Wie Vertrauenspersonen die Gefühlslage von Jugendlichen beeinflussen. Der Zusammenhang von Selbstwert, Perfektionismus, Depression und Suizid


Diplomarbeit, 2004

190 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I. PROBLEMHINTERGRUND

1. Religiosität
1.1. Aufgaben der Religionspsychologie
1.2. Historisches
1.3. Von Religion, Religiosität und Spiritualität - zur Komplexität der Begriffsbestimmung
1.4. Spiritualität versus Religiosität
1.5. Theorien und Modelle zu Religion und Religiosität
1.5.1. Sigmund Freud: Religion als Illusion
1.5.2. Carl Gustav Jung: Gott als Wirklichkeit der Seele
1.6. Ansätze einer Glaubensentwicklung
1.6.1. Strukturgenetische Stufentheorie von Fowler
1.6.2. Stufen der religiösen Entwicklung nach Oser und Gmünder (1984)
1.7. Ansätze zur Erfassung von Religiosität bzw. religiösen Phänomenen
1.7.1. Das Konzept der extrinsischen und intrinsischen Religiosität
1.7.2. Mehrdimensionale Ansätze zur Erfassung religiöser Einstellungen
1.8. Religiosität und Gesundheit - ein historischer Abriss
1.9. Modell einer integralen Gesundheit am Gesundheitsmodell Schwarzers
1.9.1. Einige empirischer Forschungsergebnisse

2. Suizidalität - Lösung zum höchsten Preis
2.1. Historische Betrachtung des Phänomens Suizid
2.2. Zur Begriffsbestimmung und Komplexität
2.3. Suizid versus Suizidversuch
2.4. Epidemiologie
2.4.1. Einige Zahlen
2.5. Risikogruppen suizidalen Verhaltens
2.6. Suizidalität und Religiosität
2.7. Erklärungsmodelle suizidalen Verhaltens
2.7.1. Erklärungsmodelle suizidalen Verhaltens Jugendlicher
2.7.1.1. Das präsuizidale Syndrom
2.7.2. Psychoanalytische Erkenntnisse
2.7.3. Weitere Verursachungsmomente
2.8. Suizidalität und Depressivität

3. Vom Erscheinungsbild der Depression
3.1. Die „weibliche Depression“?
3.2. Psychosoziale Beeinträchtigungen
3.3. Epidemiologie
3.4. Ätiologie
3.4.1. Psychoanalytischer Ansatz
3.4.2. Behavioristischer Ansatz: Verstärker-Verlust-Modell der Depression
3.4.3. Kognitive Ansätze: Theorie von Beck
3.4.3.1. Das Modell der gelernten Hilflosigkeit von Seligman
3.5. Melancholie und Religion - Historisches
3.6. Depression - Religiosität - Suizidalität
3.7. Depressivität, Suizidalität und Selbstwert

4. Selbstkonzeptforschung - geschichtliche Entwicklung und Definition
4.1. Genese des Selbstkonzeptes
4.2. Das Selbstwertgefühl - der affektiv-evaluative Aspekt des Selbstkonzeptes
4.3. Selbstwertmodell und -theorien
4.4. Einige weitere Forschungsergebnisse zum Thema Selbstwert
4.5. Von der Annahme des Schattens zu einem spirituellen Selbst
4.6. Selbstwertgefühl und Religiosität

5. Grundsätzliches zum Thema Perfektionismus
5.1. Perfektionismus und Religiosität
5.2. Perfektionismus im Kontext von Depressivität, Suizidalität und Selbstwerterleben

II. FRAGESTELLUNGEN UND HYPOTHESEN

6. Allgemeine Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung
6.1. Konkrete Fragestellungen
6.2. Hypothesen

III. DURCHFÜHRUNG DER UNTERSUCHUNG

7. Beschreibung der Stichprobe

8. Instrumente der Untersuchung
8.1. Demographischer Fragebogen
8.2. Skala zum spirituellen Wohlbefinden (SWB)
8.2.1. Konzeptualisierung und Entwicklung der Skala zum spirituellen Wohlbefinden
8.3. Fragebogen zur Beurteilung der Suizidgefahr (FBS)
8.4. Beck’sches Depressionsinventar (BDI)
8.5. Frankfurter Selbstkonzeptskalen von Deusinger (FSKN)
8.5.1. Frankfurter Selbstkonzeptskala zur allgemeinen Selbstwertschätzung (FSSW)
8.6. Multidimensionale-Perfektionismus-Sala (FMPS-D)

9. Ablauf der Untersuchung

10. Statistische Auswertung
10.1. Versuchsplan
10.1.1. Gruppeneinteilung der unabhängigen Variable Selbstwertgefühl
10.1.2. Gruppeneinteilung der unabhängigen Variable spirituelles Wohlbefinden

IV. ERGEBNISSE

11. Deskriptive Daten
11.1. Stichprobenbeschreibung
11.1.1. Geschlecht
11.1.2. Alter
11.1.3. Vertrauensperson

12. Ergebnisse der Hypothesenprüfung
12.1. Zusammenhangshypothesen 1 bis 5
12.2. Zusammenhangshypothese 6
12.3. Prüfung der Voraussetzung für varianzanalytische Verfahren
12.3.1. Unterschiedshypothesen 7, 8 und 9
12.4. Unterschiedshypothese 10

13. Reliabilitäts- u. Faktorenanalyse der Skala zum spirituellen Wohlbefinden

V. DISKUSSSION DER ERGEBNISSE

14. Deskriptive Daten
14.1. Geschlecht
14.2. Alter
14.3. Vertrauensperson

15. Depressivität und Suizidalität

16. Selbstwert, Perfektionismus und Spiritualität im Kontext jugendlicher Depressivität und Suizidalität

17. Von der Bedeutung einer Vertrauensperson

18. Abschließender Kommentar

19. Zusammenfassung

20. Literaturverzeichnis

21. Anhang

I. PROBLEMHINTERGRUNG

1. Religiosität

1.1. Aufgaben der Religionspsychologie

Deusinger und Deusinger (1996):

Die Religionspsychologie geht von der Annahme aus, dass menschliches Verhalten oder Erleben durch die Beziehung zu außer- oder überweltlichen Wirklichkeiten beeinflusst sein kann. Sie forscht nicht wie die Theologie nach der göttlichen Wahrheit, nein, sie fragt nach der menschlichen Wirklichkeit, in der ein ’Glaube’ - oder ein ’Unglaube’ - an eine göttliche Existenz beobachtet werden kann. (S.129)

Die Religionspsychologie setzt voraus, dass Individuen ihren Glauben an Gottheiten bekennen, verleugnen oder verneinen und dementsprechendes Verhalten zeigen.

Grom (1992) sieht die Aufgabe der Religionspsychologie darin, „das Erleben, Erkennen und Verhalten, in dem sich Menschen zu etwas Übermenschlichem in Beziehung glauben, erfahrungswissenschaftlich zu beschreiben sowie nach seinen psychosozialen und intrapsychischen Bedingungen zu erklären“ (S. 368).

So gesehen ist die Religionspsychologie der Psychologie zuzuordnen. Sie befasst sich z.B. mit Fragen, welche Motive religiösem Verhalten zugrunde liegen, wie es zur Entwicklung von Religiosität im menschlichen Seelenleben kommt und sich im Laufe dieser Entwicklung verändert, welche Funktion Religion für das Individuum in der Gemeinschaft ausübt, und sie beschäftigt sich mit der Entstehung pathologischer, seltener und psychohygienischer Formen von Religiosität. Gerade der Erkundung religiöser Einstellungen und deren Einfluss auf das psychische Wohlbefinden sollte nach Grom (1992) seitens der Religionspsychologie besondere Beachtung geschenkt werden.

Nicht in den Aufgabenbereich der Religionspsychologie fällt, beobachtbare Phänomene nach theologischen Prinzipien zu interpretieren bzw. religiöse Behauptungen, Erfahrungen und Erlebnisse zu verifizieren oder falsifizieren; wohl aber sollte/muss im Rahmen psychologischer Forschungstätigkeit der religiöse Aspekt berücksichtigt und ernstgenommen werden (vgl. Grom, 1992).

1.2. Historisches

Die Religionspsychologie kann in gewisser Weise auf eine lange Geschichte zurückblicken. Vorwissenschaftliche Stadien sind schon seit der Antike bekannt. Aufgrund ihrer Entwicklung innerhalb von Theologie, Philosophie und den allgemeinen Religionswissenschaften wird das eigentliche wissenschaftliche Stadium aber erst ab Ende des 19. Jahrhunderts relevant (vgl. Holm, 1990).

Im Amerika der Jahrhundertwende etablierte sich die Religionspsychologie - als Verdienst des Theologen Stanley Hall (1864-1924), der als ihr Begründer angesehen werden kann - als eigene Wissenschaft innerhalb der Psychologie.

Der Psychologe und Philosoph William James (1842-1910) - der bekannteste unter Halls Schülern - beeinflusste schließlich mit seinem 1902 veröffentlichten Buch „The Varieties of Religious Experience“ sehr stark die religionspsychologische Forschung (vgl. Fraas, 1990; Holm, 1990).

Französische Wissenschafter - wie beispielsweise Pièrre Janet (1859-1947) mit seinen Fallstudien über den Einfluss mystischer Erlebnisse auf die Psyche bzw. jene Untersuchungen zur moralischen und kognitiven Entwicklung von Kindern des Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896-1980) - übten ebenfalls einen Einfluss auf das Aufkommen religionswissenschaftlicher Arbeiten aus.

In Deutschland kam ein Interesse für religionsspezifische Fragestellungen innerhalb der psychologischen Forschungsarbeit erst in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts auf. Wilhelm Wundt (1832-1920) etwa - Begründer der experimentellen Psychologie - widmete sich in seiner „Völkerpsychologie“ jenen psychischen Gesetzmäßigkeiten, welche der Entwicklung einer Religion zugrunde liegen.

Ein wichtiger Nachfolger der deutschen Schule stellt neben Oswald Külpe (1862-1915) vor allem der Theologe Karl Girgenson dar, aus dessen Arbeiten in Dorpat die sogenannte experimentelle Schule entstand. Eines der Hauptanliegen dieser „Dorpater Schule“ war es, den Einfluss von Gedanken und Gefühlen in einem religiösen Geschehen zu erforschen; wobei diese Art religionspsychologischer Forschung zu dieser Zeit hauptsächlich von Theologen verfolgt wurde.

In der Zwischenkriegszeit wuchs auch der Einfluss der Tiefenpsychologie auf religionsspezifische Fragestellungen. Mit seinem Werk „Totem und Tabu“ übte Freud (1913, zitiert nach Holm, 1990) einen großen Einfluss auf die Religionspsychologie dieser Zeit aus.

Mit Ausbruch des 2. Weltkrieges bzw. durch das Aufkommen des Nationalsozialismus kam es schließlich zu einer gewissen Stagnation innerhalb religionspsychologischer Forschungstätigkeit im deutschsprachigen Raum, was als einer der hinreichende Gründe einer nach wie vor fehlenden institutionellen Verankerung gesehen werden könnte; empirisch religionspsychologische Forschung wurde im Laufe der Zeit erst langsam und spärlich wieder aufgegriffen - nicht zuletzt aufgrund einer gewissen Tabuisierung der Thematik.

