Krise und Geschlecht. Eine kritische Intervention in geschlechtsspezifische Deutungskämpfe um die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise


Hausarbeit, 2013

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Geschlecht und Krise in der öffentlichen Debatte

3. Theoretischer Rahmen: Hegemonie und Vergeschlechtlichung
3.1. Hegemonie, Hegemonialprojekt und Subjektivierung
3.2 Geschlecht als Dimension der Subjektivierung und Strukturprinzip
3.3 Gramsci und feministische Ansätze zur Betrachtung gegenwärtiger Umbrüche

4. Neoliberales Hegemonialprojekt als Maskulinisierung

5. Hegemoniale Männlichkeit in der Krise
5.1. Rahmenbestimmungen der Analyse
5.2 Analyse

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die seit 2008 einen zentralen Bezugspunkt im internationalen politischen Geschehen darstellt, ist im Zuge dieser Entwicklung zu einem präferierten Diskussionsthema in der medialen und öffentlichen Debatte avanciert (vgl. Wichterich 2010: 164). Schwerpunkt der öffentlichen Beschäftigung mit der gegenwärtigen Krise stellt ihre Deutung und Einordung dar. Geschlechtsspezifische Erklärungsversuche erweisen sich dabei als zentral (vgl. Sauer 2010: 38). In medialen Beiträgen wird nicht zuletzt konstatiert, dass die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise eine Krise hegemonialer Männlichkeit mit sich bringt (vgl. Wichterich 2010: 180). Insbesondere die skrupellose „ Zockermentalit ä t (Scheele 2012: 23) als dominierende maskulin konnotierte Eigenschaft in der Finanzmarktbranche wird in diesem Zusammenhang ins Visier genommen. Die mediale Debatte zum Thema ist dabei durch ein biologistisches Verständnis von Geschlecht gekennzeichnet und setzt Männlichkeit mit ‚den (allen) Männern’ gleich. Eine Krise der hegemonialen Männlichkeit wird so schnell zu einer ‚Krise der (aller) Männer’. In vielen Fällen liegt daher die Annahme nahe, dass sich die gegenwärtige Krise lösen ließe, indem mehr Frauen verantwortungsvolle Entscheidungen in Wirtschaft und Politik treffen. Diese Perspektive spiegelt sich auch in realpolitischen Vorstößen wider (vgl. Young 2009: 100). So hat sich die isländische Regierung nach dem Kollaps einiger isländischer Banken 2008 bewusst für Frauen als Führungskräfte der neu gegründeten Banken entschieden (vgl. Young 2009: 100). Frauen werden, wie sich zeigt, ebenso naturalistisch mit Weiblichkeit gleichgesetzt, wie Männer mit Männlichkeit. Weiblichkeit, als naturgegebene Eigenschaft von Frauen, soll als natürlicher Gegenpol zu den krisenhaften männlichen Praxen der Finanzmarktbranche fungieren (vgl. Sauer 2010: 38).

Die in der öffentlichen Debatte weit verbreitete Annahme, dass aus der Krisenhaftigkeit männlich konnotierter Eigenschaften und Praxen in der Finanzbranche, eine tiefgreifende gesellschaftliche Krise hegemonialer Männlichkeit folgt, wird in der vorliegenden Hausarbeit in Frage gestellt. Der Grundgedanke der öffentlichen Debatte wird dagegen aufgegriffen: Die Thematisierung von Geschlecht im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krise erscheint aufschlussreich für die Einordnung und Deutung dieser. Daran anknüpfend wird darlegt werden wie sich der Zusammenhang von Systemkrisen hegemonialer Ordnungen, wie dem Neoliberalismus1, und Geschlecht gestaltet und was dies für die Einordnung der gegenwärtigen Krise bedeuten kann, wenn - wie im Gegensatz zur dominanten Meinung in öffentlichen Debatten angenommen wird - ein biologistisches Verständnis von Geschlecht der Komplexität dieser Thematik nicht gerecht wird und daher abzulehnen ist. Die zentrale Fragestellung, die in der vorliegenden Hausarbeit beantwortet werden soll, lautet daher: wie lässt sich der Zusammenhang zwischen Systemkrisen hegemonialer Ordnungen und Geschlecht beschreiben und lässt sich - daran anknüpfend - bestätigen, dass die gegenwärtige Krise eine tiefgreifende Krise hegemonialer Männlichkeit mit sich bringt oder nicht?

