarischen Demokratie und auf die Rolle der Parteien. Danach betrachte ich die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit als Ziele der modernen Demokratie. Anschließend vergleiche ich die aristotelische Volksherrschaft mit der modernen parlamentarischen Demokratie, indem ich ihre wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeige sowie in einer kritischen Gegenüberstellung über ihre größten Stärken und Schwächen reflektiere. Konkrete Detailfragen zur modernen Demokratie kläre ich am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Abschließend ziehe ich das Fazit meiner Arbeit. Auf die aristotelischen Schriften verweise ich mit der Seite, Spalte und Zeile der Bekker-Paginierung. Die Nikomachische Ethik wird mit „EN“ und die Politik mit „Pol.“ abgekürzt. Auf den Titel folgen eine römische Zahl, die das entsprechende Buch des Werkes angibt, und eine arabische Zahl, die für das entsprechende Kapitel im angegebenen Buch steht.

1. Die aristotelische Staatsformenlehre

In Buch III der Politik beginnt Aristoteles, seine Lehre von den verschiedenen Staatsformen zu entwickeln. Das Wesen eines Staates offenbart sich in seiner Verfassung. Aristoteles bestimmt den Begriff der Verfassung als „die Ordnung (táxis) des Staates (pólis) in bezug auf die Staatsämter (arché) und vor allem in bezug auf das oberste von allen, denn das oberste von allen ist die Regierung (políteuma), und diese wiederum ist die Verfassung.“[6] Aristoteles formuliert drei Möglichkeiten der Machtverteilung und Machtausübung im Staat. Die Staatsregierung als „oberste Gewalt“[7] wird entweder „von einem oder von wenigen oder von der Mehrzahl des Volkes“[8] gebildet.

Aristoteles hält die Verfassungen für richtig, die das Allgemeinwohl befördern, während er die Verfassungen, die „nur den eigenen Nutzen des einen oder der wenigen oder der großen Mehrzahl“[9] zum Ziel haben, als „bloße Abarten“[10] richtiger Verfassungsformen ansieht. Bei dieser normativen Betrachtung wird deutlich, dass Aristoteles strikt zwischen dem Allgemeinwohl und dem Eigennutz der großen Mehrheit unterscheidet. Unter dem Allgemeinwohl versteht Aristoteles den Zweck des Staates, zur Glückseligkeit, zur „Vollkommenheit des Lebens“[11] seiner Bürger beizutragen. Als notwendiger Bestandteil des gelingenden Lebens gilt ihm die Tüchtigkeit bzw. Tugendhaftigkeit, wie es Aristoteles in der Nikomachischen Ethik ausführlich behandelt.

Kombiniert man die drei Möglichkeiten der Machtverteilung und -ausübung mit den beiden Möglichkeiten der staatlichen Zielsetzung ergeben sich die drei richtigen Verfassungen Königtum, Aristokratie und Politeia, die in späteren Kapiteln Politie genannt wird, sowie die drei entarteten Verfassungen Tyrannis, Oligarchie und Demokratie.[12] Aristoteles fährt in seiner Untersuchung staatlicher Machtausübung fort und identifiziert die „beratende Gewalt [,] […] die regierende Gewalt […] [und] die richterliche Gewalt“[13] als die drei Teile jeder Verfassung.

Sind diese drei wohl eingerichtet, so ist es notwendigerweise auch die Verfassung (politeía), und die Verfassungen unterscheiden sich notwendigerweise voneinander je nach der verschiedenen Art dieser Teile. […] Die beratende Gewalt nun zunächst entscheidet über Krieg und Frieden, über Bündnisse und deren Auflösung, über die Gesetze (nómos), über Tod, Verbannung, Vermögenseinziehung, über die Wahl der Staatsbeamten (árchōn) und die Rechenschaftsabnahme.[14]

Die regierende Gewalt wiederum richtet die entsprechenden Staatsämter ein, verteilt unter diesen Ämtern die Machtbefugnisse und regelt die Art der Ämterbesetzung. Die richtende Gewalt führt Verhandlungen und fällt Urteile in Rechtsstreitigkeiten.[15] Über die Regierenden stellt Aristoteles die Gesetze, welche sich nach der Verfassung richten, als die endgültig „oberste Staatsgewalt“[16]:

[D]ie oberste Staatsgewalt [muß] den Gesetzen (nómos) zukommen […], vorausgesetzt, daß diese wohlgeordnet sind, der Regierende (árchōn) aber, mag er einer sein oder mehrere, nur über das Gewalt haben soll, was die Gesetze nicht genau zu bestimmen vermögen, weil nicht leicht über alles sich zutreffende allgemeine Regeln geben lassen.[17]

Die Herrschaft der Gesetze gilt Aristoteles als notwendiger Bestandteil jeder Verfassung. Eine Verfassung, die zu einem Zustand der Gesetzlosigkeit entartet ist, verdiene nicht mehr diesen Namen.[18] Im Folgenden stelle ich die aristotelische Lehre von Demokratie und Politie als die beiden Formen der Volksherrschaft dar.

1.1 Demokratie

Aristoteles verfasste seine Manuskripte, aus denen die Politik entstand, zum Teil während er als Metöke, d. h. als ortsansässiger Ausländer, in dem demokratischen Stadtstaat Athen lebte und lehrte. Die attische Demokratie war die ursprüngliche und wurde durch die athenische Expansionspolitik in weitere griechische Poleis exportiert. Vor diesem Hintergrund muss man davon ausgehen, dass sich Aristoteles bei seiner Untersuchung der Demokratie bisweilen auf die attische Demokratie bezieht, wenn er z. B. die Begriffe Staatsbürger, Gerichtshof und Volksversammlung verwendet, ohne diese bis ins Detail zu bestimmen.[19] Das Volk als die zur politischen Partizipation berechtigte Bürgerschaft setzte sich in Athen folgendermaßen zusammen:

Vollbürger sind allerdings nur ein kleinerer Teil der Wohnbevölkerung im Erwachsenenalter, oft nur jeder siebte, im günstigsten Fall jeder vierte […]. Ausgeschlossen vom Kreis der Vollbürger sind insbesondere die vielen Sklaven. Ausgeschlossen sind ferner die zahlreichen Metöken, […] zu denen auch Aristoteles gehört. Nicht Vollbürger sind obendrein die Frauen.[20]

Unter den entarteten Verfassungen erscheint Aristoteles die Demokratie am erträglichsten, während er die Tyrannis als die schlechteste Verfassung bewertet.[21] Nachdem er die Demokratie zunächst als die Herrschaft der großen Mehrheit des Volkes definiert hat, rückt Aristoteles anschließend die Herrschaft der Armen über die Reichen als das entscheidende Charakteristikum der Demokratie in den Vordergrund.

[Es ist] nur eine zufällige […] Bestimmung […], ob diejenigen, welche die oberste Staatsgewalt ausüben, die Minderzahl oder die Mehrzahl bilden, […] insofern der reichen Leute überall wenige und der armen viele zu sein pflegen, […] und [...] überall da, wo auf Grund des Reichtums regiert wird, gleichviel ob von einer Minder- oder von einer Mehrzahl, dies notwendig als Oligarchie gelten muß, und wo die Armen regieren, als Demokratie.[22]

Im vierten Buch erweitert und korrigiert Aristoteles diese Einschätzung und führt seine beiden Ansätze zur Bestimmung der Demokratie, einerseits nach der Zahl und andererseits nach dem Vermögen der Regierenden, zusammen. Er ergänzt seine Definition der Demokratie, indem er die Herrschaft der „freien Leute“[23] als weiteres wesentliches Merkmal der Demokratie benennt. Bereits im dritten Buch erachtet er das Kriterium „der freien Geburt“[24] als ausschlaggebend für die „Gleichheit der Personen“[25] in der Demokratie.