„Nicht um Gottes willen, der das wahrhaftig nicht nötig hat, wohl aber um des Menschen willen, damit er psychisch und somatisch gesund bleibt oder wieder gesund wird!“ - mit diesen Worten plädierte der christliche Theologe Küng (1987, S. 139) gegen eine Verdrängung der Religiosität - welche er als „letztes Tabu“ der deutschen Psychiatrie bezeichnete - bzw. für eine Wideraufnahme ihrer innerhalb der psychologischen Forschungstätigkeit.

Diese Klage über eine Verdrängung und Tabuisierung der Thematik „Religiosität“ in der gegenwärtigen, vor allem empirisch ausgerichteten Psychologie schien berechtigt, da „noch nicht mal die Tatsache eines solchen Forschungsdefizits artikuliert, geschweige denn beklagt und über die Gründe nachgedacht würde (vgl. Buggle, 1991, S. 7).

Ein Durchsehen der neueren Literatur lässt jedoch darauf schließen, dass in jüngster Zeit dieser Thematik immer mehr Interesse und Zuspruch zuteil wird; die empirisch, religionspsychologische Forschung erfreut sich - auch im deutschsprachigen Raum - zunehmender Beliebtheit.

1.3. Von Religion, Religiosität und Spiritualität - zur Komplexität der Begriffsbestimmung

Jeder Versuch, Inhalte mitzuteilen, die an Begriffe mit langer Tradition oder breiter Bedeutungsbasis gebunden sind, stößt auf Verständigungsschwierigkeiten. Diese lassen sich nicht einfach dadurch beseitigen, indem neue Definitionen eingeführt oder eine Auswahl aus bisherigen Definitionen vorgenommen wird.

Für die Begriffe religiös und glauben bzw. Religion und Glaube trifft das Gesagte in besonderem Maße zu. Sie sind nicht nur durch eine lange Tradition und eine Vielzahl von Einzel- und Unterbedeutungen belastet, sondern wecken in keineswegs kontrollierbarer Weise bestimmte Affekte, die das Reagieren auf sie entscheidend beeinflussen (vgl. Hole, 1977).

Es ist wohl leichter zu sagen, dass jemand religiös ist, als genau zu definieren, was darunter zu verstehen ist. Religion, Religiosität und Glaube gehören zu den verschwommensten und dennoch am häufigsten verwendeten Ausdrücken der religiösen Sprachwelt und es gestaltet sich als äußerst schwierig, Religion zu definieren, da sich „religiös“ auf sehr viele unterschiedliche Bereiche (Gedanken, Gefühle, Erfahrungen und Verhaltensweisen...) bezieht und vor allem je nach Kultur und Glaubensvorstellung viele Formen annehmen kann.

Darauf, dass dieser Begriff - abgesehen von seiner Komplexität - sowohl zwischen verschiedenen als auch innerhalb einer Kultur relativ ist, wies bereits Benedict im Jahre 1934 (zitiert nach Grabner, 1998) hin. Seine Untersuchungen bezeugten, dass Personen - in unserer westlichen Kultur als abnorm bezeichnet - in anderen Kulturen als hochgeachtet angesehen werden können. So genossen beispielsweise Mystiker im Mittelalter ein hohes Ansehen; Sibiriens Schamanen ereilte ebenso eine besondere Stellung - in unserer heutigen Zeit wird Menschen mit solcherart mystischen Erfahrungen dann doch eher Misstrauen entgegengebracht (vgl. Grabner, 1998).

Jede Definition von Religion ist unvollkommen, hebt einen Aspekt hervor und vernachlässigt andere. Der Religionssoziologe Matthes (1993, zitiert nach Noormann, 2000, S. 257) beispielsweise zog daraus die Konsequenz, Religion als „kulturelles Konzept“ zu umschreiben: „Was Religion ist, wird in jeder Kultur und in jeder Gesellschaft in spezifischer Weise beschrieben; es gibt keine allgemeine Definition, sondern nur Zuschreibungen zu ‚Religion’, die sich aus dem jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs ergeben.“

Religiosität wird als eine Tiefendimension des Lebens, als ein Fragen nach dem letztgültigen Sinn, nach dem, „was uns unbedingt angeht“ gedeutet (Tillich, 1964).

James (1925, zitiert nach Grom, 1992, S. 16) definierte Religion als subjektiv, da seiner Meinung nach Ursprung und Natur einer Religion auf emotionalen Erfahrungen beruhe und versteht daher unter Religiosität „die Bereitschaft von Menschen, sich selbst, die Mitmenschen und die Welt in Beziehung zu einem Übermenschlich-Göttlichen zu erleben“.

Auch Jung (1971) sah in einer religiösen Orientierung mehr als nur eine kirchliche Bindung oder Glaube im traditionellen Sinn.

Religion scheint mir eine besondere Einstellung des menschlichen Geistes zu sein,..., als sorgfältige Berücksichtigung und Beobachtung gewisser dynamischer Faktoren, die aufgefasst werden als ’Mächte’: Geister, Dämonen, Götter, Gesetze, Ideen oder wie immer der Mensch solche Faktoren genannt hat, die er in seiner Welt als mächtig, gefährlich oder hilfreich genug erfahren hat, um ihnen sorgfältige Berücksichtigung angedeihen zu lassen, oder als groß, schön und sinnvoll genug, um sie andächtig anzubeten oder zu lieben. (S. 24)

Durkheim (1983, S. 71) zufolge - auch er kann als einer der Begründer der Religionspsychologie angesehen werden - besteht Religion in einem „ganz besonderen Leben, erfüllt von einer Quelle von Energien, die über dem stehen, was ein Individuum zur Verfügung hat, und die trotzdem vermittelt werden können“.

Holm (1990, S. 17) schließlich definiert Religion „als eine soziale Größe, die in uns allen bekannten Gesellschaften auftritt. Sie ist ein großes Ganzes, in dem sich der Mensch zu etwas Transzendentem - etwas anderem, jemand anderem, verschiedenen Mächten, Göttern, Teufeln - in eine Beziehung setzt.“

Es existieren unzählige Definitionen und Konstrukte darüber, Religion und Religiosität beschreibend in Worte zu fassen - der Inhalt meint im Groben jedoch immer das Selbe und wurde am einfachsten von Peterson (1993, zitiert nach Faber, 1993, S. 12) formuliert: „Religion ist das Beziehungsgeschehen Gott gegenüber“, welches nach Walter (1989, zitiert nach Faber, 1993, S. 18) „individuelle Erfahrungen, Denken, Fühlen und Handeln einer Person auf ihrem lebensgeschichtlichen Hintergrund“ mit einschließt.

Als religiös wird nun nach Murken (1998) jene Haltung eines Menschen gesehen, der die Gegebenheiten seines Lebens und seiner Welt - zumindest teilweise - auf etwas außerhalb des empirisch Gegebenen bezieht. Im allgemeinen ist er dabei in die Glaubenswelt einer bestimmten Religion eingebunden und teilt deren Mythen, Riten und Dogmen; wobei sich dieses Verständnis von Religiosität zunehmend wandelt. Immer mehr Menschen verstehen sich in dem Sinne religiös, als dass sie ihren Glauben nicht mehr mit einem bestimmten Normen- oder Traditionssystem verbinden und sich somit der Bezug zu einer höheren Wirklichkeit - im Sinne von Spiritualität - sehr individuell gestaltet.

Belschner (2000, S. 84) formulierte folgende Hypothese: „Der Mensch ist m.E. daraufhin angelegt, nicht nur Beziehungen zu dieser irdischen Welt, sondern auch zu darüber hinausweisenden, transpersonalen Bezüge zu entwickeln und in den Alltag hinein zu realisieren“; wobei die Wahrnehmung dieser transpersonalen Bezüge nach Jäger (1991, zitiert nach Belschner, 2000) notwendig sei, um der Suche des Menschen nach Sinn zu entsprechen.

Diese heutzutage als „Spiritualität“ bezeichnete Form eines Transzendenzbezuges stellt einen wichtigen Bezug für die Psychologie dar, da ihr entgegen dem eher theologisch orientierten Begriff der „Religiosität“ eine eher psychologisch-anthropologische Bedeutung zukommt (vgl. Murken, 1998) und die Vorzüge des Begriffes „Spiritualität“ nach Utsch (1998) auch in seiner inhaltlichen Offenheit, Unvorherbestimmtheit und Inhaltsfreiheit gesehen werden, worauf ich jedoch gleich noch vertiefend eingehen möchte. Vorweg sei nur noch erwähnt, dass der Begriff „Spiritualität“ immer einen Transzendenzbezug beinhaltet, wobei dieser Begriff der „Transzendenz“ wiederum immer von der Vorstellung einer Grenze des Gegebenen und Verfügbaren ausgeht. Eine Transzendenzerfahrung lässt sich somit als eine Art Grenzüberschreitung auffassen, welche den Rahmen der alltäglichen Bewusstseins- und Erlebensgrenzen erweitert, wobei jenseits dieser eine unbedingte, nicht objektivierbare Wirklichkeit angenommen wird (vgl. Utsch, 1998).

1.4. Spiritualität versus Religiosität

“Spiritualität ist eine geistige Haltung, ist das Bewusstsein der Göttlichkeit aller Lebewesen; sie schöpft aus dem Respekt gegenüber dem Platz, der jedem Lebewesen innerhalb des Ganzen zusteht. Sie sucht daher eine friedliche Koexistenz aller Wesen, welche dem Einzelnen - ob schwarz oder weiß, ob Mensch, Tier, oder Pflanze - ermöglicht, in Würde und Selbstachtung sein persönliches Potential im Dienst des Ganzen auszudrücken und auszuleben. Echte Spiritualität äußert sich in einer konkret gelebten, verwirklichten geistigen Haltung der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller.”

Mar-Isis Ghida Ferreira

Wenn wir von Spiritualität sprechen, stellt sich uns unweigerlich immer die Frage, was wir eigentlich darunter verstehen. Obwohl es eine fast unüberschaubare Anzahl unterschiedlichster Definitionsvorschläge und Interpretationen diesbezüglich gibt, „...werde ich Ihnen diese Frage nicht beantworten, und vielleicht auch kein anderer, weil letztlich die Antwort jeder von uns nur in sich selbst finden kann!“ (zitiert nach Platsch, 2002, S.1).

Das Hauptproblem bei der Beschäftigung mit dem Bereich der Spiritualität liegt sicher darin, dass man sofort Gefahr läuft, gleichzeitig alles und nichts auszudrücken - zu verschwommen stellt sich der Begriff dar - zu unpräzise ist er definiert und nur zu gerne wird er zur Beschreibung aller erdenklichen Sachverhalten missbraucht.

Sobald wir über Spiritualität sprechen, werden wir zur Verwendung von Begriffen gezwungen, die häufig die gemeinte Einheit zerstören oder uns zerstückeln. Dies trifft in besonderem Maße zu, wenn wir uns der Frage zuwenden, ob es Formen spiritueller Energie oder spiritueller Realität gibt, die jenseits dessen liegen, was wir sehen oder was wissenschaftlich beweisbar ist. (zitiert nach Lerner, 2000, S. 157)

Sigmund Freud (1938/1953, zitiert nach Unterrainer, 2002) berichtet in seiner Abhandlung „Das Unbehagen in der Kultur“ folgendes, von einem Freund geschildertes Lebensgefühl:

Dies sei ein besonderes Gefühl, dass ihn selbst nie zu verlassen pflege, das er von vielen anderen bestätigt gefunden und bei Millionen von Menschen voraussetzen dürfe. Ein Gefühl, das er die Empfindung der Ewigkeit nennen möchte, ein Gefühl, wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‚Ozeanischen’. Dieses Gefühl sei ... die Quelle der religiösen Energie. Nur aufgrund dieses ozeanischen Gefühls dürfe man sich religiös heißen, auch wenn man jeden Glauben ... ablehne. (S. 9)

Dieses „ozeanische“ Gefühl - wie es von Freud beschrieben wurde - könnte gleichsam mit einer heutigen Umschreibung von „Spiritualität“ gleichgesetzt werden; jenes „ozeanische Gefühl“ als Ausdruck eines generellen Wohlbefindens - einer Zufriedenheit mit sich und seiner (Um-)Welt.

