Das Phänomen Burnout in der stationären Jugendhilfe

Sind die Arbeitsbedingungen zu hart, sind die Sozialpädagogen zu schwach?


Bachelorarbeit, 2015

50 Seiten, Note: 1,7

René Noël Guilbert (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Vorwort

2. Einleitung

3. Definitionen
3.1 Definition Phänomen
3.2 Definition stationäre Jugendhilfe
3.3 Definition Burnout

4. Geschichte

5. Symptome und Verlauf

6. Persönlichkeitszentrierter Ansatz

7. Sozial-, arbeits- und organisationspsychologischer Ansatz

8. Stressmodel nach Lazarus

9. Stressfaktoren in der stationären Jugendhilfe
9.1 Fakten zur stationären Jugendhilfe
9.2 Belastungsfaktoren
9.3 Bewältigungsressourcen

10. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zunahme von Burnout

Abbildung 2: Arbeitsunfähigkeitstage

Abbildung 3: Items zur Analyse von Arbeitsbedingungen

Abbildung 4: Stressverarbeitungsmodell

Abbildung 5: Klassifikation von Bewältigungsprozessen

1. Vorwort

Das Thema „Das Phänomen Burnout in der stationären Jugendhilfe“ wurde gewählt, da der Verfasser sowohl während seines Praxisstudiums, als auch im Rahmen eines Nebenjobs in einem Kinder- und Jugendheim eingesetzt war/ist und bei seinen Kollegen und Freunden, die dort in Vollzeit arbeiten bemerkte/bemerkt, wie wenig Freizeit sie haben, wie erreichbar und flexibel sie in dieser knappbemessenen Zeit sein müssen, und wie überfordert sie so manches Mal sind. Teilweise werden abwertende und sogar erschreckende Bemerkungen über die Kinder gemacht, wie zum Beispiel: „Es gibt Momente, da könnte ich sie einfach anzünden“. Diese durch und durch schockierende Aussage lässt die Ausmaße einer unbeschreiblichen Frustration erahnen. Ein Kollege berichtete dem Verfasser, er habe so gut wie keine Freizeit und sein Privatleben, insbesondere die Beziehung zu seiner Partnerin, leide sowohl unter diesem Zeitmangel, als auch unter der Tatsache, dass er sich zu Hause in Gedanken häufig noch mit den Problemen der Jugendlichen auseinandersetze. Er schaffe es nicht nach der Arbeit abzuschalten, fühle sich oft sehr kraftlos und sei auch schon beim Einkaufen in einem Bekleidungsgeschäft erschöpft zusammengesunken. Aufgrund der Tatsache, dass der Verfasser in einer vorigen Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger von dem Syndrom Burnout gehört hatte, stellte sich ihm nun die Frage, ob es sein könne, dass Sozialpädagogen in der stationären Jugendhilfe besonders gefährdet sind, an einem Burnout-Syndrom zu erkranken.

2. Einleitung

Immer mehr Menschen in Deutschland erkranken am sogenannten Burnout - Syndrom. 20-30% der Deutschen fühlen sich häufig bis ständig unter Druck und am Ende ihrer Kräfte (vgl. Techniker Krankenkasse 2013 TK Studie zur Stresslage der Nation).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Zunahme von Burnout

Quelle: AOK 2012

Die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Störungen haben sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt (Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) - Studie 2012 zur Arbeitsunfähigkeit und psychischen Erkrankungen). Eine Studie der psychiatrischen Epidemiologen besagt, dass innerhalb eines Jahres ungefähr ein Drittel der Bevölkerung eine bedeutsame psychische Störung aufweist. Des Weiteren sollen mehr als 40 % der Deutschen einmal in ihrem Leben an einer zu behandelnden psychischen Störung erkranken (F. Jacobi, M. Höfler, J. Siegert 2014 „Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH).“ Der Nervenarzt).

In den Medien ist Burnout sehr stark vertreten. Im Juli 2010 titelte Die Zeit: „Burn-out: Arbeiten, bis der Arzt kommt“ (vgl. Rudzio, 2010), 2011 berichtete der Spiegel über „Das Volk der Erschöpften“ (vgl. Dettmer, Shafy und Tietz, 2011) und kurze Zeit später lautete die Schlagzeile „Das überforderte Ich: Stress – Burnout – Depression“. Die Herbstausgabe des Focus, ebenfalls erschienen im Jahre 2011, folgte mit dem Titel „Generation Burnout“.