2. Geschlecht und Krise in der öffentlichen Debatte

Medien können als Element der Zivilgesellschaft2 verstanden werden und sind in dieser Funktion am Kampf um Hegemonie beteiligt. Sie sind insofern als relevanter Akteur im Kampf um die Deutungshoheit der gegenwärtigen Krise zu werten und stellen daher einen Referenzpunkt für die Fragestellung in der vorliegenden Hausarbeit dar. In Medien finden sich seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise zahlreiche Beiträge, die Geschlecht in Verbindung mit der Krise thematisieren.3 In der S ü ddeutschen Zeitung vom 5.10.2009 heißt es in einem Interview mit dem Zukunftsforscher Matthias Horx: „ Die Finanzkrise ist letztlich Resultat riskanter M ä nner-Strategien. Sie ist auch eine Testosteron- Krise “ . In der ZEIT online vom 6.9.2009 ist zu lesen „ Die Krise ist eine M ä nnerkrise. “ Und weiter: „ Die Krise beschleunigt den Wandel zugunsten der Frauen [...] sie alle [all diese Entwicklungen] tragen auf die eine oder andere Weise zur Stunde der Frauen bei. “ In The Economist wird im August 2009 die Frage diskutiert, ob die Krise abgewendet oder abgeschwächt werden hätte können, wenn mehr Frauen in einflussreichen, wirtschaftspolitisch relevanten Positionen mitgewirkt hätten (vgl. Kurz-Scherf/ Scheele 2010: 7).

Wirtschaftsstrategie des Westens feierte. Neoliberalismus ist [...] die g ä ngige wirtschaftspolitische Ideologie und Praxis, die einseitig auf den Mechanismus eines selbstregulierenden Marktes setzt, und m ö glichst viele Produktions-, Reproduktions- und Sozialprozesse ü ber den Markt abwickeln will (vgl. Nordmann 2005: 17).“

Die allermeisten medialen Beiträge, die den Zusammenhang von Krise und Geschlecht behandeln, rekurrieren auf ein biologistisches Verständnis von Geschlecht. Geschlecht und vergeschlechtlichtes Handeln4 werden als naturgegeben betrachtet. Männlichkeit und Weiblichkeit sind in diesem Sinne durch Geschlechtsmerkmale determiniert. So beruht die Konstatierung einer Testosteronkrise auf einem Verständnis von Männlichkeit, das sich aus dem natürlichen Besitz von Testosteron erklärt, wonach sich Männlichkeit als biologisch bestimmbar erweist. Die Vorstellung die Krise führe zu einer ‚Krise der Männer’, die Frauen, als Gegenpol dazu, Auftrieb verleihe, setzt Frauen mit Weiblichkeit und Männer mit Männlichkeit gleich, so als handle es sich dabei um naturgegebene, biologisch determinierte Eigenschaften. Die Frage, ob die gegenwärtige Krise verhindert hätte werden können, wenn mehr Frauen relevante Entscheidungen getroffen hätten, suggeriert, dass Frauen natürlicherweise anders handeln als Männer.

Das biologistische Verständnis von Geschlecht, das in der öffentlichen Debatte um die Krise dominiert, setzt Männer mit Männlichkeit gleich. Im Kontext medialer Recherchen, welche vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise eine Erschütterung der Selbstverständlichkeit männlicher hegemonialer Praxen und Normen in der Finanzmarktbranche feststellen (vgl. Neuschäfer zit. nach Scheele 2012: 19) und daraus eine Krise hegemonialer Männlichkeit ableiten, führt ein biologistisches Verständnis von Geschlecht schnell zu der Annahme, dass die Finanzkrise eine ‚Krise der Männer’ mit sich bringt.

