Sowjetpädagogik für straffällige Jugendliche des 21. Jahrhunderts? Versuch einer unvoreingenommenen Betrachtung der Pädagogik Anton Makarenkos


Essay, 2015

13 Seiten, Note: 1,3

Anna Em (Autor:in)


Leseprobe


Streifzug im Antiquariat. Eine Reihe pädagogischer Schriften aus den 50er/60er Jahren der ehemaligen DDR: „Einführung in die Pädagogik“, „Heimerziehung“, „Einige wichtige Bedingungen für die Erziehung zur bewußten Disziplin“. Und immer wieder Makarenko. Die Augen der Inhaberin leuchten, als ich sie ihr auf den Tisch lege: „Die werden nicht mehr verlegt“.

Warum eigentlich nicht? Den Namen „Makarenko“ glaube ich zunehmend häufiger zu hören, wenn es um Forderungen nach Maßnahmen für „erziehungsresistente“ Jugendliche und junge Straftäter geht. Die nähere Beschäftigung mit dem Problembereich stellt Ambivalenzen in Aussicht…

Delinquenz- und Gewaltverhalten von Kindern und Jugendlichen ist sowohl in der Öffentlichkeit, als auch in der fachinternen Auseinandersetzung ein Dauerthema. Nicht immer steht dabei die öffentliche Wahrnehmung in einem realistischen Verhältnis zu den objektiven Tatbeständen. Unter Jugendkriminalität oder Jugenddelinquenz versteht man nach dem Jugendgerichtsgesetz (§1 Abs. 2) die Straftaten von Kindern (unter 14 Jahre), Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und Heranwachsenden (18 bis 20 Jahre). Gelegentlich werden auch noch die Delikte der sogenannten Jungerwachsenen (21 bis 24 Jahre) dazu gezählt, da angenommen wird, dass viele junge Menschen dieser Altersgruppe in ihrer psychosozialen Entwicklung noch eher den Jüngeren als den Erwachsenen gleichstehen. Während der Begriff Jugendkriminalität eher im polizeilichen Bereich Anwendung findet, spricht man in den Sozialwissenschaften vorrangig von delinquentem Verhalten, um gerade Straftaten von Kindern nicht als Kriminalität zu bezeichnen. Die Erscheinungsformen delinquenten Verhaltens sind vielfältig - Eigentumsdelikte in Form von Ladendiebstahl und Sachbeschädigung stellen statistisch gesehen die höchsten Fallzahlen. Für (mediale) Aufmerksamkeit sorgen jedoch weniger diese sogenannten Bagatelldelikte, sondern vor allem Fälle von öffentlich begangener schwerer Körperverletzung und Straßenkriminalität.

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht wird Delinquenz im Jugendalter als episodenhaftes Phänomen betrachtet, dass sich in der Regel verliert, bevor besondere Erziehungsmaßnahmen und Sanktionen notwendig werden. Sogenannte jugendliche „Rowdy-Phasen“, in denen deviante Verhaltensweisen erprobt werden, können demnach als nicht unübliche und vorübergehende Entwicklungsgeschehen während der Identitätsbildung betrachtet werden. Ein differenzierter Blick auf die

Statistik zeigt allerdings eine drastische Schieflage innerhalb der Fallzahlenverteilung: Aus dem polizeilichen Jahresbericht 2014 zu Jugenddelinquenz in Berlin wird ersichtlich, dass 40 bis 50% aller durch Jugendliche begangener Straftaten durch Intensivtäter begangen werden – und dies, obwohl deren prozentualer Anteil nur bei 3 bis 5% aller Tatverdächtigen unter 21 Jahren liegt. Diese kleine Tätergruppe mit relativ hohem Fallzahlenanteil zeichnet sich dadurch aus, dass sie „beharrlich und mit einem hohen Maß an krimineller Energie den Rechtsfrieden besonders störende Straftaten begeht, z.B. Raub und sonstige Rohheitsdelikte“ - i. d. R. mehr als 10 Straftaten pro Jahr. Ähnlich eingestuft werden sogenannte Schwellentäter, die mit 5 bis 10 Gewalttaten pro Jahr wiederholt auffallen und bei denen die Wahrscheinlichkeit einer kriminellen Karriere sehr hoch ist. In der Polizeistatistik werden als dritte Gruppe außerdem „kiezorientierte Mehrfachtäter“ geführt, die in ihrem Wohnumfeld durch zwar minderschwere, aber das allgemeine Sicherheitsgefühl beeinträchtigende Straftaten auffallen.