Die Pädagogen und Pädagoginnen in der stationären Jugendhilfe sehen sich mit besonderen Belastungen konfrontiert. Dem Fehlzeiten-Report der AOK aus dem Jahre 2012 ist zu entnehmen, dass Heimleiter und Sozialpädagogen mit 291,9 Arbeitsunfähigkeitstagen je 1000 AOK-Mitgliedern am stärksten von Burnout betroffen sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Arbeitsunfähigkeitstage

Quelle: Statistica 2014

Die Arbeitszeiten in Kinder- und Jugendheimen, welche häufig 24h-Dienste, Wochenenddienste, Feiertagdienste miteinschließen, können für eine enorme Belastung sorgen. Hinzu kommen meist zahlreiche Überstunden und, bedingt durch die Weiterentwicklung der Kommunikationsmedien, der Druck auch in der Freizeit ständig erreichbar sein zu müssen.

Aufgrund von fehlenden Budgets können Ziele häufig nicht zufriedenstellend erreicht werden. Des Öfteren herrscht aus unterschiedlichsten Gründen Unzufriedenheit in den Pädagogen-Teams. Zudem ist die Arbeit sehr abwechslungsreich. Das klingt im ersten Moment sehr gut, doch bedeutet dies auch, dass sie nicht berechenbar ist, da die Pädagogen ständig mit Situationen konfrontiert sind, die sie so nicht kennen und die nicht planbar sind.

Bei einer Schweizer Studie (es wurden in einer Stichprobe 319 pädagogische Fachkräfte befragt) stellte sich heraus, dass bei 18% der Befragten ein Burnout-Verdacht bestand (vgl. Schmid; Fegert, 2015).

Im Folgenden werden zunächst die Begrifflichkeiten geklärt. Was ist ein Phänomen? Wie wird die stationäre Jugendhilfe definiert und was ist überhaupt Burnout? Des Weiteren wird, um den Rahmen der Thesis nicht zu sprengen; kurz auf die Geschichte des Burnout-Syndroms eingegangen. Es ist unter anderem ein Versuch darzustellen, dass es sich bei Burnout nicht nur um eine Modeerscheinung handelt. Im Anschluss wird auf die Symptome des Burnout-Syndroms eingegangen. Der Verlauf wird anhand des Verlaufsmodells nach Freudenberger und North, welches sein Augenmerk auf die sozialen Elemente des Burnout-Prozesses legt und in zwölf Stadien gegliedert ist, dargestellt.

Dadurch, dass Stress der Auslöser von Burnout ist geht diese Arbeit detailliert darauf ein, indem das Stressmodel nach Lazarus erläutert wird. Es wird unter anderem die Dynamik und Gesetzmäßigkeiten von Anpassungs- beziehungsweise Bewältigungsprozessen (Coping) erklärt.

Nun werden Stressfaktoren, die in der stationären Jugendhilfe wahrgenommen werden können beschrieben.

Abschließend stellt sich die Frage: Liegt es an den Arbeitsbedingungen oder an den Erkrankten selbst, dass sie ein Burnout-Syndrom entwickelt haben?

3. Definitionen

3.1 Definition Phänomen

1. (bildungssprachlich) etwas, was sich beobachten, wahrnehmen lässt; [bemerkenswerte] Erscheinung
2. (Philosophie) das Erscheinende, sich den Sinnen Zeigende; der sich der Erkenntnis darbietende Bewusstseinsinhalt
3. (bildungssprachlich) außergewöhnlicher, phänomenaler Mensch (Duden)

3.2 Definition stationäre Jugendhilfe

Der Begriff „stationäre Jugendhilfe“ ist gleichzusetzen mit dem Begriff der „Heimerziehung“, da

1. „dieser nach § 34 SGB VIII auch die gesetzliche Verankerung des hier behandelten Arbeitsfeldes namentlich darstellt und
2. die entsprechenden Einrichtungen (z.B. Jugendwohngruppen) einschließt“ (Pohnke 2003, S. 13).

Der Einfachheit halber werden die Begriffe stationäre Jugendhilfe und Heimerziehung nachfolgend gemäß SGB VIII Hilfen zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht außerhalb der Herkunftsfamilie (vgl. Pohnke 2003, S13; SGB VIII, 2003) synonym verwendet.