Ellison (1983, zitiert nach Culliford, 2002) definiert Spiritualität folgend:

Sie ermöglicht und motiviert uns, nach dem Sinn und dem Ziel des Lebens zu suchen. Sie formt unsere Persönlichkeit und baut uns auf. Spiritualität existiert nicht isoliert von Körper und Geist; sie beeinflusst und wird von unserem körperlichen Zustand, unseren Gefühlen, Gedanken und Beziehungen beeinflusst. (S. 251)

Der Hauptunterschied zwischen Religion und Spiritualität kann nach Meinung der meisten Autoren darin gesehen werden, dass Religion immer auf eine Institutionalisierung eines Glaubens verweist; Spiritualität hingegen keine derartigen Tendenzen erkennen lässt (vgl. Pargament, 1997; George, Larson, Koenig & McCullough, 2000) und daher eine Trennung zwischen Religion und Spiritualität auch im Bereich der Forschung vorzunehmen bei der Durchsicht der neueren Literatur als einhellig betrachtet werden kann.

Auch Miller und Thoresen (2000, zitiert nach Unterrainer, 2002) empfinden eine strikte Unterscheidung von Religion und Spiritualität als hilfreich, da die Spiritualität dem Individuum anhaftet, während sich Religion als organisierte, soziale Einrichtung präsentiert. Sie gehen davon aus, dass Spiritualität nicht notwendigerweise Religion enthalten muss; Religion bzw. Religiosität andererseits sehr wohl spirituelles Wachstum beeinflussen kann.

Nach Sudbrack (1998, zitiert nach Utsch, 1998, S. 91) kann Spiritualität als „Gestaltwerdung eines Glaubens im Alltag“ gesehen werden; eine Umschreibung im Sinne einer „gelebten Religion“ wird auch häufig verwendet (Daiber & Lukatis, 1991, zitiert nach Utsch, 1998, S. 91).

Utsch (1998) führt aus:

Spiritualität verweist auf die konfessionsungebundene Grundhaltung des Glaubens an eine höhere Macht, die sich in allen Bereichen des Lebens auswirkt. Der religionspsychologische Forschungsgegenstand Spiritualität postuliert eine geistige Dimension im Menschen, die mit dem emotionalen, kognitiven und motivationalen Erleben korrespondiert, aber dennoch eigenständig existiert. (S. 96)

Utsch (1998, S. 95) grenzt Spiritualität nicht nur „aufgrund ihrer Definition und des dazugehörigen Bewusstseinsraumes“ von Religion oder Religiosität ab; auch unterschiedliche Religionsverständnisse tragen zu dieser Abgrenzung bei. Während er Religion als ein „Vorhandensein einer übermenschlichen Wirklichkeit“ innerhalb eines kollektiven Bewusstseinsraumes bzw. Religiosität als eine „Bezugsform zu jener übermenschlichen Wirklichkeit“ eines personalen Bewusstseinsraumes definiert, sieht er in einer Spiritualität eine „Teilnahme an dieser übermenschlichen Wirklichkeit“ innerhalb eines transpersonalen Bewusstseinsraumes, wobei das jeweilige Religionsverständnis in identer Reihenfolge erwähnt jeweils als funktional, substantiell bzw. existentiell betrachtet werden kann.

1.5. Theorien und Modelle zu Religion und Religiosität

1.5.1. Sigmund Freud: Religion als Illusion

Freud (zitiert nach Noormann, 2000) urteilte, dass sich der Gottesgedanke menschlichen Sehnsüchten und Wünschen verdanke und religiöse Vorstellungen Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit sind.

Freuds Meinung nach sind die Wurzeln jeder Gottesidee in infantilen Bedürfnisse zu suchen. Ein Kind erfährt sich ursprünglich als hilflos und erlebt den Vater als denjenigen, der seine Hilflosigkeit ausgleicht. Als Erwachsener überträgt der Mensch - noch in infantilen Sehnsüchten befangen - seine Erfahrungen mit dem Vater auf Gott als Vater, allerdings eines noch mächtigeren Vaters.

So erklärt Religion mit der Gottesidee als Zentrum die Entstehung der Welt, bietet Schutz und Glück in den Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Lebens und schreibt dem unmündigen Menschen mit ihrer Autorität Gesinnungen und Handlungen vor, die ihm Orientierung geben.

1.5.2. Carl Gustav Jung: Gott als Wirklichkeit der Seele

Jungs (1968) Anthropologie beinhaltet die Annahme der Existenz eines die menschlichen Antriebe steuernden Unbewussten. Darüber hinaus nimmt er an, dass die Menschheit ein „kollektives Unbewusstes“ besitze, welches dem Menschen angeboren und dessen Inhalte aus den der Menschheit gemeinsamen Bilder - den sogenannten „Archetypen“ - bestehe, aus denen die Menschheit aller Zeiten ihre zentralen Symbole schöpfe.

Weiters geht Jung (1968) davon aus, dass in unserer Seele ein Streben nach individueller Vollendung wirksam sei, wobei dieses Streben nach Reifung der Persönlichkeit dem Menschen durch seine Träume angezeigt wird. Diese wiederum kommen aus dem Zentrum der Seele, welches Jung „Selbst“ nennt. Dieses Selbst - er sieht „Gott“ als ein Symbol für unser Selbst - stellt für Jung sowohl die Wurzel der seelischen Entwicklung als auch das Ziel derselben dar.

1.6. Ansätze einer Glaubensentwicklung

Bei der psychologischen Beschreibung und Erfassung von Religiosität stößt man neben dem Problem der Komplexität des Begriffes auch auf eine Unzahl unterschiedlicher Ansätze einer Glaubensentwicklung. Die Bandbreite erstreckt sich von streng naturwissenschaftlichen, pragmatisch-symbolischen, transzendentalpsychologisch-theologischen und methodisch-experimentellen Ansätzen über philosophisch-phänomenologische bis hin zu sozial-, entwicklungs- bzw. klinisch-psychologischen Modellen, womit deutlich wird, dass eine einheitliche Theorie zum Verständnis von Religiosität nicht besteht (Utsch, 1998).

Der Begriff „religiöse Entwicklung“ bezeichnet eine spezifische religionspsychologische Perspektive, in der nach der Entwicklung von Religiosität innerhalb des individuellen Lebenslauf gefragt wird.

Schon Bühler (1958, zitiert nach Korherr, 1993) sah die religiöse Entwicklung mehr in die Gesamtentwicklung eingebettet, wobei die treibenden Kräfte einer Entwicklungsphase sich dabei immer auch religiös auswirken würden.

Meadow und Kahoe (1984, zitiert nach Schmitz, 1992) beispielsweise stellten ein integriertes Modell persönlicher Religiosität vor, wonach die psychologische Entwicklung bei einer rein extrinsischen Religiosität (im Kindesalter) im Sinne Allports - auf sein Modell werde ich später noch explizit eingehen - beginnt, zu einer heteronomen, kirchlich-traditionellen und weiter zu einer intrinsischen - vielleicht zu einer autonomen - Religiosität sich fortentwickelt.

Abbildung 1

Die Entwicklung von persönlicher Religiosität nach Meadow und Kahoe (1984, zitiert nach Schmitz, 1992, S. 77)

Autonom

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Kirchlich-traditionell

Tamminen (1993) versuchte, unterschiedliche Dimensionen religiöser Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen zu erfassen und gelangte dadurch zu folgender Definition einer „religiösen Entwicklung“:

Unter religiöser Entwicklung verstehen wir die quantitativen und qualitativen Veränderungen, die bei einem einzelnen Menschen oder einer Gruppe mit dem Älterwerden innerhalb der Religiosität, der religiösen Bindung, der unterschiedlichen Aspekte von Religiosität und ihrer gegenseitigen Beziehungen sowie der Bedeutung, die ihnen beigemessen werden, auftreten. (S. 22)

1.6.1. Strukturgenetische Stufentheorie von Fowler

James Fowler (1981, zitiert nach Grom, 2000) schuf eine Glaubensentwicklungstheorie, welche auch als strukturgenetische Stufentheorie bekannt ist und aufzeigen soll, dass die Entwicklung eines Sinnglaubens mit der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen zusammenhängt. Ihm zufolge entsteht Glaube aus der Kommunikation mit Menschen, der sozialen Umwelt und dem Transzendenten. Er beschreibt sechs tatsächlich beobachtbare Entwicklungsstufen des Glaubens, welche die gesamte Persönlichkeit betreffen und ihren Ursprung im Säuglingsalter haben:

- Stufe 0: undifferenzierter Glaube - Vorstufe (Säuglingsalter)

Nach Fowler prägen besonders jene Erfahrungen dieses Lebensabschnitts eine spätere Glaubensentwicklung, wobei diese Stufe vor allem auch für die Entstehung des Urvertrauens von großer Wichtigkeit zeugt. Hat ein Kind niemanden, zu dem es eine verlässliche Beziehung aufbauen vermag, kann sein Vertrauen in die Welt und in sich selbst von Misstrauen und kindlicher Verzweiflung geprägt sein. Auf dieser Stufe haben Vorbilder von Gott - Vorbilder deshalb, da sie vor der Sprache, den Begriffen bzw. gleichzeitig mit dem Auftreten des Bewusstseins ausgebildet werden - ihre Wurzeln.

- Stufe 1: Intuitiv-projektiver Glaube (Kleinkindalter)

Das Kind projiziert seine Intuition bzw. Phantasie auf die Wirklichkeit. Potentiell können auf dieser Stufe lang andauernde Gefühls- und Vorstellungsorientierungen des Glaubens geformt werden.

- Stufe 2: Mythisch-wörtlicher Glaube (Schuldkindalter, frühes Jugendalter)

Auf dieser Stufe sind Geschichten ein wesentliches Mittel zur Konstruktion und Erhaltung von Sinn. Mit der Herausbildung des konkret-operatorischen Denkens kann das Kind Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verstehen und damit Glaubensinhalte und Regeln eindimensional und wörtlich begreifen. Gott wird im Sinne eines menschlichen Wesens als gerechter, strenger Richter gesehen, der entweder belohnt oder bestraft.

- Stufe 3: Synthetisch-konventioneller Glaube (Jugendalter)

Die inzwischen erreichte Perspektiveneinnahme gestattet es, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, und sich von dort mit dessen Augen zu sehen. Der Glaube wird mit der Identitätswerdung verknüpft: Gott hilft mir, ich selbst zu werden. Glaubensinhalte sind jedoch noch keine persönlich angeeigneten, sondern stark von der Autorität einzelner Bezugspersonen abhängige. Fowler zufolge bleiben sehr viele auf dieser Stufe stehen.