Insgesamt ist die Jugenddelinquenz in Berlin zwar leicht rückläufig – was den in den letzten Jahren offensiver eingesetzten Präventions- und Trainingsprogrammen sowie einer dezidierten Strafverfolgung (dabei: Erziehung vor Strafe!) ein Maß an Wirksamkeit zuspricht – nichtsdestotrotz spricht die Berliner Staatsanwaltschaft im Raum Berlin immer noch über eine Zahl von knapp 500 jugendlichen Intensivtätern, etwa 80 Schwellentätern und etwas mehr als 300 kiezorientierten Mehrfachtätern. Angesichts der genannten Zahlen und Zusammenhänge erscheint allerdings eine weniger dramatisierende als vielmehr sachliche und differenzierte Betrachtung von Jugenddelinquenz in der öffentlichen Diskussion äußerst angebracht. Ein Aspekt, der angesichts der unkoordiniert wirkenden aktuellen Zuwanderungspolitik m. E. besondere Aufmerksamkeit verdient, ist der, dass Heranwachsende mit Migrationshintergrund in den genannten Risikogruppen den zahlenmäßig größten Anteil bilden - laut Staatsanwaltschaft rund 80% der Intensivtäter, dabei sind 43% arabischer Herkunft, 32% stammen aus der Türkei. Gerade diese Fakten heizen die öffentliche Diskussion im Allgemeinen maßlos an und führen oftmals zu unreflektierten und unsinnigen Pauschalurteilen im öffentlichen Diskurs. Rassistisch konnotierte Begriffe wie „Ausländerkriminalität“ gehören bei Weitem nicht nur zum Propagandarepertoire rechtsextremistischer Gruppierungen, sondern werden von Politikern und Medien genutzt und finden allzu leicht Eingang in den normalen Sprachgebrauch – mit dem Ergebnis, dass ganzen Personengruppen nichtdeutscher

Herkunft pauschal eine höhere Kriminalitätsbelastung im Vergleich zur deutschen Bevölkerung unterstellt wird. Gewaltverhalten ist wohl kaum als ein ethnisch verursachtes, sondern vielmehr als soziales, multifaktoriell begründetes Problem zu sehen. Aus der Herkunftskultur übernommene (patriarchalische) Verhaltensnormen gehören ebenso dazu wie migrationsspezifische Benachteiligungsprozesse im Bildungssystem. Heranwachsende nichtdeutscher Herkunft befinden sich häufiger in einer sozialen Randlage und erleben Segregation auch in ihrem Lebensumfeld, ihren Stadtteilen, im Kiez. Trotz – bzw. aufgrund! - dieser Brisanz darf die Problemstellung um Jugenddelinquenz und Migration nicht tabuisiert, sondern klar anerkannt und disziplinär angegangen werden.

Wie bereits angemerkt, ist jugendliches Gewaltverhalten und Delinquenz zwar ein aktuelles, aber kein neues Phänomen. Die noch relativ junge Geschichte der Erziehungswissenschaft und Sonderpädagogik ist geprägt von einem sich wandelnden Verständnis für Verursachungszusammenhänge, Erscheinungsformen und eine daran geknüpfte spezifische Begriffsbildung. Kinder und Jugendliche, deren Verhaltensweisen aktuell als verhaltensauffällig oder –gestört, als deviant oder delinquent bezeichnet werden, wurden im Laufe der Herausbildung einer spezifischen Verhaltensgestörtenpädagogik mit verschiedensten Termini charakterisiert. Waren es für den Philanthropen Pestalozzi „sittlich verwahrloste“, „verwilderte“, „schwierige Kinder“, deren abweichendes Verhalten er stark von gesellschaftlichen und familiären Missständen verursacht sah, so charakterisierte Herbart diese Kinder in einem Kontinuum zwischen sittlich – moralischen Kategorien und nüchterner Rationalität als „früh verwahrloste Subjekte“, „ungezogene Kinder“ und „unerzogene Wildlinge“. Auch Wichern vertrat die sittlich – moralische Perspektive, jedoch mit stark religiöser Motivierung: Kinder wurden durch elterliches Verschulden zu „moralisch todkranken“ und „mißratenen“, die „gerettet“ werden mussten. Im Ausgang des 19. Jahrhunderts leitete Strümpells „Pädagogische Pathologie“ ein stärker wissenschaftliches Interesse an den „Kinderfehlern“, und damit die Herausbildung einer spezifisch heilpädagogischen Disziplin ein. Bis in 1940er Jahre zeigte sein Konzept der „psychopathischen Minderwertigkeiten“ Wirksamkeit und nährte in der Folgezeit die stärker werdende psychiatrische Betrachtungsweise, unter der Kindern mit Verhaltensstörungen eine krankhafte Disposition und „Abnormität“ zugeschrieben wurde. Die Psychopathielehre brachte

