Ungarns Verfassungsänderungen und die Reaktionen der EU

Eine Beurteilung


Hausarbeit, 2015

22 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Quellenwürdigung

1 Einleitung

2 Ungarns Politik seit dem Postkommunismus bis zur Parlamentswahl 2010

3 Die Verfassungsänderungen der Fidesz-Regierung
3.1 Das neue Grundgesetz 2012
3.2 Die vierte Verfassungsänderung
3.3 Die fünfte Verfassungsnovelle

4 Aktuelle Vorgänge und die Stellung der Demokratie in Ungarn

5 Fazit

Quellenverzeichnis

Abbildungsquellen

Abstract

Die vorliegende Arbeit analysiert die Verfassungsänderungen in Ungarn und evaluiert, inwiefern die Maßnahmen der EU als Reaktion auf diese wirksam greifen, um die demokratischen und grundsätzlichen Werte der Union einzuhalten.

Mit den Parlamentswahlen im Jahr 2010 vollzieht sich in der ungarischen Regierung ein seit dem Postkommunismus anhaltender Wandel in der Politik. Die rechtskonservative Fidesz-Partei übernimmt eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Sie erlässt 2012 das Grundgesetz Ungarns, eine merklich veränderte Verfassung.

Das Grundgesetz bekräftigt den Einfluss der Fidesz-Partei auf zukünftige Regierungen ohne Verfassungsmehrheit. Zudem weist sie einige Mängel hinsichtlich demokratischer Prinzipien auf, die international kritisiert und von der Europäischen Union beanstandet werden. Die Maßnahmen der EU zeigen sich über weite Teile erfolgreich, so gelingt die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe und die Zwangsverrentung von Richtern wird als unzulässig erklärt.

Der problematische Eingriff des Parlaments, der Gesetzgebung, in die Gewaltenteilung bleibt jedoch bestehen. So bekräftigt die ebenfalls untersuchte 4. Verfassungsnovelle den Einfluss des Fidesz in die Judikative. Insbesondere wird das Verfassungsgericht in seinen Prüfungskompetenzen eingeschränkt.

Andere kontroverse Neuerungen wie die Zusatzsteuer für die ungarische Bevölkerung bei international verhängten Strafen an Ungarn werden durch das Einschreiten der Union verhindert. Die ungarische Regierung streicht diese Regulierung mit der 5. Verfassungsnovelle ebenso aus dem Grundgesetz wie das Verbot für Wahlwerbung in privaten Medien.

Schlussendlich wird jedoch nicht eindeutig ersichtlich, weshalb die EU sich nach der 5. Verfassungsnovelle nicht weiter mit Verbesserungsmaßnahmen zum ungarischen Grundgesetz auseinandersetzt. So bleibt etwa das Gesetz zur Kriminalisierung von Obdachlosen trotz Bedenken zur Übereinstimmung mit der menschlichen Würde ebenso erhalten wie die Kompetenzeinschränkung des Verfassungsgerichts. Auch die momentanen Tendenzen in der ungarischen Politik bezeugen, dass Ungarn noch Nachbesserungen in der Einhaltung demokratischer Grundsätze und Werte der EU vorzunehmen hat.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Verteilung der Sitze im Parlament, 2010

Abb. 2: Freedom House Demokratie-Rating für Ungarn

Abb. 3: Meinungsumfrage zur EU

Abb. 4: Verteilung der Sitze im Parlament, 2014 (vor Mandats-Nachwahl)

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quellenwürdigung

Zur Geschichte des politischen Systems in Ungarn seit dem Postkommunismus bis zur Parlamentswahl 2010 findet sich bereits ein breites Spektrum an Literatur. Für die Recherche zu diesem Bereich verwendet wurde vor allem der Beitrag von Körösényi, Fodor & Dieringer im Werk „Die politischen Systeme Osteuropas“ (2010).

Die Quellen für die Betrachtung der Änderungen in der ungarischen Verfassung stammen teils von ungarischen Politikern und Politikwissenschaftlern, teils von internationalen Experten. Hervorzuheben in diesem Bereich sind die Aufsätze in der gesellschaftswissenschaftlichen und politischen Fachzeitschrift „Osteuropa“. Zur Überprüfung der einzelnen gesetzlichen Regulierungen wurden die rechtswissenschaftliche Analyse von Jakab & Sonnevend, sowie deutsche bzw. englische Übersetzungen des Grundgesetzes Ungarns und dessen Novellen, herangezogen.