- Stufe 4: Individuierend-reflektierender Glaube (frühes Erwachsenenalter – ab ca. 20 Jahren)

Fortschreitende Selbstwerdung und subjektive Gefühle kritischer Reflexion können zu einer Weiterentwicklung des Sinnglaubens führen. Das Individuum distanziert sich von einem bisher still angenommenen Wertesystem, wählt seinen Lebensstil eigenständig und unterscheidet deutlich zwischen Ausdrucksformen des Glaubens und deren Bedeutung.

- Stufe 5: Verbindender Glaube (mittleres Lebensalter - ab ca. 40 Jahren)

Dieser Glaube ist dadurch charakterisiert, dass das Individuum zur Einsicht kommt, in einer Welt zu leben, welche offen für mehrere Wahrheiten unterschiedlicher Gemeinschaften ist, in der jedoch eine letzte Wahrheit durch keine Tradition festgelegt ist. Statt einer Entweder-Oder-Dichotomie wird die Wahrheit mehrdimensional durch eine Verbindung verschiedener Perspektiven in Gegensätzen gefunden.

- Stufe 6: Universalisierender Glaube (in seltenen Fällen)

Diese hypothetische Stufe einer Glaubensentwicklung ist durch eine Entfernung vom eigenen Selbst gekennzeichnet, wobei dieses Stadium nur von Personen erreicht wird, welche jene universalisierenden Einsichten der Stufe 5 auch radikal verwirklichen - wie beispielsweise Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Mutter Theresa es taten.

1.6.2. Stufen der religiösen Entwicklung nach Oser und Gmünder (1984)

Dieses von Oser und Gmünder (1984, zitiert nach Noormann, 2000) konzipierte Stufenmodell impliziert eine aufsteigende Entwicklung des religiösen Urteils, wobei diese Entwicklung insgesamt von einer stetigen Zunahme an Individualität und Autonomie geprägt ist. Der Übergang von einer Stufe zur jeweils nächsten wird anhand von Schlüsselerlebnissen ausgelöst, bei denen eine Person kognitive Diskrepanzen zwischen alten Deutungsmustern und neuen Erfahrungen erlebt:

- Stufe 1: Orientierung an absoluter Heteronomie (6. bis 9. Lebensjahr)
Völlige Abhängigkeit vom Letztgültigen (Gott), das unmittelbar in die Welt eingreift. Gottes Macht ist absolut und er kann direkt auf den Menschen einwirken.
- Stufe 2: Orientierung an relativer Autonomie (9. bis 13. Lebensjahr)
Das Letztgültige wird immer noch als allmächtig gesehen; es kann belohnen oder bestrafen. Durch Wohlverhalten, Gebete, Rituale kann der Mensch sanktionsmildernde oder günstige Effekte erzielen.
- Stufe 3: Orientierung an absoluter Autonomie (Jugendalter)
Der Wunsch nach Selbstbestimmung und -verantwortung verdrängt das Letztgültige aus dem Alltag. Ihm wird ein Ort zugewiesen, der den Jugendlichen möglichst wenig berührt. Oft kommt es zu einer Ablehnung religiöser und kirchlicher Autorität.
- Stufe 4: Das Letztgültige als Bedingung der Möglichkeit der Autonomie (Erwachsenenalter)
Der Mensch gibt seinen Anspruch auf, alles aus sich selbst heraus leisten zu können. Dass wir handeln, entscheiden und lieben können wird als Geschenk Gottes gedeutet.
- Stufe 5: Integration von göttlicher und menschlicher Autonomie
Transzendenz und Immanenz, Heiliges und Profanes, Ewiges und Endliches durchdringen einander und fallen „in Weisheit“ zusammen. Der Mensch erfährt sich als unbedingt angenommen.

1.7. Ansätze zur Erfassung von Religiosität bzw. religiösen Phänomenen

Es kann nach S. Huber (1996) bei der Einteilung der Methoden zur Erfassung von Religiosität grob zwischen ein-, zwei- und mehrdimensionalen Ansätzen unterschieden werden, wobei eindimensionale Ansätze dadurch charakterisiert sind, dass sich das Erkenntnisinteresse lediglich auf einzelne Aspekte der Religiosität konzentriert bzw. versucht wird, Religiosität in einem eher globalen Sinn zu erfassen. Der Hauptunterschied zu zweidimensionalen Ansätzen besteht darin, dass bei eindimensionalen Ansätzen ein Einstellungsobjekt definiert wird, welchem Zustimmung oder Ablehnung zuteil wird - zweidimensionale Ansätze hingegen eine Theorie über den Zusammenhang der Skalen voraussetzen. Die durch die Skalen erfolgte Messung darf dann als Bestätigung oder Widerlegung des behaupteten Zusammenhangs gelten.

Aufgrund seiner „paradigmatischen Rolle“ innerhalb der religionspsychologischen Forschung der vergangenen 30 Jahre, möchte ich vor allem das zweidimensionale Konzept der extrinsischen - intrinsischen Religiosität von Allport näher beschreiben (vgl. S. Huber, 1996. S. 59).

1.7.1. Das Konzept der extrinsischen und intrinsischen Religiosität

Dieses nach wie vor einflussreichste Modell der religionspsychologischen Forschung wurde - wie bereits erwähnt - von Allport (1950, 1959, 1967, zitiert nach H. P. Huber, 1999, S. 102) entwickelt, wobei er ursprünglich von einer „reifen“ und einer „unreifen“ Religiosität ausging. Eine unreife Religiosität ist noch weitgehend im magischen Denken verhaftet und dient der persönlichen Rechtfertigung und Tröstung, wohingegen sich eine reife Religiosität von ihrer Defizitfunktion befreit und vor allem durch eine „funktionelle Anatomie der Motive“ bestimmt wird. Sie kann als eine positive Haltung gegenüber der Kirche bzw. als Weltanschauung betrachtet werden, welche eine konsistente, moralische Haltung produziert.

Diese beiden Begriffe - reife und unreife Religiosität - wurden von Allport weiterführend durch jene der intrinsisch und extrinsisch religiösen Orientierung bzw. Religiosität ersetzt. Bei der intrinsischen Religiosität handelt es sich um eine verinnerlichte Gläubigkeit als Ausdruck einer tiefen Verbundenheit mit religiösen Werten, welche quasi als Leitmotiv gelten, nach denen das Leben gestaltet wird. Intrinsisch religiöse Orientierung charakterisiert eine Person, die in ihrer Religion ihr Hauptmotiv sieht. Andere Bedürfnisse - welcher Art und Stärke auch immer - werden als zweitrangig angesehen und möglichst mit den religiösen Glaubensinhalten und Vorschriften in Übereinstimmung gebracht.

Menschen mit einer extrinsisch motivierten Religiosität hingegen neigen dazu, Religion zur Befriedigung persönlicher und sozialer Bedürfnisse einzusetzen. Extrinsische Religiosität wird als voreingenommen, unreif, abhängig, instrumental, nutzorientiert oder gar selbstdienlich bezeichnet. In anderen Worten formuliert bedeutet dies nichts anderes, als „dass die extrinsisch motivierte Person ihre Religion benutzt, während die intrinsisch motivierte in ihrer Religion lebt.“ (vgl. Allport & Ross, 1967, S. 434).

Allport und Ross (1967) veränderten schließlich jedoch ihre zweidimensionale Ansicht der Religiosität, da diese beiden Subskalen einer intrinsischen und extrinsischen Religiosität in der von ihnen entwickelten „Religious Orientation Scale - ROS“ nur sehr gering miteinander korrelierten., woraufhin vier Typen religiöser Orientierung entstanden:

1. Intrinsischer Typ - lehnt extrinsische Religiosität ab
2. Extrinsischer Typ - lehnt intrinsische Religiosität ab
3. Ununterscheidbar proreligiöser Typ - ist durch eine oberflächliche Beziehung zur Religion charakterisiert, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass sowohl intrinsischer als auch extrinsischer Religiosität zugestimmt wird
4. Antireligiöser Typ - dieser spricht sich sowohl gegen intrinsische als auch extrinsische Religiosität aus

Batson (1979, 1982; zitiert nach Hellmeister & Ochsmann, 1996) erweiterte schließlich das von Allport und Ross entwickelte Konzept der intrinsisch - extrinsischen Orientierung um eine dritte Dimension, welche er „Quest“ - Orientierung nannte und im Rahmen derer Religion als Suche beschrieben bzw. auf die Skepsis gegenüber traditionellen Einstellungen hingewiesen wird.

1.7.2. Mehrdimensionale Ansätze zur Erfassung religiöser Einstellungen

Um dem vielschichtigen und komplexen Phänomen „Religiosität“ Rechnung zu tragen, wurden schließlich multidimensionale Modelle - dadurch charakterisiert, dass sie mehrere Aspekte der Religiosität in ihrem Zusammenhang und in ihrer Verschiedenheit zu erfassen versuchen - entwickelt. Diese Modelle gehen davon aus, dass mehrere Dimensionen gleichberechtigt nebeneinander stehen können.

Den Weg dorthin ebnete vor allem jenes von Glock (1962, zitiert nach S. Huber, 1996) entwickelte psychologische Modell von Religiosität mit seinen fünf Dimensionen, in welche jedwede Religion aufgegliedert werden kann:

1. Die ideologische Dimension misst das Ausmaß, indem sich jeder Mensch zu bestimmten Glaubenssätzen seiner Religion bekennt.
2. Die rituelle Dimension misst das Ausmaß an religiösen Praktiken, welche für die Mitglieder einer Religion als verbindlich gelten. Hierzu zählen beispielsweise öffentliche Praktiken des Gottesdienstbesuches bzw. private Praktiken wie etwa beten oder fasten.
3. Die Dimension der religiösen Erfahrung erhebt, in welchem Ausmaß Personen von dem, was sie glauben, ergriffen bzw. berührt werden; welche Gefühle der Sinnerfüllung und Geborgenheit dies bei ihnen auslöst.
4. Die intellektuelle Dimension ermittelt das religiöse Wissen - also in welchem Grad die Gläubigen die Glaubenslehre ihrer Religionsgemeinschaft wiedergeben können.
5. Die Dimension der religiösen Konsequenzen schließlich geht der Frage nach, inwieweit sich die Religion nachhaltig auf das alltägliche Leben der Gläubigen auswirkt.

Glock geht in seinem Ansatz davon aus, dass erst eine genaue Betrachtung jeder einzelnen Dimension und auch ihrer Wechselwirkung zueinander ein umfassendes Verständnis von Religiosität ermöglicht.

1.8. Religiosität und Gesundheit - ein historischer Abriss

Religiöse Inhalte und Erlebniswelten findet man zu allen Zeiten in die Darstellung psychischer Krankheiten einbezogen. Große Unterschiede zeigten sich allerdings im Stellenwert, der diesen Fragen jeweils zukommt, und wohl kaum eine andere Thematik spiegelt die Anschauungen und Emotionen eines jeden Zeitalters und ebenso auch die eigenen Einstellungen und Affekte der Beurteiler so wider wie die religiöse (vgl. Hole, 1977).

Die Diskussion der Beziehung von Religion und seelischer Gesundheit ist so alt wie die Menschheit selbst. Von der Antike bis zur Gegenwart - es wurden immer wieder Zusammenhänge zwischen religiösen Phänomenen und körperlichen oder seelischen Krankheiten vermutet -, wobei die Ursachen meist als Folge eines Ungehorsams gegenüber religiösen Geboten, Tabus und Ritualen angesehen wurden (vgl. Küng, 1987).