Eingeschlossen werden alle in der Praxis anzutreffenden Betreuungskonzepte wie Außenwohngruppen, Kleinstheime, Jugendwohngruppen und pädagogisch-therapeutische Wohngruppen (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002, S.200).

Die stationäre Jugendhilfe ist ein eigenständiges Hilfsangebot. Sie ist im Sinne des SGB VIII „ein letztes Glied einer Kette von Hilfen [...], das ihre Funktion der ultima ratio bis heute nicht ganz verloren hat“ (Otto und Thiersch 2001, S. 453). Sie wird gewährt, wenn vorangegangene, niederschwelligere Hilfen (z.B. ambulante Hilfen) zu keinem Erfolg geführt haben (vgl. Pohnke 2003, S. 14).

Die Heimerziehung ist gemäß des § 34 SGB VIII in den Hilfen zur Erziehung verankert und formuliert in den §§ 28-35 SGB VIII. Es besteht ein gesetzlich einklagbarer Rechtsanspruch auf sie, der den leistungsrechtlichen Charakter des KJHG betont (vgl. SGB VIII 2003, S. 259-262). Bestimmte Voraussetzungen für eine Hilfegewährung werden in § 27 SGB VIII formuliert. Ein Personensorgeberechtigter hat danach „bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfen zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfen für seine Entwicklung geeignet und notwendig sind (ebd., S. 259).

Da bei Fällen der Kindesmisshandlung und Vernachlässigung innerhalb der Familien in der Praxis selten Hilfen eingefordert werden, ist das Jugendheim gemäß § 42 SGB VIII verpflichtet, bei dringender Gefahr für das Wohl des Kindes/Jugendlichen eine Inobhutnahme einzuleiten. Das Kind wird in den benannten Angebotsformen zumindest vorläufig untergebracht (vgl. ebd., S. 264 f.).

Ein spezifischer, erzieherischer Bedarf dient als Orientierung zur Bestimmung der zu ergreifenden Erziehungshilfen. Die stationäre Jugendhilfe ist ein auf Zeit oder dauerhaft angelegtes, familienergänzendes oder, je nachdem, familienersetzendes Angebot in Situationen, in denen der Verbleib des Kindes/Jugendlichen in der Herkunftsfamilie zum aktuellen Zeitpunkt nicht möglich ist. Grundlage der Arbeit bietet das Erstellen eines individuellen Hilfeplans nach §36 SGB VIII. Je nach Bedarf werden die Hilfestellungen mit therapeutischen und pädagogischen Angeboten verknüpft und mit Ausbildungs- und/oder Beschäftigungsmöglichkeiten verbunden.

Ziel der Heimerziehung ist die Rückkehr des Kindes/Jugendlichen in die Herkunftsfamilie, die Vorbereitung auf die Erziehung in einer anderen Familie, oder die Vorbereitung auf ein eigenverantwortliches und selbstständiges Leben (vgl. ebd., S. 259 – 262).

3.3 Definition Burnout

Erstmals wurde der Begriff „Burnout“ 1974 von Dr. Herbert Freudenberger als Krankheitsbezeichnung verwandt. Freudenberger definierte Burnout wie folgt: „Burn-out ist ein Energieverschleiß, eine Erschöpfung aufgrund von Überforderungen, die von innen oder von außen - durch Familie, Arbeit, Freunde, Liebhaber, Wertesysteme oder die Gesellschaft - kommen kann und einer Person Energie, Bewältigungsmechanismen und innere Kraft raubt. Burn-out ist ein Gefühlszustand, der begleitet ist von übermäßigem Stress und der schließlich die persönliche Motivationen, die Einstellungen und das Verhalten beeinträchtigt“ (Freudenberger 1992, S.27). Er bedeutet „Ausgebrannt -Sein“ (vgl. Maslach; 2001). Maslachs Definition lautet zunächst folgendermaßen:

„Burnout ist ein Syndrom emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation und persönlicher Leistungseinbußen, das bei Individuen auftreten kann, die in irgendeiner Art mit Menschen arbeiten. Es ist eine Reaktion auf die chronische emotionale Belastung, sich andauernd mit Menschen zu beschäftigen, besonders wenn diese in Not sind oder Probleme haben“ (Maslach 1982, S. 3)

Jedoch entwickelte sie diese Definition weiter und schrieb Burnout später nicht mehr nur einem bestimmten Arbeitsfeld zu:

„Eine Erosion der Werte, der Würde, des Geistes und des Willens - eine Erosion der menschlichen Seele. Es ist ein Leiden, das sich schrittweise und ständig ausbreitet und Menschen in eine Abwärtsspirale zieht, aus der das Entkommen schwer ist“ (Maslach; Leiter 2001 zit. n. Burisch 2006, S. 20).