Ebenfalls in den Bereich der Primärquellen fallen die Gesetzestexte und Richtlinien der europäischen Union (Charta der Grundrechte, EUV, EMRK). Diese wurden zur Analyse der Konformität des ungarischen Grundgesetzes mit den Vorstellungen der EU ebenso verwendet wie offizielle Pressemitteilungen und veröffentlichte Protokolle der Union.

Unterstützend dazu wurden Berichte aus dem Internet herangezogen, die zum Großteil von politischen Stiftungen (KAS, FES) oder der Bundeszentrale für politische Bildung stammen. Aufgrund der tagesaktuellen Thematik fanden im vierten Kapitel zusätzlich Berichte der „Tagesschau“ Eingang in die Arbeit.

1 Einleitung

Nach den Parlamentswahlen 2010 nutzte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Partei Fidesz die Verfassungsmehrheit für einige grundlegende Einschnitte. Die Verfassung Ungarns wurde nach den Vorstellungen der nationalkonservativen Regierung angepasst. Insgesamt wurden am neuen ungarischen Grundgesetz von 2012 fünf Verfassungsänderungen vorgenommen.

Der Inhalt des Grundgesetzes und der vierten Verfassungsnovelle sorgten für internationale Kritik (KAS, 2013, Abs.1). Beobachter befürchten, dass die Fidesz-Regierung damit die ungarische Politik nachhaltig verändert und ihren Einfluss weit über die aktuelle Legislaturperiode hinaus sicherstellt. Ebenfalls diskutiert wurde, inwiefern die neuen Regelungen gegen demokratische Prinzipien und Grundwerte verstoßen (Küpper, 2013, S. 135-144).

Die Analyse der Konformität des Grundgesetzes mit demokratischen Werten ist auch Basis und Ausgangspunkt folgender Arbeit. Speziell wird beleuchtet wie die Europäische Union auf die Verfassungsänderungen reagiert hat und ob diese Maßnahmen als effektiv und nachhaltig wirksam zu bewerten sind.

Zu diesem Zweck folgt der Text einer lockeren chronologischen Struktur, beginnend mit einem kurzen Überblick über die geschichtlichen Hintergründe der europäischen Union. Anschließend werden die Verfassungsänderungen und Reaktionen der EU untersucht, sowie die aktuelle Situation in Ungarn dargestellt, um den Einfluss der Union auf die Wahrung der gemeinsamen demokratischen Werte in Ungarn evaluieren zu können.

2 Ungarns Politik seit dem Postkommunismus bis zur Parlamentswahl 2010

In der Nachkriegszeit von 1949-1989 war Ungarn ein kommunistisch geführter Einparteienstaat, ab 1957 unter der autoritären Leitung János Kádárs. Die finanzielle und wirtschaftliche Krise der 80er Jahre führte verstärkt zu aufkeimenden demokratischen Gegenbewegungen. Vollzogen wurde die demokratische Transformation schließlich am 18.09.1989 (Körösényi, Fodor & Dieringer, 2010, S.357-359).

Das Resultat der Verhandlungen zwischen der kommunistischen Partei MSZMP und der demokratischen Opposition stellte die Etablierung einer veränderten und demokratischen Verfassung dar. Die Stabilität der Inhalte ist durch eine Zweidrittel-Grenze gesichert und somit abhängig von den jeweiligen Machtverhältnissen zwischen den Parteien (Körösényi, Fodor & Dieringer, 2010, S.360) im Parlament.

Nach einer ersten Legislatur-Periode unter Führung der FIDESZ-Partei (1998-2002) wurde das Land zwischen 2002 und 2010 von einer linksliberalen Koalition regiert und trat 2004 der EU bei. Die Regierung verpasste es jedoch, politisch-ökonomischen Fortschritt einzuleiten und verlor durch zahlreiche Korruptionsaffären zunehmend an Vertrauen in der Bevölkerung (White, 2013, S.24-27). Die politische Landschaft spaltete sich in ein zweipoliges Parteienlager zwischen Linksliberalen und Rechtsnationalen. (Verseck, 2013, S.58, 64).