Als besonders problematisch ist zu werten, dass das biologistische Verständnis von Geschlecht in der medialen Debatte schließlich zu einer Naturalisierung der Krise selbst führt (vgl. Scheele 2012: 22-23) und dabei ihren gesellschaftspolitischen Hintergrund marginalisiert sowie kurzschlüssige Lösungswege suggeriert (vgl. Sauer 2010: 39). Denn, wenn Männlichkeit, verstanden als nat ü rliche Eigenschaft von (allen) Männern, als krisenhaft angesehen wird, liegt die Folgerung nahe, dass die Krise die Ablöse der hegemonialen Männlichkeit zur Folge haben wird, indem natürliche Weiblichkeit dagegen gesetzt wird. Das würde letztlich bedeuten, dass Männer in hochrangigen Positionen in Politik und Wirtschaft durch Frauen ersetzt werden - oder ersetzt werden sollen um der Krise entgegen zu wirken (vgl. Scheele 2012: 27-28). Frauen, die seit Beginn der Krise bisher männlich bestellte Aufsichtsratsposten oder politisch relevante Ämter übernehmen, können im Rahmen dieser Folgerungen leicht als Signal für einen tiefgreifenden Wandel des geschlechtlichen Hegemonieverhältnisses betrachtet werden.

Es ist zwar positiv zu werten, dass eine öffentliche Debatte zum Zusammenhang von Krise und Geschlecht stattfindet und bereits sehr früh nach Beginn der Krise eingesetzt hat, während dieser Themenkomplex in der Forschung lange Zeit weitgehend ignoriert wurde (vgl. Young 2009: 99). Doch die mediale Debatte bleibt oberflächlich und als Folge des biologistischen Verständnisses von Geschlecht werden Schlüsse aus der gegenwärtigen Krise gezogen, die zu Fehleinschätzungen führen.

3. Theoretischer Rahmen: Hegemonie und Vergeschlechtlichung

Um aufzuzeigen warum ein biologistisches Verständnis von Geschlecht zu einer falschen Einschätzung der gegenwärtigen Krise führt, wird im Folgenden der Zusammenhang von Systemkrisen hegemonialer Ordnungen und Geschlecht näher beleuchtet. Wie sich zeigen wird, ist dieser vor dem Hintergrund eines biologistischen Verständnisses von Geschlecht nicht erfassbar. Ich möchte daher in ein Verständnis von Geschlecht einführen, das sich von biologisch determinierten Geschlechtsbegriffen abgrenzt. Zudem werde ich Gramscis Hegemonie-Konzept sowie die damit verbundenen Begriffe Hegemonialprojekt und Subjektivierung erläutern. Die vergeschlechtlichte Dimension der Subjektivierung wird dabei eine fundamentale Rolle spielen.

3.1 Hegemonie, Hegemonialprojekt und Subjektivierung

Ein bei Gramsci zentraler Begriff ist die Hegemonie. Unter Hegemonie ist Herrschaft zu verstehen, die nicht durch Zwang, sondern durch Konsens innerhalb einer Zivilgesellschaft erzeugt wird. Es handelt sich demnach um eine Art kulturelle sowie moralische Führung und Herrschaft, die ohne physische Gewalt auskommt (vgl. Gramsci 1991: 1239). Der Ort, an dem Kämpfe um die Hegemonie im Staat ausgetragen werden, ist die Zivilgesellschaft (vgl. Gramsci 1991: 783).

Zur Etablierung und Aufrechterhaltung einer Hegemonie bedarf es eines Hegemonialprojekts.

Das Hegemonialprojekt liefert die politischen, intellektuellen und moralischen Richtlinien und die Legitimation f ü r das Staatsprojekt, die ‚ legitime Sichtweise ’ des Staates (Sauer 2007: 21) . “

Birgit Sauer, deren Definition von Hegemonialprojekt der vorliegenden Hausarbeit zu Grunde liegt, betrachtet dieses als eine von vier Dimensionen des Staates, neben materieller Grundlage des Staatsverhältnisses, Staatsprojekt sowie Staatsapparat (vgl. Sauer 2007: 21- 22).

Das Hegemonialprojekt wirkt durch Subjektivierung. Subjektivierung meint die Konstituierung von Subjekten - ihre Erzeugung und Formung, sodass diese sich für eine bestimmte nationale oder globale Ordnung von Ökonomie und Politik, wie gegenwärtig den Neoliberalismus, als funktional und nützlich erweisen (vgl. Hajek/ Opratko 2013: 48). Subjektivierung hat zur Folge, dass Subjekte den Idealvorstellungen und Normen einer hegemonialen Ordnung affirmativ gegenüberstehen, obwohl sie durch diese gleichsam unterdrückt werden. Hegemonialprojekt sowie Subjektivierung artikulieren sich diskursiv im Sinne Michel Foucaults.5 Sie sind demnach mit der materiellen Ebene eng verknüpft und es bestehen zudem Wechselwirkungen zwischen diskursiver Ebene von Hegemonialprojekt sowie Subjektivierung und der materiellen Lebensrealität der Subjekte, die Teil einer Hegemonie sind.