Ursprünglich stammt der Begriff jedoch aus dem technischen Sprachgebrauch und beschreibt einen physikalischen Prozess. 1978 wurde Burnout im Brockhaus wie folgt definiert: „ Kernenergie Technik: Durchbrennen von Reaktorbrennstäben oder Komponenten in Folge zu geringer Kühlung (Kühlmittelausfall) oder zu hoher Wärmeerzeugung (kontrollierte Kernspaltung).“ (Brockhaus; 1978)

Die psychologische Definition fehlte damals noch. In der Zwischenzeit hat sich eine Vielzahl von Wissenschaftlern und Autoren mit diesem Thema beschäftigt; dennoch gibt es nicht „die eine“ universelle Definition, welche als Standard akzeptiert wird.

4. Geschichte

Burnout ist kein modernes Phänomen unserer Zeit. Das wesentliche Merkmal dieser Erkrankung „Erschöpfung“ wurde von Medizinern bereits vor über 100 Jahren unter dem Begriff Neurasthenie beschrieben. Einen Grund für diese Krankheit wurde von den Ärzten damals zunächst nicht gefunden. Sie führten die Ursachen auf den Lebenswandel um 1900 zurück. Der damalige Lebensstil und die moderne Technik wurden von den Ärzten als belastend angesehen. Ein überwiegend in dieser Zeit bei Frauen festgestelltes Syndrom war die „Hysterie“; ebenso diagnostizierte man „psychovegetatives Erschöpfungssyndrom“. (vgl. Sandra Waeldin u. Dominic Vogt in „Krank im Job, Burnout und die Folgen“, 1. Aufl., 2015). Auch das Gegenteil von übermäßiger Belastung und Leistungsdruck, z.B. Langeweile, Monotonie u.ä., bezeichnet als „Boreout“-Syndrom (vgl. Dr. Elisabeth Prammer, Boreout - Biografien der Unterforderung und Langeweile), wurde als Ursache für Symptome wie Ermüdung, Ängstlichkeit, Konzentrationsstörungen u.a. genannt (siehe zu den Symptomen zu Burnout auch H. Dilling u. a. (Hrsg.), Weltgesundheitsorganisation: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. 2. Auflage. ICD-10 Kapitel V (F), Hans Huber Verlag, Göttingen 1993, S. 192 f.)

Zu Beginn der 1880er Jahre fand das aus den USA stammende Konzept der Neurasthenie in Mittel- und Westeuropa rasch Verbreitung und erlebte bis 1900 seinen Höhepunkt, vgl. Roelcke, „Krankheit und Kulturkritik“, S. 122 ff. „In der Geschichtswissenschaft sowie in den populärwissenschaftlichen Darstellungen wird Neurasthenie verschiedentlich als Frühform von Stress, überzeugender jedoch als erste sogenannte Zivilisationskrankheit beschrieben“ (Kury, „Der überforderte Mensch“, S. 14). Der Bielefelder Historiker Joachim Radkau bezeichnete 1998 in seinem Buch „Das Zeitalter der Nervosität“ die in den 1880er Jahre ausbrechende Nervositätsepidemie als sichtbarsten Beginn moderner Stresserfahrungen und Patrick Kury definierte in „Der überforderte Mensch, 2012“ Neurasthenie nicht als Stress, sondern als Stressphänomen avant la lettre, das lt. Kury gewisse strukturelle Ähnlichkeiten zu Zivilisationserscheinungen wie der Managerkrankheit und der Stressfolgeerkrankung Burnout aufweist.