Demokratie [ist] dann gegeben […], wenn die Freien und Armen, in der Mehrzahl befindlich, die oberste Staatsgewalt besitzen, Oligarchie aber, wenn die Reichen und Edleren als Minderheit regieren.[26]

Aristoteles identifiziert die Freiheit als „das bestimmende Merkmal […] der Demokratie“[27] und als die „Grundlage […] der demokratischen Verfassung“[28]. Dabei unterscheidet er zwei Seiten des Freiheitsbegriffes. Die erste Seite verknüpft Aristoteles mit dem Rechts- und Gleichheitsbegriff der Demokratie und leitet daraus das Rotationsprinzip in der Regierung und das Mehrheitsprinzip als demokratische Prinzipien ab.

Von der Freiheit nun aber ist zunächst ein Stück, daß das Regieren und Regiertwerden reihum geht. Denn das demokratische Recht (díkaion) ist die Gleichheit nach der Zahl und nicht nach der Würdigkeit (axía). Wo aber dies für das Recht gilt, da muß notwendig die große Menge (plêthos) die entscheidende Gewalt haben, und was die Mehrzahl beschließt, das muß das Endziel (télos) und das muß das Recht sein, wenn […] jeder Staatsbürger mit dem anderen gleiches Recht haben soll.[29]

Die zweite Seite des Freiheitsbegriffes betrifft die persönliche, individuelle Freiheit und bedeutet „leben zu können, wie man will“[30]. Aus dieser individuellen Freiheit ergibt sich von Neuem das Rotationsprinzip in der Regierung:

Aus dieser Bestimmung der Freiheit folgt nun aber wieder, daß man sich nicht regieren läßt, und zwar am liebsten von niemandem, soweit aber dies unmöglich ist, nur abwechslungsweise, und so trifft denn hierin dies zweite Merkmal der Freiheit wieder mit dem ersten, nämlich der Gleichheit zusammen.[31]

[...]


[1] Aristoteles 2006: EN X 10, 1181b13

[2] Ebd. X 10, 1181b14

[3] Ebd. X 10, 1181b14 ff.

[4] Vgl. Taylor 2007: Politics, S. 233 ff.

[5] Vgl. Gutschker 2014: Aristoteles im 20. Jahrhundert, S. 263-274

[6] Aristoteles 2009: Pol. III 6, 1278b8-11

[7] Ebd. III 7, 1279a26

[8] Ebd. III 7, 1279a27 f.

[9] Ebd. III 7, 1279a30 f.

[10] Ebd. III 7, 1279a31

[11] Ebd. III 9, 1280b39 f.

[12] Vgl. ebd. III 7, 1279a34-1279b10

[13] Ebd. IV 14, 1298a1-4

[14] Ebd. IV 14, 1297b39-1298a7

[15] Vgl. ebd. IV 15 f.

[16] Ebd. III 11, 1282b2

[17] Ebd. III 11, 1282b2-6

[18] Vgl. ebd. IV 4, 1292a31 ff.

[19] Vgl. Schmidt 2008: Demokratietheorien. Eine Einführung, S. 27 und Marschall 2014: Demokratie, S. 24 f.

[20] Schmidt 2008: Demokratietheorien. Eine Einführung, S. 28

[21] Vgl. Aristoteles 2009: Pol. IV 2, 1289a39-1289b5

[22] Ebd. III 8, 1279b35-1280a4

[23] Ebd. IV 4, 1290b4

[24] Ebd. III 9, 1280a24

[25] Ebd. III 9, 1280a19

[26] Ebd. IV 4, 1290b18 ff.

[27] Ebd. IV 8, 1294a11 f.

[28] Ebd. VI 2, 1317a40

[29] Ebd. VI 2, 1317b2-8

[30] Ebd. VI 2, 1317b12

[31] Ebd. VI 2, 1317b14-17

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Volksherrschaft nach Aristoteles und die moderne parlamentarische Demokratie
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Institut für Philosophie und Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Aristoteles: Politik
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
27
Katalognummer
V315167
ISBN (eBook)
9783668141803
ISBN (Buch)
9783668141810
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
volksherrschaft, aristoteles, demokratie
Arbeit zitieren
Christian Kremer (Autor:in), 2015, Volksherrschaft nach Aristoteles und die moderne parlamentarische Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/315167

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