Bereits der Philosoph Fechner (1801-1887) vertrat die Ansicht, dass nur ein gläubiger Mensch seelisch gesund sein kann. In einer 1863 veröffentlichten Schrift nannte er es eine Notwendigkeit und ein psychologisches Gesetz, dass der Mensch an Heil und Heilung glaubt. „Der Mensch glaubt an das Dasein Gottes, weil dieser Glaube dem Menschen vorteilhaft, heilsam, segensbringend, praktisch notwendig ist, weil weder der Mensch noch die Menschheit im Ganzen ohne ihn gedeihlich bestehen und sich gedanklich entwickeln kann.“ (Fechner, 1863, zitiert nach Schmitz, 1992, S. 132)

In James 1902 publiziertem religionspsychologischen Hauptwerk „The Varieties of Religious Experience“ - James vertrat wie schon Fechner (1863, zitiert nach Schmitz, 1992) die Ansicht, Religiosität als wesentliche Quelle seelischer Gesundheit anzusehen - findet sich bereits ein zweidimensionales Konzept von Religiosität. Er unterscheidet zwischen zwei Formen von Religiosität - „healthy-minded“ und „sick-souled religion“ - und zwei entsprechenden Persönlichkeitstypen. Während die erste Form einen optimistischen, sozial aktiven Glauben beschreibt, bildet letztere - wesentlich an die Psychopathie gebunden - eine durch einen radikalen Pessimismus gekennzeichnete Persönlichkeit pathologischer Melancholie (zitiert nach S. Huber, 1996).

Unterschiedliche Psychologen sind sich bezüglich der Einflüsse einer Religion auf die seelische Gesundheit nicht einig. Für Freud (1940a) stellt Religiosität eine psychische Krankheit dar; er bezeichnet sie als eine „universelle Zwangsneurose der Menschheit“. In seiner Analyse „Ein religiöses Erlebnis“ führt Freud (1940b) aus, dass die Annahme des Glaubens lediglich eine Wiederholung des Ödipuskomplexes in Verbindung mit religiösen Inhalten sei. (siehe Punkt 1.5.1.)

Jung (1931, zitiert nach Kim, 1988, S. 1) hingegen bezeichnete - im Gegensatz zu seinem Lehrer Freud - Religiosität nicht nur als eine wesentliche Voraussetzung für seelische Gesundheit; er sieht in einer Religionslosigkeit sogar die Ursache psychischer Krankheit. „Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religion ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben hat, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht.“

Fromm (1966, zitiert nach Dunde, 1993) unterschied zwischen autoritärer und humanistischer Religion, wobei die autoritäre Religion dadurch gekennzeichnet sei, dass sie ausschließlich auf den Gehorsam gegenüber einer göttlichen Macht ausgerichtet, welcher sich der ohnmächtige Mensch zu unterwerfen habe. Die Folgen einer solchen Religion führten zu einer Einengung menschlicher Möglichkeiten, Unglücklichsein und somit zu einer Verhinderung der Entfaltung der Persönlichkeit. Humanistische Religion hingegen sei nicht an Gehorsam, sondern an einer Selbstverwirklichung des Menschen interessiert und fördere dadurch Stärke, Freiheit und Glücksfähigkeit - Gesundheit - des Menschen.

Diese Auffassung eines wesentlichen Beitrages der Religion auf seelische Gesundheit vertrat auch schon Allport (1950), indem er Religiosität als zu den Grundbedürfnissen eines Menschen zählend ansiedelte und den Glauben - jene grundlegende Überzeugung - mit weitreichenden Folgen für sowohl körperliche als auch seelische Gesundheit bedachte.

Schumaker (1992, zitiert nach Murken, 1998) liefert schließlich eine Auflistung jener Argumente, welche einen positiven Zusammenhang zwischen Religiosität und psychischer Gesundheit postulieren; zeigt im Gegensatz zu vielen anderen AutorInnen jedoch auch jene Sichtweisen auf, welche von einem negativen Zusammenhang dieser beiden Konstrukte ausgehen (siehe dazu Tabelle 1 nächste Seite).

Zusammenfassend kann nun im Hinblick auf den Zusammenhang von Religiosität und psychischer Gesundheit festgehalten werden, dass innerhalb empirischer Forschung keine einheitlichen Ergebnisse darüber vorliegen, wann bzw. welche Religion als „fördernd“ oder „hemmend“ bzw. als „gut“ oder „schlecht“ anzusehen ist. Einigkeit besteht jedoch in der Annahme, dass Religion als nichts Abstraktes angesehen werden kann, da sie von Menschen immer individuell verarbeitet und daher vielmehr eine individuelle Religiosität - und nicht Religion an sich - als Untersuchungs- bzw. Beurteilungskriterium innerhalb religionspsychologischer Fragestellungen einbezogen werden sollte, um letztlich auch zielführend wirken zu können.

Tabelle 1

Positive und negative Zusammenhänge zwischen Religiosität und psychischer Gesundheit nach Schumaker (1992, zitiert nach Murken, 1998)

Religion bzw. Religiosität

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.9. Modell einer integralen Gesundheit am Gesundheitsmodell Schwarzers

Gesundheit kann nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation als ein „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein durch das Fehlen von Krankheit und Gebrechen charakterisiert“ aufgefasst werden (WHO, zitiert nach Miller & Thoresen, 2000). Menschen können sich beispielsweise krank fühlen, ohne dass körperliche Ursachen festgestellt werden; andererseits ist es jedoch auch möglich, dass sich Menschen als subjektiv gesund einschätzen, obwohl sie an einer schweren Krankheit leiden.

Nach Schwarzer (1996, S. 1) liegen die Aufgaben einer Gesundheitspsychologie darin, „einen wissenschaftlichen Beitrag zur Förderung und Erhaltung der Gesundheit und der Verhütung und Behandlung von Krankheit“ zu leisten. „Ihre Aufgabengebiete liegen in der Bestimmung von Risikoverhalten, Diagnose und Ursachenbestimmung von gesundheitlichen Störungen.“

Diesen Ausführungen zufolge entwickelte Schwarzer (1996) auch sein sozial-kognitives Prozessmodell gesundheitlichen Handelns, mit dessen Hilfe gesundheitsbezogenes Verhalten als theoretisches Konzept veranschaulicht bzw. in weiterer Folge untersucht werden kann.

Anhand einer Erweiterung dieser gesundheitspsychologischen Modellbildung um eine spirituelle Dimension durch das Konzept des transpersonalen Vertrauens am sozial-kognitiven Prozessmodell gesundheitlichen Handelns von Schwarzer konnten Belschner und Galuska (1999, zitiert nach Belschner, 2000, S. 107) aufzeigen, dass „eine gelingende Bearbeitung spiritueller Krisen und die positiven Effekte von stationären psychotherapeutischen Behandlungen durch die Hinzunahme der transpersonalen Perspektive besser erklärt werden können als durch die bislang verwendeten gesundheitspsychologischen Konzepte alleine“.

In dieser Definition einer „integralen Gesundheit“ geht Belschner (2000) von jenen folgenden Prämissen aus, dass eine Person in ihrem Leben grundsätzlich nach Sinn sucht (vgl. Frankl, 1978, 1982; Gottwald, 2000; Kastner & Gottwald, 1994; Lukas 1990, 1994; Tausch, 1994 zitiert nach Belschner, 2000) bzw. nur dann Sinn finden kann, wenn sie sich in etwas über sie Hinausweisendes eingebunden weiß (vgl. Galuska, 1995; Jäger, 1991 zitiert nach Belschner, 2000).

Seine Definition einer „integralen Gesundheit“ umfasst fünf dynamisch miteinander verknüpfte Komponenten:

1. Findung

Für eine gesunde Person sollte es möglich werden, für Erfahrungen mit personaler und transpersonaler Qualität offen zu sein, wobei vor allem Erfahrungen der transpersonalen Ebene (Bewusstseinsqualitäten wie Stille, Weite, Leere,...) es dem Menschen möglich machen, zu etwas zu gelangen, was in den verschiedensten Erfahrungstraditionen mit Begriffen wie beispielsweise tiefste Wesensnatur oder Gott umschrieben wird.

2. Berührung

Postuliert wird, dass je sicherer sich eine Person ihrer Fundierung im personalen und transpersonalen Grund ihrer Existenz ist, desto weiter, differenzierter und flexibler kann sie sich in dem humanen Potential ihrer Existenz berühren lassen.

3. Resonanz

Indem die gesunde Person sich selbst und ihre Mitwelt in eben jenem Bezugssystem der Würde, Achtung und Wertschätzung interpretiert, wird dies auch durch ihr selbstreflexives und soziales Handeln ausgestrahlt.

4. Erfindung

Mit dieser Komponente wird eine sozial-konstruktivistische Perspektive angesprochen. Danach erfindet eine Person sich und die für sie verbindliche Wirklichkeit. Im Modell der „integralen Gesundheit“ wird nun postuliert, dass aus einem erweiterten Bewusstseinsraum heraus - einer Integration der personalen Erfahrungen in ein erweitertes, transpersonales Bewusstsein - eine Person ihre individuelle Vision eines sinnerfüllenden Lebens entwirft und im Zuge des

5. Auftrags

hinsichtlich der für sie verbindlichen, „modernen“ Normen einer Lebensgestaltung kritisch untersucht.

1.9.1. Einige empirische Forschungsergebnisse

In einer Reihe von Studien wurde versucht, den Zusammenhang zwischen Religiosität und psychischer Gesundheit empirisch zu ermitteln. Die gewonnenen Ergebnisse waren bzw. sind allerdings nicht immer einheitlich. So stellte sich Religiosität in manchen Untersuchungen als schädlich, in anderen als eher förderlich und in widerrum anderen als psychohygienisch neutral heraus (vgl. Grom, 1992).

Obwohl in diesem Bereich noch sehr viele Ergebnisse ausständig sind, kann man nach Richards und Bergin (1987, zitiert nach Harris, Thoresen, McCullogh & Larson, 1999) davon ausgehen, dass individuelle religiöse und spirituelle Einstellungen einen bedeutsamen Faktor im klinischen Bereich darstellen.

Eine Umfrage an 1.000 AmerikanerInnen des Jahres 1996 ergab, dass 79% der Befragten daran glauben, dass ein spiritueller Glaube Menschen dabei helfen kann, sich von Krankheit zu erholen; 63% wünschen sich von Ärzten, dass sie mit ihren PatientInnen über ihren spirituellen Glauben sprechen (vgl. McNichol, 1996, zitiert nach Sloan, Bagiella & Powell, 1999).

Koenig, Cohen, Blazer, Kudler, Krishnan und Siberts (1995) Untersuchungsergebnisse an 832 Männern mit physischen Gesundheitsproblemen im Alter von 65 Jahren und darüber zeigten, dass Personen mit einem religiös orientierten Copingverhalten - im Gegensatz zu jenen ohne religiös orientierten Copingstrategien - signifikant weniger von Langeweile, Interessensverlust, sozialem Rückzug, Gefühlen der Niedergeschlagenheit und Schermut, Rastlosigkeit, Versagensgefühlen, Hoffnungslosigkeit bzw. Gefühlen, andere seien besser dran als man selbst berichteten.

Benson (1996, zitiert nach Sloan et al., 1999) sieht in einem starken Glauben an Gott einen bedeutenden gesundheitsförderlichen Effekt. So zeigten beispielsweise auch die Ergebnisse einer von Gurin et al. (1962, zitiert nach Schmitz, 1992) durchgeführten Untersuchung über die Beziehung von Religiosität und geistiger Gesundheit bei zunehmender Religiosität eine Abnahme psychopathologischer Merkmalsausprägungen.