eine Fülle neuer Begriffe hervor, die das Klientel differenziert zu charakterisieren suchten, aber letztlich über die Auflistung negativer Persönlichkeitseigenschaften, wie bspw. „willensschwach und haltlos“, nicht hinauskamen. Parallel dazu gab es Versuche, diese Kinder anhand ihrer Resistenz gegenüber erzieherischen Maßnahmen einzuteilen: Die noch lange nachwirkende Begriffe „Schwererziehbare“, „Schwersterziehbare“ und „Unerziehbare“ wurden geprägt. Trotz der vorrangig psychiatrischen Forschungen wurde das ältere Konzept der Verwahrlosung – mit dem Verweis auf die Fürsorge- und Erziehungsverantwortung des sozialen Umfelds / der Eltern - nicht gänzlich außer Acht gelassen. Man versuchte in der Folge, das Milieu - und - Anlage - Gefüge der „faulen“, „arbeitsscheuen“, „verlogenen“, „rohen“ und „gewalttätigen“ Jugendlichen wissenschaftlich zu untersuchen. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts lenkte man erstmals den Blick auf das Seelenleben von „verwahrlosten“, „seelisch erkrankten“ Kindern: Psychoanalyse und Individualpsychologie nahmen mit neuen Erklärungsmustern für abweichendes Verhalten Einfluss auf dem Gebiet der Heilpädagogik. Der Bruch mit jedwedem humanistischen Gedanken bahnte sich bereits zu jener Zeit an und gipfelte in der dunkelsten Phase der Geschichte der Behindertenpädagogik: Die nationalsozialistisch geprägte Heilpädagogik bekämpfte „Abnorme“, „konstitutionell Minderwertige“, „Psychopathen“, „Schädlinge“ als auszumerzende Elemente des Volkes. Von dieser menschenverachtenden Sicht auch auf verhaltensauffällige Heranwachsende versuchte man sich 1945 zu distanzieren. Diese Bestrebungen gab es in beiden neu entstandenen deutschen Staaten gleichermaßen, der Umgang mit dem unrühmlichen Erbe der NS – Heilpädagogik wurde jedoch unterschiedlich praktiziert: Aus heutiger Sicht scheinen die nationalsozialistischen Verbrechen in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR in weitaus größerem Maße offen thematisiert, die Bevölkerung mit den Tatsachen konfrontiert worden zu sein. Man versuchte, Grundlagen zu legen für die kollektive „Umerziehung zu friedliebenden sozialistischen Menschen“. In der sich neu formierenden Heilpädagogik rückte man sowohl im ost- als auch im westdeutschen Raum weitestgehend vom Psychopathiebegriff ab und versuchte, einen neuen Sprachgebrauch zu etablieren.

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Details

Titel
Sowjetpädagogik für straffällige Jugendliche des 21. Jahrhunderts? Versuch einer unvoreingenommenen Betrachtung der Pädagogik Anton Makarenkos
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Rehabilitationswissenschaften)
Veranstaltung
Seminar
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
13
Katalognummer
V313867
ISBN (eBook)
9783668126572
ISBN (Buch)
9783668126589
Dateigröße
710 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Makarenko, Sowjetpädagogik, Delinquenz, Disziplin
Arbeit zitieren
Anna Em (Autor:in), 2015, Sowjetpädagogik für straffällige Jugendliche des 21. Jahrhunderts? Versuch einer unvoreingenommenen Betrachtung der Pädagogik Anton Makarenkos, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/313867

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