3.2 Geschlecht als Dimension der Subjektivierung und Strukturprinzip

Feministische Ansätze untersuchen darüber hinaus die vergeschlechtlichte Dimension als elementaren Bestandteil jeder Subjektivierung (vgl. Hajek/ Kinzel 2011: 133). Jede Subjektivierung ist in gleichem Maße eine Vergeschlechtlichung von Subjekten. Das bedeutet, dass Subjekte als vergeschlechtlichte Subjekte angerufen6 werden. Bestimmte Eigenschaften und Handlungsmuster, die mit ‚Männlichkeit’ oder ‚Weiblichkeit’ codiert sind, werden ihnen eingeschrieben und bestimmen so ihr subjektives Empfinden und Handeln (vgl. Ludwig 2007: 200).

Vergeschlechtlichung beziehungsweise vergeschlechtlichte Subjektivierung legt hier ein Verständnis von Geschlecht nahe, das dieses als gesellschaftliches Strukturmerkmal, nicht als biologisch determinierte Eigenschaft versteht. Männlichkeit und Weiblichkeit sind demnach nicht naturgegeben und unveränderlich, sondern werden permanent gesellschaftlich konstruiert (vgl. Butler zit. nach Sauer 2006: 51). Geschlecht als Strukturprinzip prägt alltägliches Denken, Handeln und Fühlen von Menschen und wird ihnen durch Subjektivierung eingeschrieben.

[...]


1 !Hier und im Folgenden beziehe ich mich auf die Neoliberalismus-Definition von Jürgen Nordmann, wonach unter Neoliberalismus „ das verstanden [wird], was zun ä chst als antisozialstaatliche, antikeynesianische Marktpolitik [...] praktiziert wurde und in der Folgezeit einen beispiellosen Erfolg als globale

2 !Zivilgesellschaft wird hier im Sinne Antonio Gramscis verwendet. Darunter ist die Gesamtheit aller nichtstaatlichen Organisationen gemeint, die Einfluss auf Alltagsverständnis von Menschen und die öffentliche Meinung haben. Zivilgesellschaft ist in diesem Sinne als ein Teil des Staates zu betrachten, in dem die kulturelle Hegemonie ausgefochten wird (vgl. Gramsci 1991: 772 -773, 783).

3 !siehe dazu beispielsweise Neuschäfer, Oliver 2010: Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Geschlechterverhältnisse in Deutschland. Diplomarbeit im Fach Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Neuschärfer hat in seiner Diplomarbeit eine Diskursanalyse anhand zahlreicher medialer Beiträge durchgeführt, die den Zusammenhang von Krise und Geschlecht thematisieren.

4 !Vergeschlechtlichtes Handeln bezieht sich hier und im Folgenden auf die Annahme, dass Handeln immer (auch) als männlich oder weiblich gelesen, also der dichotomen Struktur von Männlichkeit und Weiblichkeit zugeordnet wird.!

5 Michel Foucault begreift Diskurse als gesellschaftliches Ordnungsprinzip, dem insofern die Rolle zukommt „ Institutionen, ö konomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen herzustellen (Foucault 1997: 68) “ .

6 Anrufung wird hier und im Folgenden anknüpfend an Judith Butler verwendet. Durch die Anrufung vollzieht sich die vergeschlechtlichte Subjektvierung - bestimmte (vergeschlechtlichte) Normen werden den Subjekten als natürlich eingeschrieben (vgl. Butler 1995: 29).!

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Details

Titel
Krise und Geschlecht. Eine kritische Intervention in geschlechtsspezifische Deutungskämpfe um die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut)
Veranstaltung
Kritische Ansätze in der Internationalen Politischen Ökonomie
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
19
Katalognummer
V314185
ISBN (eBook)
9783668128019
ISBN (Buch)
9783668128026
Dateigröße
703 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
krise, geschlecht, eine, intervention, deutungskämpfe, finanz-, wirtschaftskrise
Arbeit zitieren
Nicola Nagy (Autor:in), 2013, Krise und Geschlecht. Eine kritische Intervention in geschlechtsspezifische Deutungskämpfe um die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/314185

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