In einer von Ellison (1991) durchgeführten Studie zeigte sich, dass ein starker Glaube bzw. ein ausgeprägtes Gefühl, Gott im Glauben nahe zu sein, den bedeutendster Prädiktor einer allgemeinen Lebenszufriedenheit - welche in dieser Untersuchung auch Aspekte der Gesundheit und körperlichen Verfassung beinhaltete - darstellt.

Oleckno und Blacconiere (1991) konnten anhand einer an Collegestudentinnen durchgeführten Untersuchung aufzeigen, dass religiöse - im Vergleich zu weniger religiöse Studentinnen - höhere Werte hinsichtlich eines allgemeinen Wohlbefindens bzw. positiven Gesundheitsverhaltens erzielten.

Ryan, Rigby und King (1993) versuchten anhand ihrer Untersuchung Indikatoren seelischer Gesundheit mit dem von Allport und Ross (1967) konzipierten Konzept der intrinsisch und extrinsisch religiösen Orientierung in Zusammenhang zu bringen. Die Ergebnisse zeigten eine negative Korrelation zwischen einer intrinsisch religiösen Orientierung und dem Ausmaß an Ängstlichkeit und Depressivität sowie dem Gesamtwert des in der Untersuchung verwendeten Fragebogens zur Erfassung seelischer Gesundheit.

Yeginer (2000, S. 127): „Die Wirkung einer spirituellen Einstellung auf die Verarbeitung einer Krankheit hat möglicherweise eine größere Bedeutung als allgemein angenommen wird, denn an etwas zu glauben scheint ein zentrales Element der Krankheitsbewältigung zu sein.“

In empirischen Arbeiten ist immer wieder versucht worden, die heilsame Wirkung einer Spiritualität zu überprüfen. So konnte beispielsweise auch Peteet (1985) aufzeigen, dass Spiritualität bzw. Religiosität für erkrankte Personen sehr wohl von Relevanz sei.

Kaczorowski (1989) gelang der Nachweiß, dass spirituelles Wohlbefinden die Angst von Menschen mit einer Krebsdiagnose in dem Sinne beeinflusst, dass je höher ihr spirituelles Wohlbefinden, desto niedriger ihre Angst war.

Lerch et al. (1998, zitiert nach Yeginer, 2000) fanden in ihrer Studie „The Effect of Religious Belief in Coping of Cancer“ heraus, dass etwa 50 % der Erkrankten ihrer Krankheit einen Sinn zuschrieben. Die Prozentzahl derer, die einen Fingerzeig in ihrer Erkrankung sahen, etwas in ihrem Leben zu verändern, war sogar noch höher. Weiters konnten sie aufzeigen, dass jene PatientInnen, welche ihrer Erkrankung im Kontext ihres religiösen Glaubens einen Sinn zuschrieben, auch weniger Depressionssymptome entwickelten.

In etlichen Studien wird Spiritualität im Kontext lebensbedrohlicher Krankheit als Ressource beschrieben. Es konnten Zusammenhänge derart gefunden werden, dass ernsthaft bzw. schwerwiegend erkrankte Menschen durch ihre Spiritualität die Angst vor dem Tode verloren oder Einsamkeitserleben verringert wurde bzw. sie ihnen zu einer positiven Todesperspektive verhalf (vgl. Gibbs & Achterberg-Lawlis, 1978; Miller, 1983; Reed, 1986 zitiert nach Kaye & Raghavan, 2002).

2. Suizidalität - Lösung zum höchsten Preis

„Wenn ihr diese Zeilen lest, bin ich vielleicht schon nicht mehr bei Euch, verzeiht mir den Schritt, aber ich will dieses Leben nicht mehr ertragen. Der Tod ist schon lange mein Freund... Doch niemand braucht mir eine Träne nachzuweinen, wenn ich tot bin. Zu Lebzeiten haben sie ja auch nichts von mir gewollt...“

(Tagebuchauszug eines 13-jährigen Teenagers)

Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die nicht mehr leben wollen und sich selbst töten, ist an sich schon ein Fakt, der bei allen, die damit konfrontiert werden, Erschrecken, Unverständnis oder gar Verurteilung hervorruft. Um so schockierender ist es, wenn Jugendliche - in Einzelfällen sogar Kinder - sich das Leben nehmen.

Ein Suizid löst unterschiedliche Gefühle und Emotionen aus. Er macht betroffen, verursacht Schmerz und Zorn - er ruft uns unsere eigene Endlichkeit wieder ins Bewusstsein (vgl. Langer, 2001).

Es gibt kaum einen Menschen, der nicht irgendwann in seinem Leben an Selbstmord denkt. Deswegen besteht jedoch nicht zwangsweise eine Selbstmordgefahr, denn die meisten von uns werden mit diesen Gedanken fertig; sie haften nicht an ihnen. Den Gefährdeten jedoch kommen diese Gedanken immer wieder ins Bewusstsein (Ringel, 1999).

Dieses Phänomen, dass sich Menschen selbst töten und dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, bei dem eine solche Handlung eindeutig festzustellen ist (vgl. Reiner & Kulessa, 1981), gibt sowohl den unmittelbar Betroffenen als auch insgesamt der menschlichen Gesellschaft Anlass zum Nachdenken. Wolfersdorf (1994) geht sogar davon aus, dass das suizidale Handeln wahrscheinlich das am häufigsten diskutierte menschliche Verhalten ist und die Selbsttötung so alt ist wie die Menschheit selbst.

2.1. Historische Betrachtung des Phänomens Suizid

Wir können davon ausgehen, dass es das Phänomen „Suizidalität“ bei allen Völkern, Kulturen und Gesellschaftsformen, zu allen Zeiten und jeder religiösen Gemeinschaft der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Deutliche Unterschiede zeigen sich jedoch in der Einstellung zum Suizid. So variierte beispielsweise die gesellschaftliche „Erwünschtheit“ im Laufe der Geschichte sehr stark. Im römischen Reich etwa wurde der Suizid durchaus gebilligt und galt manchmal sogar als ehrenvoll. Im Mittelalter widerrum wurde der gesamte Besitz eines Suizidenten eingezogen und die Ächtung dieser Handlung gipfelte darin, dass jegliche suizidale Handlung mit dem Tode bestraft wurde (vgl. Unterrainer, 2002).

So hat suizidales Denken und Handeln im Laufe der Menschheitsgeschichte unterschiedlichste Bewertungen erfahren. Der Spannungsbogen reicht von „Suizidalität als Ausdruck des freien Menschen“, „Suizidalität als Ausdruck größter Einengung durch psychische Erkrankung oder Lebenssituation“ bis zu „Selbsttötung als sittlich hochstehende Tat“ oder als „gesellschaftlich geächtetes und verurteiltes Verhalten“ (vgl. Wolfersdorf & Kaschka, 1995).

Die Wertung in den Religionen ist und war unterschiedlich: Verbot im jüdischen Talmud; Verbot des Suizides im Islam; Negierung im Buddhismus oder Hinduismus.

In der Zeit bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Suizid in unserem Kulturraum nahezu allein aus religiöser Sicht betrachtet. Die Selbsttötung galt als Todsünde, da der Mensch sich in dieser Handlung das Recht anmaßte, über sein Leben und seinen Tod zu bestimmen, was allein Gott zukommt. „Selbstmord kann ein letztmöglicher Ausdruck der Verzweiflung und des Misstrauens gegenüber dem Leben und Gott sein!“ - wobei sich diese alleinige religiöse Sicht und Bewertung des Suizides - ich werde später noch näher darauf eingehen - unter dem Einfluss der französischen Aufklärung änderte und eine mehr medizinische Sicht des Phänomens nunmehr den zentralen Blickwinkel darstellte. Der Suizid wurde als psychische Störung in die Nähe der Depression gerückt und so Forschungsgegenstand der sich entwickelnden Medizin und Psychiatrie (vgl. Langer, 2001).

2.2. Zur Begriffsbestimmung und Komplexität

Der Bereich Suizidalität schließt im engeren Sinn alle Gedanken und Handlungen ein, die mit der Intention einhergehen, sich das Leben durch Selbsttötung zu nehmen. Im weiteren Sinn zählt man im klinischen Alltag auch den Wunsch nach Ruhe, Pause, Veränderung und Unterbrechung im Leben mit dazu (Möller, Laux & Deister, 1995).

Wolfersdorf (2000) meint dazu:

Suizidalität ist die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen oder Gruppen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln, Handelnlassen oder passives Unterlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ereignis einer Handlung in Kauf nehmen; es ist ein komplexes und grundsätzlich allen Menschen mögliches Verhalten (S. 18)

wobei sich diese Definition an die Begriffsbestimmung von Haenel und Pöldinger (1986, zitiert nach Wolfersdorf & Kaschka, 1995) anlehnt, welche Suizidalität als das Potential aller seelischen Kräfte beschreiben, das auf Selbstvernichtung tendiert.

Zusammengefasst beinhalten suizidales Erleben und suizidale Verhaltensweisen also sowohl Todeswünsche, Suizidgedanken und Suizidabsicht als auch den Suizidversuch bzw. letztlich den Suizid selbst.

Folglich stellt das Wort „Suizidhandlung“ einen Oberbegriff dar, der jede gegen das eigene Leben gerichtete Handlung beschreibt, unabhängig davon, ob der Tod intendiert wird oder nicht und unabhängig davon, ob sie im Ereignis zum Tode führt oder nicht (vgl. Reiner & Kulessa, 1981). „Suizid“ hingegen ist eigentlich ein Kunstwort und leitet sich aus dem Lateinischen „sui cadere“ - sich selbst töten - ab.

Ringel (1969, zitiert nach Haenel, 1989) versteht unter Selbstmord „eine absichtliche Selbstschädigung mit tödlichem Ausgang, die mit einer mehr oder minder klaren Selbstvernichtungstendenz durchgeführt wurde“. Er prägte auch den Ausdruck des „präsuizidalen Syndroms“, welches gesetzmäßig vor der eigentlichen Suizidhandlung auftauchen sollte und später von mir noch eingehender erörtert wird.

Während Durkheim (1983, S. 25) beispielsweise „jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, deren Urheber das Opfer selbst ist, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im Voraus kannte“ als Selbstmord ausführt, definiert Bronisch (1995) den Suizid lediglich als „einen zum Tode führenden Suizidversuch“.

Es existieren unzählige Definitionen und unterschiedliche Beschreibungen des Suizides; allen gemein ist jedoch, dass sie den Suizid als Handlung definieren, welche eine aktive und bewusste Intention zu sterben voraussetzt.

Anders der Suizidversuch. Er wird folglich als eine gegen das eigene Leben gerichtete Handlung definiert, welche nicht zum Tode geführt hat, unabhängig davon, ob der Tod intendiert wurde oder nicht (vgl. Reiner & Kulessa, 1981).