Auch die Parlamentswahlen im April 2010 spiegelten diese Spaltung Ungarns wieder. In zwei Wahlgängen im April 2010 erreichte das Wahlbündnis aus der nationalkonservativen Fidesz-Partei und ihrem kleinen Bündnispartner, der KDNP, mehr als zwei Drittel der Parlamentssitze. Allgemein zeugten diese Wahlen von einem merklichen „Rechtsruck“ (Lang, 2010,S.3 ) in der Politik. Währenddessen die sozialdemokratische MSZP auf knapp 15% fiel, zog zudem zum ersten Mal in ihrer Geschichte die rechts-radikale Jobbik-Partei in das Parlament ein.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Verteilung der Sitze im Parlament, 2010

3 Die Verfassungsänderungen der Fidesz-Regierung

3.1 Das neue Grundgesetz 2012

Die Fidesz-Partei unter Führung des Ministerpräsidenten Viktor Orbán besaß somit nach der Parlamentswahl eine verfassungsgebende Mehrheit. Sie nutzte diese, um bereits am 25. April 2011 eine veränderte Verfassung zu präsentieren (Grundgesetz Ungarns, 2011, S.1). Das neue Grundgesetz trat zum 01.01.2012 in Kraft und sorgte für einige Kontroversen, die im Folgenden untersucht werden.

Die rasche Veröffentlichung bei der Einführung hatte nach Meinung der Opposition zur Folge, dass die Fertigstellung der neuen Verfassung quasi ohne parlamentarische Rücksprache und öffentliche Debatte stattfand. Zudem wurde „auch die Rechtswissenschaft […] kaum zu Rate gezogen.“ (Küpper 2011, S. 137) Als Beleg für die Bestätigung aus dem Volk führte die Regierung die Verteilung eines Fragebogens an, dessen suggestive Fragestellung und der Mangel an Antwortalternativen jedoch ebenfalls von Oppositionellen in Frage gestellt wurden.

Die neue Verfassung beginnt mit der ideologisch und nationalhistorisch aufgeladenen Präambel, dem nationalen Glaubensbekenntnis (Grundgesetz Ungarns, 2012, S.5). Die Präambel schließt Minderheiten in Ungarn mit der Definition des Nationenbegriffs als Ethnonation von der „symbolischen Nation“ (Küpper ,2011, S.138) aus, rechtlich gelten sie jedoch als Staatsbürger Ungarns. Eine Konsequenz aus der kulturellen Definition der Nation ist das Wahlrecht für Auslandsungarn, welches insofern als problematisch erachtet werden kann, da diese gar nicht den ungarischen Rechten unterworfen sind. Desweiteren betont die Präambel die katholisch-christliche Staatlichkeit. Die Wortwahl und klare Stellungnahme hinsichtlich des als richtig erachteten Glaubens wird von Kritikern als Bruch mit dem Prinzip der „religiös-weltanschaulichen Neutralität“ (Halmai, 2011, S.147) interpretiert.

Die Fidesz-Partei richtete mit ihrem Grundgesetz den Fokus auf Veränderungen in der Justiz (Jakab & Sonnevend, 2012, S.86-99). : Von internationalen Rechts- und Politikwissenschaftlern in Bezug auf rechtsstaatliche Prinzipien, demokratische Werte oder Grundrechte kritisch betrachtet wurden unter anderem:

- „Die ausdrückliche Zulassung von tatsächlich lebenslang dauerndem Freiheitsentzug wegen der Begehung vorsätzlicher gewalttätiger Straftaten in Art. IV Abs. 2 des Grundgesetzes.“ (Jakab & Sonnevend, 2012, S.88). Diese Regelung verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention der EU (EMRK, 2010, §3).
- Die Einschränkung der Prüfungskompetenzen des Verfassungsgerichts, da die Verfassungsrichter etwa Steuer- und Finanzgesetze nur noch auf die Konformität mit Rechten (z.B. das Recht auf Leben und die menschliche Würde) prüfen dürfen, die wirtschaftliche Gesetze in der Regel gar nicht betreffen können (Halmai, 2011, S.149).
- Personalpolitische Regelungen im Justizwesen (Sólyom, 2013, S.6-10): So wurde etwa im Zuge des Grundgesetzes die Anzahl der Verfassungsrichter von 11 auf 15 angehoben und das Nominierungsverfahren für diese Richter und ihren Vorsitzenden erneuert. Mit dieser Änderung verschaffte sich die Parlamentsmehrheit die Kontrolle über die Besetzung des Verfassungsgerichts. Der Wandel in der Postenvergabe (Toth, 2013, S.25-26) für die Führung in Verfassungsinstitutionen führte letztendlich zu einem neuen Obersten Richter und neun neuen Verfassungsrichtern. Die Opposition kritisierte erneut die fehlende Miteinbeziehung in die Entscheidung der Regierung und bemängelte die Besetzung der Stellen mit regierungsnahen Personen. Eine ähnliche Intention hatte das Vorhaben, das Renteneintrittsalter für Richter von 70 auf 62 Jahre herabzustufen, um 10% der Stellen neu zu besetzen und etwaige linksliberale oder sozialistische Richter auszusortieren.