Der Begriff Stress, der ehemals aus der Physik und Materialforschung stammte, wurde 1914 erstmals von Walter B. Cannon als Umschreibung physiologischer Funktionsweise von Emotionen verwandt. Während Cannon als konzeptioneller und begrifflicher Ideengeber galt, entstand in den 1930er und Anfang der 1950er Jahre ein dezidiertes Stress-Konzept, an dem der Endokrinologe Hans Selye und dessen „Allgemeines Anpassungssyndrom“, (siehe Selye, Nocuous Agents, S. 32 und https://www.mps.uni-freiburg.de/lehre/medpsych/vorl/stress.pdf) maßgeblich beteiligt war.

Im urbanen Bürgertum war Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des Ersten Weltkrieges ein Belastungs- und Erschöpfungsleiden weit verbreitet, das man medizinisch ebenfalls als Neurasthenie bezeichnete. Diese Erkrankung galt als Modekrankheit; man fand sie überwiegend in gehobenen Gesellschaftsschichten. „Aufgrund des Zusammenwirkens moderner Lebensführung, neuer medizinischer Krankheitskonzepte und der Thematisierung von Gesundheit wird die Neurasthenie in der medizinhistorischen Literatur gemeinhin als erste sogenannte Zivilisationskrankheit bezeichnet.“ (Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, S. 112-121, insbesondere S. 120; ders.; Zivilisationskrankheit, S. 35).

Seit Mitte der 1950er Jahre wurden mit dem Begriff Managerkrankheit die physischen und psychischen Folgen von Wirtschaftswunder und Wiederaufbau diskutiert. „Managerkrankheit ist ein Krankheitsbild, das keine umschriebene Einheit bildet, sondern verschiedene Störungen, besonders des Kreislaufs, umfasst, die zunächst auf funktioneller, später auf organischer Grundlage beruhen (z. B. hoher Blutdruck, Herzbeschwerden und -schmerzen, Angina pectoris, Herzinfarkt, nervöse Übererregbarkeit), siehe Brockhaus Enzyklopädie. 12. Band, 17. Auflage. F.A. Brockhaus, Wiesbaden 1978.

Ende der 1960er Jahre standen nicht mehr die allgemeinen physiologischen Reaktionsweisen im Blickpunkt sondern soziale Ursachen und eine individuelle Umgangsweise rückten in den Vordergrund. Der schwedische Mediziner Lennart Levi gilt als Pionier der psychosozialen Stressforschung in Europa. In seiner Schrift aus dem Jahre 1964 „Stress: Körper, Seele und Krankheit“ schreibt Levi „[…] reagiere der Körper, […] nicht nur auf „die tatsächliche physische Gefahr“, sondern ebenso auf „deren Drohung oder auf die Erinnerung daran […]“. Laut Levi sei der Verteidigungsplan des Körpers bei einer realen Bedrohungssituation zwar angemessen, nicht jedoch bei einer symbolischen Bedrohungslage. Insofern handle es sich um einen „Irrtum der Abwehrleistung“ des Körpers.“. „Dies kann, wie man glaubt, seinerseits eine widernatürliche Belastung des Organismus nach sich ziehen, die auf die Dauer möglicherweise organische Krankheiten erzeugen kann.“ (Beide Zitate: Levi, Stress, S. 51; vgl. hierzu auch P. Kury, „Der überforderte Mensch“, S. 103).

Mitte der 1970er Jahre erfolgte die wissenschaftliche und massenmediale Etablierung des psychosozialen Stresskonzepts in Deutschland. Sie ging einher mit dem Bewusstsein für ökologische Krisen, mit ökonomischen Krisenerfahrungen und mit der gesellschaftspolitischen Thematisierung von Lebensqualität. Seit Mitte der 1970er Jahre wurde Stress zu einem bevorzugten Thema populärwissenschaftlicher Darstellungen und unzähliger Ratgeber. „Die Popularisierung von Stress setzte […] mit der massenmedialen Thematisierung durch Magazine, Fernsehen und Ratgeber ein und wirkte wiederum auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung zurück“ (Kury, P: Der überforderte Mensch, Aufl. 2012, S. 35).

In den Vereinigten Staaten brachte man in den 1970er Jahren den Begriff Burnout in der Öffentlichkeit vermehrt in einen Zusammenhang mit Pflegeberufen. In die Wissenschaft gelangte der Begriff durch Erfahrungsberichte und Interviews mit Betroffenen im Gesundheitswesen.