Diese auch von Döring (1996) vorgeschlagene Definition des Suizidversuches als „autodestruktives Verhalten, mit dem Vorsatz, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, das nicht tödlich ausgeht“ erscheint jedoch nicht so überzeugend, da viele Betroffene aufgrund ihrer ambivalenten Situation gar nicht sicher sagen konnten, ob sie den Tod wirklich wollten. Diese Definition würde voraussetzen, dass der Tod das alleinige Ziel einer Suizidhandlung ist - eine These, die sich jedoch nicht halten lässt. Schon 1969 wies Stengel (zitiert nach Ringel, 1969) darauf hin, dass viele Suizidhandlungen Appellcharakter in Gestalt eines Hilfeschreies, einer Erpressung oder Bestrafung aufweisen oder Ausdruck eines Wunsches nach vorübergehender Unterbrechung des Lebensweges sind, der durch eine momentane Krisensituation schwierig geworden ist.

Suizidenten sind in ihrer Haltung so ambivalent, dass die gleiche Suizidhandlung sowohl die Tendenz des endgültigen Todes als auch den Wunsch nach einer parasuizidalen Pause oder den Charakter eines Appells tragen kann. Trotz einer gegen das eigene Leben gerichteten Handlung besteht oft die mehr oder weniger bewusste Erwartung zu überleben (vgl. Langer, 2001).

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass hinter dem Begriff „Suizidalität“ sehr unterschiedliche Phänomene mit unterschiedlicher Gewichtung stecken können. Das Erscheinungsbild reicht von einer einmaligen suizidalen Geste über Suizidalität als lebenslange Dauerdynamik und schließlich bis hin zum Tode. Wenn Bründel (1993) feststellt, dass „Suizidgedanken allein kein ausreichendes Kriterium für Suizidalität“ sind, wenn Döring (1996) unter Suizidalität ein Kontinuum von direkter Herbeiführung einer Selbsttötung - über eher indirekte und schleichende selbsttötende Verhaltensweisen (z.B. Drogenkonsum) bis hin zu unbewusstem Selbsttötungsverhalten - versteht, wird deutlich, dass sich hinter dem Begriff nicht nur verschiedenste Impulse verbergen können, sondern vor allem unterschiedliche akute oder ernste Bestrebungen.

Gerade bei Jugendlichen findet sich in der Pubertät häufig eine gedankliche Auseinandersetzung mit dem Suizid. Von einer echten Suizidalität kann hierbei jedoch nicht gesprochen werden, obwohl, je nach Ausmaß der Gedanken und der Auseinandersetzung mit der Thematik durchaus ein Suizidrisiko bestehen kann (vgl. Langer, 2001).

Misek-Schneider (1994) betont in Anlehnung an Henseler zu Recht, dass Todesphantasien in der Pubertät wichtige und durchaus übliche Mechanismen sind, um mit Kränkungen - vor allem mit Kränkungen des Selbstwertgefühles - umzugehen und diese zu überwinden. Es ist besonders in diesem Alter möglich, sich mit dem phantasierten Tod und dessen Konsequenzen zu begnügen und so innerpsychische Spannungen abzubauen, ohne immer in eine echte Suizidalität zu gelangen. Jedoch bei gleichzeitigem Auftreten bestimmter Risikofaktoren kann es zu schweren psychischen Krisen und echten Suizidhandlungen im Sinne von missglückten Konfliktlösungsversuchen kommen.

Auch Reiner (1988) geht von einer generell erhöhten Krisenanfälligkeit von Jugendlichen aus, da seiner Meinung nach junge Menschen noch wenig Erfahrung in der Bewältigung von Krisen haben, so dass oft für Außenstehende scheinbar unbedeutende Konflikte zu einer schweren Krise mit Suizidgefahr führen können.

2.3. Suizid versus Suizidversuch

Ein Durchsehen der fachspezifischen Literatur lässt darauf schließen, dass es zwischen den beiden Phänomenen Suizid und -versuch deutlich Unterschiede, jedoch auch Gemeinsamkeiten gibt (vgl. Haenel, 1989; Haller & Lingg, 1987; Pöldinger, 1968). Auch sind sich die meisten Autoren und Autorinnen darüber einig, dass meist eine strikte Trennung zwischen Suizid und Suizidversuch nicht möglich ist, da in vielen Fällen Suizidversuche als „missglückte Suizide“ bzw. Suizide als „missglückte Suizidversuche“ im Sinne der eigentlichen Intention ihre Rollen tauschen können.

Farberow (1979) beispielsweise unterscheidet zwischen indirekt suizidalem Verhalten, welches von Selbstentwertung bis zu Hochrisikoverhalten reiche, mit Selbstverletzung einhergehen könne unter Einschluss der Möglichkeit des Versterbens, jedoch ohne Absicht, den eigenen Tod herbeizuführen und direkt selbstdestruktiven Verhalten, welches von präsuizidalen Verhaltensweisen mit Vorbereitung zur Selbstzerstörung über den Suizidversuch bis zur Suizidankündigung und -durchführung sich spannen könne.

Grundsätzlich unterscheiden sich jedoch Menschen, die einen Suizidversuch verüben in verschiedensten Charakteristiken von jenen, die tatsächlich Suizid begehen. Beispielsweise werden Suizidversuche eher Frauen, vollendete Suizide hingegen eher Männern zugesprochen. Der Fakt - dass sich Männer etwa doppelt so häufig wie Frauen das Leben nehmen; Frauen hingegen öfter Suizidversuche begehen - ist eine seit Stengel (1964, zitiert nach Freytag & Giernalczyk, 2001) bekannte Tatsache, welche durch alljährliche Statistiken und epidemiologische Arbeiten stets aufs Neue belegt wird.

Nach Henseler (1974) wird dies in dem Sinne erklärt, dass es Frauen aufgrund der gesellschaftlichen „Erlaubnis“, Schwäche und Hilflosigkeit zu zeigen eher „gestattet“ ist, Suizidversuche im Sinne eines appellativen Verhaltens zu zeigen bzw. im Gegensatz dazu Männern - ohne diesen gesellschaftlich-sozialen Hintergrund - nur der Suizid bleibt. So werden beispielsweise auch Beratungsstellen und Kriseninterventionsstellen bzw. Einrichtungen wie die Telefonseelsorge überwiegend von Frauen - jedoch kaum von Männern in Anspruch genommen (vgl. Freytag & Giernalczyk, 2001).

Eine andere Erklärung dafür wird nach Stengel (1964, zitiert nach Israel, Felber & Winiecki, 2001) möglicherweise auch darin gesehen, dass Männer eher kompromissloser und lösungsorientierter handeln als Frauen und ihre geringere Fähigkeit, sich existentiellen Konflikten zu stellen, als auslösendes Moment dahingehend angesehen werden kann.

Dennoch gibt es jedoch auch zahlreiche Frauen, welche Selbstmord begehen bzw. viele Männer, die etliche Suizidversuche hinter sich haben (vgl. Bronisch, 1995).

2.4. Epidemiologie

Laut dem Statistischen Jahrbuch Österreichs 2004 (Statistik Austria, 2004) - aus Tabelle 2 auf nachfolgender Seite ersichtlich - nahmen sich in Österreich im Jahre 2002 insgesamt 1.551 Menschen das Leben - davon 1.189 Männer und 362 Frauen. Seit Mitte der 80er Jahre sind diese Zahlen zwar rückläufig; insgesamt sind sie jedoch fast doppelt so hoch wie jene der Verkehrstoten (Zahl der Verkehrstoten beläuft sich für das Jahr 2002 auf 931 Personen). Die Suizidversuchsraten dürften amtlichen Schätzungen zufolge etwa 10mal so hoch sein - statistische Angaben fehlen leider.

Anderen Angaben zufolge (Dr. Leixnering, Leiter der Jugendpsychiatrie an der LNK Wagner-Jauregg in Linz) ereignen sich pro Jahr in Österreich etwa 1.800 bis 2.200 Suizide. Über 20% der SelbstmörderInnen sind zwischen 15 und 24 Jahre alt - etwa 1,5 bis 1,8% betreffen Kinder zwischen 8 und 14 Jahren.

Das tatsächliche Ausmaß und die Entwicklung jugendlicher Suizidalität ist deshalb so schwer abzuschätzen, da Suizide häufig nicht als solche erkannt, sondern als Unfälle registriert werden (vgl. Madge & Harvey, 1999). Es muss daher davon ausgegangen werden, dass das Problem jugendlicher Suizidalität noch größer ist, als die offiziellen Zahlen vermuten lassen.

Ein weiterer entscheidender Faktor, der in den offiziellen Selbstmordstatistiken stets unberücksichtigt bleibt - obgleich er dieselben in unbekannter Höhe beeinflusst - ist im Grad der Tabuisierung und Verpönung des Suizids zu sehen. Je stärker dieser als verwerflich gilt, um so höher muss die Zahl der getarnten, verheimlichten und somit unter anderen Todesursachen erscheinenden Suizide geschätzt werden (Hole, 1977).

Wir sprechen hier nicht etwa von einem Problem längst vergangener Zeiten - nein. Nach wie vor gilt - vor allem für jugendliche Suizide - diese zu verheimlichen und unter dem Deckmantel der Tabuisierung mit dem Stempel der Negierung zu versehen bzw. als Unfälle abzutun (vgl. Langer, 2001).

Dem gegenüberstellend möchte ich hier nun abschließend und kommentarlos eine - im Zuge meiner Literaturrecherche im Internet aufgegriffene und meiner Meinung nach eines der Hauptprobleme im Kontext des hier Beschriebenen wiedergebende - Definition eines Suizides anführen:

„Selbstmord meint die Abwesenheit anderer!“

2.4.1. Einige Zahlen

Tabelle 2

Selbstmorde in Österreich von 1970, 1980 bis 2002 laut dem Statistischen Jahrbuch 2004 (Statistik Austria, 2004)

Selbstmorde

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3

Selbstmorde in Österreich im Jahre 2002 laut dem Statistischen Jahrbuch 2004 (Statistik Austria, 2004) - getrennt nach Altersgruppe und Geschlecht

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 4

Suizidtote Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland der Jahre 1990 bis 1998 (Langer, 2001)

Suizidtote Kinder und Jugendliche

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Schmidtke und Häfner (zitiert nach Langer, 2001) nennen Selbstmord bei Jugendlichen als dritthäufigste Todesursache; Langer (2001) selbst reiht den jugendlichen Suizid an zweiter Stelle der Todesursachen bei Jugendlichen ein - wobei männliche Jungendliche in etwa 3 bis 4mal gefährdeter gelten als Mädchen (diese Annahme findet auch in den zuvor dargestellten Tabellen 2 und 3 Bestätigung).

Hinsichtlich durchgeführter Suizidversuche dominieren ab dem frühen Jugendalter Mädchen in einem Verhältnis von 3:1 bis 9:1 gegenüber jugendlichen Buben; d.h. dass etwa drei bis neun weiblichen Suizidversuchen lediglich ein Versuch bei den Jungen gegenübersteht.

Einem Bericht des amerikanischen „Center for Disease Control“ (CDC, 2000 zitiert nach Powell Stanard, 2000) zufolge klärt Selbstmord bei Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren mehr Todesfälle als irgendeine Krankheit. Im Jahre 1996 beispielsweise wurde Selbstmord als dritthäufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren registriert; unter den 10 bis 14-Jährigen als vierthäufigste Todesursache in die Statistik mitaufgenommen.