Neben der jahrelangen Besetzung von Fidesz-freundlich gesinnten Personen an der Spitze des Justizwesens erhebt die rechtskonservative Regierung zusätzlich mehrere relevante Gesetze zu Kardinalgesetzen (Jakab & Sonnevend, 2012, S.93-96), die künftige Regierungen in ihren Entscheidungen einengen. Somit ist der Einfluss der Fidesz-Regierung auch in Zukunft noch sichergestellt. Kardinalgesetze können nur durch eine Zweidrittelmehrheit im Parlament abgeändert werden. Wie einleitend erwähnt ist das politische Lager Ungarns gespalten, der Handlungsspielraum für Regierungen ohne Zweidrittelmehrheit wird so definitiv begrenzt. Exemplarisch zu nennen ist hier das Haushaltsrecht bzw. die Aufgabe des Haushaltsrats (Art.44, Grundgesetz Ungarns, Der Staat):

„Ein Systembruch ist […], dass das Parlament keine Budgethoheit hat, sondern den Jahreshaushalt nur erlassen kann, falls der neu geschaffene Haushaltsrat zustimmt. […] Alle drei Posten [des Haushaltsrats] wurden 2011 neu mit treuen Fidesz-Anhängern besetzt. Ihre Amtszeit dauert weit über die gegenwärtige Legislaturperiode hinaus. Damit hat Fidesz eine Vetoposition, wenn nach den nächsten Wahlen eine andere Parlamentsmehrheit einen Haushalt verabschieden will […] Dass die Volksvertretung den Haushalt nicht alleine verabschieden kann, stellt den parlamentarischen Charakter des gesamten Systems in Frage, denn der Parlamentarismus ist aus der Budgethoheit der Volksvertretung entstanden.“ (Küpper, 2011, S.139)

Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle sagen, dass die Normen des ungarischen Grundgesetzes von 2012 zwar nicht wie in einigen Medien berichtet, zum Image einer Diktatur beitragen (Tagesanzeiger, 2012, Abs.1), die Ausübung der Zweidrittel-Mehrheit zum Erlass der oben genannten Regelungen allerdings durchaus Fragen über die demokratische Konformität aufwirft. Die EU-Kommission reagierte im Bereich der Personalvergabe im Justizbereich und stellte deren Unabhängigkeit unter weitere Beobachtung (Europäische Kommission, 2012, Abs. 3). Konkret wurde das Herabsetzen des Renteneintrittsalters als Diskriminierung am Arbeitsplatz erklärt und im November 2012 durch den Europäischen Gerichtshof verhindert (Bundeszentrale für politische Bildung, 2013, Abs. 10). Verzögert verkündete der Europäische Gerichtshof am 20.05.2014 im Fall Magyar gegen Ungarn ein Urteil, wonach die lebenslange Freiheitsstrafe illegitim ist (Europäischer Gerichtshof, 2014) .Von weiteren expliziten Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer demokratischen Werte in der ungarischen Verfassung sah die EU, trotz der aufgeführten Problematiken, vorerst ab.

3.2 Die vierte Verfassungsänderung

Nachdem das Verfassungsgericht im Dezember 2012 noch die Übergangsbestimmungen der ungarischen Regierung zurückwies, da diese „einen permanenten und keineswegs provisorischen Charakter“ (KAS, 2013a, Abs.4) aufweisen, verabschiedete die Fidesz-Partei am 11.März 2013 die vierte Verfassungsnovelle. Der Fokus in den Änderungen liegt wieder im Justizwesen und betrifft insbesondere das Verfassungsgericht. Sozialisten und die demokratische Koalition erschienen aus Protest nicht zur Abstimmung. Staatspräsident János Áder verzichtete auf sein Veto-Recht und unterzeichnete die Änderung am 14.03.2013. Da viele Regelungen so bereits in den Übergangsbestimmungen enthalten waren, zeigte sich der Fidesz überrascht über die kritischen Reaktionen.