Erste wissenschaftliche Artikel wurden 1974 von dem Psychologen Herbert Freudenberger (z.B. 12-stufiger Burnout-Zyklus, Freudenberger & North 1992, S. 123) und 1976/77 von der Sozialpsychologin Christina Maslach, University of California, Berkeley; (C. Maslach und M.P. Leiter: The Truth About Burnout, San Francisco 1997) geschrieben. In den Arbeiten von Freudenberger und Maslach wird das Burnout-Syndrom als Reaktion auf chronische Stressoren im Beruf beschrieben. „Ein Ausbrenner ist ein Mensch im Zustand der Ermüdung, der Frustration; sie wird hervorgerufen, wenn sich der Betroffene auf einen Fall, eine Lebensweise oder eine Beziehung einlässt, die den erwiderten Lohn nicht bringt“ (Freundenberger et al. 1983).

In seinem Aufsatz „Staff burn-out“ prägte er den Begriff des Burnout-Syndroms und machte ihn bekannt. Ihm fiel auf, dass besonders viele Menschen in sozialen Berufen überdurchschnittlich oft krankgeschrieben wurden. Als Therapeut, Leiter verschiedener Gesprächsgruppen und ehrenamtlich tätig für Drogenabhängige sowie Vater von drei Kindern erlitt er völlig überfordert selbst viele Burnout-Symptome und bemerkte, „dass es vielen seiner Kollegen ähnlich erging. Sie waren dabei auszubrennen“. Überwiegend aus helfenden Berufen kommende selbst betroffene Leser seiner Arbeiten erkannten sich in diesen wieder. Burnout schien zwangsläufig die Folge ihres großen berufliches Engagements zu sein; vgl. Klaus Linneweh, Armin Heufelder „Balance statt Burn-out“, 2010, 2. Aufl., S. 1. Freudenberger beschrieb Burnout in einem 12-stufigen Zyklus, der unter 4.3 (Symptome und Verlauf) näher erläutert wird.

1981 entwickelte Christina Maslach den ersten Burnout-Fragebogen, mit dem die systematische Forschung begann. 22 Fragen umfassen emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit. Das Maslach Burnout Inventory (MBI) wird in vielen veröffentlichten wissenschaftlichen Studien eingesetzt (siehe Christina Maslach; Susan E Jackson; Michael P Leiter, Verlag Palo Alto, Calif.: Consulting Psychologists Press, cop. 1996)

Das Burnout-Syndrom ist bis zum heutigen Tage wissenschaftlich nicht als Krankheit anerkannt, sondern gilt gemäß „Internationaler statistischer Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme“ ICD (englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), dem wichtigsten, weltweit anerkannten Diagnoseklassifikationssystem der Medizin ICD-10, Version 2012, herausgegeben von der WHO, vgl. WHO List of Official ICD-10 Updates, als ein Problem der Lebensbewältigung. „Es handelt sich um eine körperliche, emotionale und geistige Erschöpfung aufgrund beruflicher oder anderweitiger Überlastung bei der Lebensbewältigung. Diese wird meist durch Stress ausgelöst, der wegen der verminderten Belastbarkeit nicht bewältigt werden kann“, vgl. Ferdinand Jaggi: Burnout – praxisnah. Georg Thieme Verlag: Stuttgart 2008, S. 6–7.

Im Laufe der Geschichte sind viele Belastungserkrankungen aufgetreten, die auf die jeweiligen Lebensumstände, Stand von Wissenschaft und Technik zurückzuführen sind, aber „dies bedeutet jedoch nicht, dass die Belastungserkrankungen Neurasthenie, Managerkrankheit und Burnout bloße Modeerscheinungen sind. Vielmehr handelt es sich um ernstzunehmende Manifestationen psychischer und physischer Störungen in Phasen raschen gesellschaftlichen, technischen und ökonomischen Wandels“, (P. Kury „Der überforderte Mensch, S. 70).