Justizminister Navracsis begründete das Vorgehen damit, dass das Verfassungsgericht gemäß der Gewaltenteilung (Grundgesetz Ungarns, 2011, Artikel C) nur Einfluss auf die Prüfung, nicht aber auf die Verfassungsgebung selbst hat. Diese Tätigkeit bleibt dem Parlament in seiner Funktion als oberster Instanz der Volksvertretung vorenthalten. (Navracsics,2013, S.14-15). Die annulierten Übergangsbestimmungen sind formell angepasst worden und das Parlament konnte damit „die annullierten Rechtsnormen in seiner Eigenschaft als Verfassungsgeber im Ermessen auf Verfassungsebene regeln, indem es sie in den Kontext des Grundgesetzes integriert.“ (Navracsics,2013, S.14) Weitere Anpassungen sind insofern nicht vorgenommen worden, da sie sonst dem Sinn des ursprünglichen Gesetzes widersprechen.

Genau diese Praktik der Integration der Übergangsbestimmungen in das Grundgesetz ist als Kompetenzeinschränkung des Verfassungsgerichts zu werten (Sólyom, 2013, S.5-11). Durch die Aufnahme eigentlich vom Verfassungsgericht verworfener Regelungen in die Übergangsbestimmungen und letztlich in das Grundgesetz selbst setzt die Regierung die Prüfungs-Kompetenz des Verfassungsgerichts herab. Der frühere Staatspräsident László Solyom bemängelt dies als fehlende Trennung zwischen Legislative und Exekutive. Das Verfahren, die Prüfung durch das Verfassungsgericht mit der Praxis der Übergangsbestimmungen zu umgehen, kann als Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung betrachtet werden. Einem Umsturz in der Verfassungs-Prüfung entspricht dies auch deshalb, da das Verfassungsgericht historisch in Ungarn eine sehr starke Stellung in der Judikative einnimmt.

Die vierte Grundgesetzänderung versperrt nun auch definitiv die Überprüfung von Verfassungsänderungen an sich, nur formale Erfordernisse dürfen weiterhin geprüft werden. (Bundeszentrale für politische Bildung, 2013, Abs.2). Aus formellen Gründen zurückgewiesene Gesetze können nach Anpassung jedoch in das Grundgesetz integriert werden. (Sólyom, 2013, S.5-11) Dies gibt dem Parlament mithilfe der Zweidrittelmehrheit die Option, beliebige Bestimmungen in Form von Grundgesetzänderungen zu beschließen. Die Kompetenz des Verfassungsgerichts wird in der Praxis außer Gefecht gesetzt.

Die demokratische Legitimation und Prüfung des Verhaltens der Regierung ist nach Meinung des Justizministeriums ohnehin durch die Wähler und die europäische Gemeinschaft gewährleistet. (Navracsics, 2013, S.15-20) Weiter ist die Verfassungspraxis im Einklang mit der gängigen europäischen Verfahrensweise. Auch Österreichs Parlament kann mit einer Zweidrittel-Mehrheit Gesetze mit gleichem Geltungsrang ohne Prüfung vom Verfassungsgericht erlassen.

Als Folge der vierten Verfassungsänderung dürfen sich Richter zukünftig nur noch auf Urteile seit Inkrafttreten des neuen Grundgesetzes berufen (Toth, 2013, S.25-27). Vorherige Beschlüsse des Verfassungsgerichts verlieren ihre Geltung und müssen den veränderten Regelungen entsprechend neu getroffen werden. Daraus ergibt sich ebenfalls eine Einschränkung der Institution, da die Gesetzgebung nun nicht mehr in gleichem Maße reguliert werden kann.

Die Spitze des Nationalen Justizbüros (Tamás, 2013, S.3) erhält außerdem die Befugnis, Verhandlungen Gerichten ihrer Wahl zuzuweisen. Anstoß dazu gab der finanzielle Gesichtspunkt, da viele Gerichte überlastet sind. Zweifelhaft ist jedoch, inwiefern die Unabhängigkeit der Justiz durch die regierungstreue Leiterin gewährleistet ist.

Formell abgeändert wurde auch das Gesetz zur Kriminalisierung von Obdachlosen in die vierte Verfassungsnovelle eingebaut (Toth, 2013, S.25). Der Staat und kommunale Selbstverwaltungsorgane können somit zum Schutz der öffentlichen Ordnung das Leben im öffentlichen Raum für rechtswidrig erklären. Das veränderte Grundgesetz schreibt ferner fest, dass Wahlwerbung vor Parlaments- und Europawahlen im Privatfernsehen und Rundfunk verboten ist (KAS, 2013, S.1 ) und diese nur noch kostenfrei über die öffentlich-rechtlichen Sender ausgestrahlt werden dürfen. Unklar definiert bleibt die Gesetzesänderung, wonach der Staat zum Schutz der Nation und Gemeinschaft in die Meinungsfreiheit eingreifen darf (Bundeszentrale für politische Bildung, 2013, Abs.4).

Wird Ungarn zu einer Strafzahlung durch internationale Institutionen oder Gerichte verurteilt, ist nach Artikel 17 der vierten Verfassungsänderung (Boros, 2013, S.3) eine Zusatzsteuer zur Aufbringung der notwendigen finanziellen Mittel möglich.

Die EU-Kommision, namentlich Jose Manuel Barroso und Viviane Reding, äußerten knapp einem Monat nach der vierten Verfassungsnovelle Bedenken über mehrere der aufgeführten Änderungen (Reding, 2013) : Sie zweifelt den Sinn der Klausel des Art. 17 in der vierten Verfassungsnovelle an, wonach der ungarischen Bevölkerung eine Zusatzsteuer auferlegt wird, wenn der Staat gegen EU-Recht verstoßt. Das Gesetz würde implizieren, dass die Bürger sowohl unter der EU-Rechts-Verletzung des Staates leiden als auch für diesen Verstoß eintreten müssen. Dies könnte die Autorität des Europäischen Gerichtshofs untergraben und einen Verstoß gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit in Artikels 4 (3) des Vertrags über die Europäische Union darstellen. Zweitens äußert die Kommision ihre Besorgnis über die Befugung der Präsidentin des Nationalen Justizamts geäußert, juristische Fälle auf Gerichte ihrer Wahl zu verteilen. Jeder hat das Recht vor seiner Verhandlung darüber informiert zu sein, welche Richter den Fall anhören. Dies ist wichtig, um Willkür zu verhindern. Als dritten und letzten Punkt kündigte die europäische Kommision an, die Beschränkungen der Wahlwerbung (Artikel 5.1 der vierten Gesetzesänderung) hinsichtlich der Informationsfreiheit der Bevölkerung zu überprüfen. Der Marktanteil der privaten Medien, in denen die Einschränkung gelten würde, beträgt fast 80% in Ungarn.

Die neuen Regelungen wurden der Venediger Kommision zur Untersuchung der Übereinstimmung mit den Werten und Normen der EU vorgelegt und umfassend untersucht. (Venedig-Kommission, 2013, S.1-32) Außerdem setzt die EU Ungarn weiter unter Beobachtung (FES, 2013, S.3-4), was einer gemäßigteren Vorgehensweise gegenüber dem ursprünglich erwarteten Monitoring-Prozess entspricht. Das Verfahren gemäß Art. 7 des EUV, welches Ungarn bei Verstoß gegen die Grundrechte-Charta sogar die Stimmrechte entziehen würde, wurde zwar von Viviane Reding angesprochen, galt allerdings von Beginn an als sehr unwahrscheinlich.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Ungarns Verfassungsänderungen und die Reaktionen der EU
Untertitel
Eine Beurteilung
Hochschule
Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg  (Studiengang: International Relations and Management)
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
22
Katalognummer
V314083
ISBN (eBook)
9783668128668
ISBN (Buch)
9783668128675
Dateigröße
1164 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ungarn, Europäische Union, Verfassungsänderungen, demokratische Werte, Verfassungsrecht, Fidesz, Demokratie, Verfassungsnovellen, Verfassungsgericht, Viktor Orban, Grundgesetz, Postkommunismus, Judikative, Justiz, EU, Kommission, Parlament, Gewaltenteilung
Arbeit zitieren
Joseph Ammer (Autor:in), 2015, Ungarns Verfassungsänderungen und die Reaktionen der EU, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/314083

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