Anmerkung des Autors: Dieser kurze Auszug über die Entwicklung des historischen zum aktuellen „Erschöpfungssyndrom soll Ähnlichkeiten der Leidensmerkmale im Laufe der Geschichte darstellen. Eine detaillierte chronologische Auflistung bzw. Erwähnung aller relevanten Entwicklungen in den verschiedenen Epochen sowie aller wissenschaftlichen Erkenntnisse würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Er soll lediglich die Entwicklung von ersten frühzeitlichen Symptombeschreibungen eines Erschöpfungszustandes über Stress bis zum heutigen Phänomen Burnout in groben Zügen anreißen, um darzustellen, dass das heutige Burnout-Syndrom, unter dem zunehmend u.a. auch Mitarbeitern in der stationären Jungendhilfe leiden, kein reines Phänomen des 21. Jahrhunderts ist, sondern das die Menschen wahrscheinlich schon immer, sei es hervorgerufen durch Hungersnöte, Kriegsereignisse, Naturkatastrophen, traumatische Erlebnisse u.v.m., unter belastenden Situationen gelitten haben, die zu Symptomen führten, die dem heutigen Burnout-Syndrom ähnlich sind. Auch ist Burnout keine Besonderheit sozialer Berufe, wie z.B. der stationären Jungendhilfe. Das Syndrom tritt zwar dort aufgrund der unter Punkt 6 genannten Stressfaktoren in hohem Maße auf; neben Managern und Führungskräften in Wirtschaft und Politik können – auch besonders hervorgerufen in unserem Zeitalter durch Flexibilisierung und moderne digitale Kommunikationsmedien - Menschen in fast allen Berufen und/oder in kritischen, belastenden Lebenslagen gefährdet sein

5. Symptome und Verlauf

Symptome:

Die Ausprägungen des Burnout-Syndroms sind bei den Betroffenen verschieden (vgl. Lizcke & Schuh 2010, S. 158). Burisch nennt sieben Oberkategorien und diverse Unterabschnitte, in welche die Merkmale von Burnout eingeteilt werden können (Burisch 2010, S.25 f.). Sie sind verlaufsmäßig geordnet.

Als erstes setzen Warnsymptome, wie ein erhöhter Energieeinsatz und eine besonders erhöhte Motivation gegenüber dem Job ein, was zu einer psychischen und physischen Erschöpfung führen kann. Folge ist ein reduziertes Engagement für die Klienten, was sich durch eine Ausweitung der professionellen Distanz, Verlust von Empathie und Depersonalisierung zeigt. Verständnislosigkeit und Gefühlskälte sind die Reaktionen der Außenwelt auf das veränderte Verhalten des Betroffenen. Auf der Arbeit weicht die ursprüngliche Begeisterung und wird ersetzt durch Überdruss und Konzentrationslosigkeit. Berufliche Ansprüche, wie der Wunsch nach mehr Lohn, mehr Anerkennung, steigen und können zumeist im Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit nicht befriedigt werden, wodurch es zu emotionalen Reaktionen kommen kann, die sich sowohl introvertiert durch Selbstmitleid oder Schuldgefühle, als auch extrovertiert durch Negativismus und Schuldzuweisungen zeigen. Die Leistungsfähigkeit baut ab. Auf kognitiver Ebene in Form von Konzentrations- und Organisationsschwächen. Auf der Motivationsebene verringert sich die Initiative, sowohl die Produktivität und die Kreativität lassen nach, und es kommt zu Entdifferenzierungen, auch bekannt unter dem Begriff des Schwarz-Weiß-Denkens. Sowohl das emotionale Leben (Gleichgültigkeit) verflacht, und auch das soziale Leben reduziert sich mehr und mehr, was sich darin äußert, dass sich die Betroffenen von ihren Freunden zurückziehen und in Einsamkeit leben. Auch das geistige Leben ist betroffen. Hobbies werden aufgegeben und es stellt sich ein allgemeines Desinteresse ein. Psychosomatische Reaktionen wie, Schlafstörungen, Schmerzen oder ein geschwächtes Immunsystem können daraus resultieren. Schließlich setzen Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Depression ein. Allerdings ist keines der genannten Symptome burnout-spezifisch, wodurch eine treffende Diagnose erschwert wird (vgl. Hedderich 2009, S27).

[...]

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen Burnout in der stationären Jugendhilfe
Untertitel
Sind die Arbeitsbedingungen zu hart, sind die Sozialpädagogen zu schwach?
Hochschule
Technische Hochschule Köln, ehem. Fachhochschule Köln
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
50
Katalognummer
V314847
ISBN (eBook)
9783668133778
ISBN (Buch)
9783668133785
Dateigröße
975 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
phänomen, burnout, jugendhilfe, sind, arbeitsbedingungen, sozialpädagogen
Arbeit zitieren
René Noël Guilbert (Autor:in), 2015, Das Phänomen Burnout in der stationären Jugendhilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/314847

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