2.5. Risikogruppen suizidalen Verhaltens

Die große Nähe von Suizidalität und psychosozialen Krisen bzw. psychischer Erkrankung führt nach Wolfersdorf (2000, S. 71) zu einer Einteilung in drei große Risikogruppen:

1. Psychisch Kranke, nämlich primär Depressive, Suchtkranke (Alkohol- und Drogenabhängige) sowie schizophrene Patienten, wobei hier auch Menschen mit Persönlichkeits- und Angststörungen anzuführen sind.
2. Menschen in Krisen unterschiedlicher Entstehungsgeschichte und zu unterschiedlichen Lebenszeiten, nämlich sowohl alte Menschen, wie auch junge Erwachsene, Menschen mit Vereinsamung und Isolation, Menschen in traumatischen sowie in Veränderungskrisen - hier besonders Menschen in narzisstischen Krisen (Selbstwertkrisen) oder auch Menschen in der Auseinandersetzung mit lebenseinschränkenden und -beeinträchtigenden Erkrankungen somatischer und psychischer Art.
3. Menschen mit einer bereits offensichtlich erhöhten Suizidalität, also solche, die suizidales Verhalten angekündigt haben bzw. suizidales Verhalten in ihrer bisherigen Lebensgeschichte bereits aufweisen. Hierzu gehören auch Menschen, die sich in stationärer psychiatrischer Therapie befinden - da diese meist eine besonders schwere Ausprägungsform ihrer Erkrankung voraussetzt.

2.6. Suizidalität und Religiosität

Bereits 1931 betonte Gaupp, dass eine Abnahme des religiösen Glaubens die Zunahme eines Selbstmordes begünstigen würde und „in tiefer Religiosität, nicht freilich in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession, ein starkes Motiv gegen den Selbstmord“ liege (zitiert nach Hole, 1977, S. 58/59).

Postman beantwortete in seinem 1995 erschienenen Buch „Keine Götter mehr“ die Frage „Was geschieht mit Menschen, wenn sie keine Götter mehr haben?“ wie folgt: „Einige begehen Selbstmord. Einige betäuben sich mit Drogen oder Alkohol. Einige holen sich, was immer an Genuss in blinder Gewalt liegen mag“. Er geht davon aus, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen menschlicher Kultur, dem Verfall des Religiösen (im weitesten Sinne), der abnehmenden Lebensorientierung und der Zunahme an Suizidenten gibt. Er spricht von einem „Gottesbedarf“, der aus dem Gefühl der Sinnlosigkeit beim Menschen entsteht und erhebt die These, dass sich Glaube und suizidgefährdete Menschen etwas zu sagen haben (zitiert nach Langer, 2001).

Der religiöse Glaube galt und gilt - besonders in seiner jüdisch-christlichen und muslimischen Gestalt - als eine kulturelle Instanz, welche eine Selbsttötung auf das Entschiedenste ablehnt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1960, zitiert nach Langer, 2001) meinte, man solle sich stolz selbst abschaffen, wenn man nicht mehr stolz leben könne, und der Kranke sei „ein Parasit der Gesellschaft“. Er stellte den Gegensatz zwischen Religiosität und Suizid deutlich dar, als er bemerkte:

Man kann das Christentum nicht genug verurteilen, weil es den Wert einer solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken der unsterblichen Privat-Person entwertet hat: insgleichen durch die Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer durch ein Abhalten von der Tat des Nihilismus, dem Selbstmord. (S. 792)

Schon 1897 machte sich Durkheim in seinem grundlegenden Werk „Le suicide“ Gedanken über einen suizidverhütenden Einflusses der Religion, wobei er diesen primär nicht - wie Nietzsche - im Glauben an ein ewiges Leben nach dem Tod sah, sondern eher in einer Unterordnung kollektiver und sinnerfüllter Ansichten, Riten und Ziele gemeinsamer Glaubenslehren und Normen (vgl. Grom, 2000). Der Zusammenhang zwischen Religiosität und Suizidalität wurde von Durkheim dahingehend gesehen, dass eine Religion in dem Maße eine suizidverhütende Wirkung entfalte, als sie durch gemeinsame Glaubenslehren und Ziele die soziale Integration ihrer Anhänger fördert. Nach Durkheim sollte ein reges religiöses Leben in einer Gemeinschaft von Gläubigen folglich eine Schutzfunktion darstellen. Menschen, die in einem Kreis Gläubiger integriert sind, erleben sich selbst weniger einsam und ordnen sich als Individuum der Gemeinschaft unter - der „egoistische“ Suizid wird dadurch verhindert.

Diese von Durkheim entwickelte Integrationstheorie hat zahlreiche empirische Studien angeregt, welche jedoch zu recht uneinheitlichen Ergebnissen führten und ist demzufolge heute in ihrer ursprünglichen Form - der alleinigen bzw. sehr hohen Veranschlagung einer Prägung durch die Normen und Regeln einer Glaubensgemeinschaft - immer schwerer aufrechtzuerhalten. So sollten beispielsweise Protestanten suizidgefährdeter sein als Katholiken, da sich Anhänger einer protestantischen Religionsgemeinschaft als unabhängige Individuen wahrnehmen. Dieses Ergebnis könnte sich jedoch auch dadurch erklären, dass Protestanten generell der Thematik offener begegnen als Katholiken und es somit seltener zu Verschleierungen kommt (vgl. Siegrist, 1996). Eine weitere Erklärung könnte nach Burger (1964, zitiert nach Hole, 1977) auch darin gesehen werden, dass

die Feststellung, Protestanten seien suizidgefährdeter als Katholiken nicht bedeutet, dass sie dies seien, weil sie Protestanten sind. Wenn überhaupt, dann könne nicht die äußere Religionszugehörigkeit, sondern nur der ’Grad der inneren Bindung’ an die Religion für eine Selbstmordneigung wichtig sein. (S. 55)

Im Jahre 1989 schlugen Pescosolido und Georgianna eine erste Modifikation von Durkheims Ansatz im Sinne einer Netzwerk-Theorie vor (vgl. Grom, 2000). In ihrer Theorie wird explizit auf die Ressource des Gesichertseins durch ein christlich-soziales Netzwerk hingewiesen jedoch in weiterer Folge auch kritisiert, dass die persönliche Religiosität in derartigen Überlegungen zu kurz kommt.

Diesen Überlegungen wurde in der von Stark et al. 1983 (zitiert nach Grom, 2000) konzipierten Commitment-Theorie Rechnung getragen. Abweichend von Durkheim und näher an der weiter oben zitierten Nietzsche-Äußerung nimmt die Commitment-Theorie an,

dass nicht die Dogmen und Normen einer Religion im allgemeinen, sondern eine Verinnerlichung spezifischer Glaubensinhalte suizidverhütend wirke. Beispielsweise könne der Glaube an ein seliges Leben nach dem Tod manche Enttäuschungen ausgleichen und sie als vorübergehende Episoden relativieren, oder das Leiden könne als gottgewollt betrachtet und durch die Ansicht erträglicher werden, dass Gott darum weiß und auf unsere Gebete antwortet. Die Religion stelle schließlich der materialistischen Rangordnung der Gesellschaft eine spirituelle Wertordnung entgegen, dank der sich auch der materiell Erfolglose Selbstwert zuerkennen könne und sie ermutige zu einem Leben, das am Leid nicht zerbricht. (S. 23)

Heute stellt sich die Frage, ob bzw. wie Religiosität als Verwurzelung in einer Glaubensgemeinschaft bzw. als persönliche Einstellung mit Suizidalität einhergeht. Die Forschung auf diesem Gebiet ist jedoch von befriedigenden Antworten auf Fragen dieser Art noch weit entfernt; obwohl sowohl im prognostischen als auch im therapeutischen Kontext sowohl Pöldinger (1982, zitiert nach Langer, 2001) als auch Wolfersdorf (1999, zitiert nach Langer, 2001) hinsichtlich einer Abschätzung des Suizidrisikos immer wieder darauf hinweisen, nicht nur auf die Verwurzelung des/der Patienten/Patientin „in einer religiösen bzw. weltanschaulichen Gemeinschaft“ sondern auch - wenn nicht vor allem - auf die persönliche religiöse Bindung zu achten.

2.7. Erklärungsmodelle suizidalen Verhaltens

Nach Wolfersdorf (2000) lassen sich folgende Erklärungsmodelle unterscheiden:

- Psychiatrisch-phänomenologische Beschreibungen

sehen Suizidalität im Kontext psychischer Erkrankungen

- Psychoanalytisch-tiefenpsychologische Modellvorstellungen

erheben Suizidalität als Ausdruck einer narzisstischen Krise, als Lösung eines Aggressionskonfliktes

- Lerntheoretisch-verhaltenstherapeutische Modelle

sehen Suizidalität (im Sinne erlernten Verhaltens) als Reaktion auf Stress mit einem dysfunktionalem Ergebnis

- Soziologische Theorien

ernennen die Suizidrate einer Gesellschaft als Ausdruck der Psychohygiene derselben

- Biologische Modellüberlegungen

schließlich sehen Suizidalität im Kontext einer Impulskontrollstörung als Ausdruck eines genetisch mitbedingten Defizits im Serotoninstoffwechsel an.

Suizidalität zu beurteilen kann zweifelsohne als eine der schwierigsten Aufgaben innerhalb psychologischer (Forschungs-) Tätigkeit angesehen werden. Seit jeher wird nach jenen Kriterien gesucht, welche zu einer Reduzierung der Unsicherheit bei der Einschätzung von Suizidalität beitragen können bzw. unterschiedliche Theorien hinsichtlich einer suizidalen Entwicklung angeboten; wobei die verschiedensten Theorien jedoch nicht unabhängig voneinander oder gar isoliert betrachtet werden sollten, sondern eher als sich gegenseitig ergänzende Aspekte.

Jener Prozess der Umsetzung von Suizidgedanken in die Tat wurde beispielsweise von Pöldinger (1968, zitiert nach Wolfersdorf & Kaschka, 1995) in seinem Modell der Stadien und Dynamik der suizidalen Entwicklung anhand dreier Stadien beschrieben: im Stadium der Erwägung wird der Selbstmord als Möglichkeit der Problemlösung in Betracht gezogen, Todeswünsche und Selbstmordphantasien folgen. Dem Stadium der Erwägung schließt sich eine Ambivalenzphase an, welche durch Unsicherheit gekennzeichnet ist. In dieser Phase werden häufig Signale gesetzt - es kommt zu direkten oder indirekten Selbstmordankündigungen. Im dritten Stadium, dem des Entschlusses, werden entweder direkte Hinweise gegeben oder aber es kommt zu einer plötzlichen „Ruhe vor dem Sturm“, bei der eine akute Suizidgefährdung besonders leicht übersehen werden kann.

Ein die weitere Forschung nachhaltig beeinflussender Ansatz zur Erklärung der Suizidalität von Menschen stellt der 1974 unter dem Titel: „Narzisstische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords“ veröffentlichte Beitrag von Henseler dar. In seiner Theorie geht er von einer Persönlichkeitsstruktur aus, die eine besondere Suizidanfälligkeit aufweist - die des narzisstisch gestörten Menschen. Dieser versucht, in Krisen sein stark verunsichertes Selbstwertgefühl zu schützen, wobei er zum Mittel der Suizidalität greift, da die in ihrem Selbstwertgefühl stark verunsicherte Persönlichkeit nicht in der Lage ist, Krisen- oder Konfliktsituationen auf normalem Wege zu lösen (vgl. Langer, 2001). Mit anderen Worten beschrieben geht das Krisenmodell (vgl. Wolfersdorf & Kaschka, 1995) von einer bisher psychisch unauffälligen Persönlichkeit aus, die mit ihren vorhandenen Bewältigungsstrategien bisherige Lebensereignisse und Belastungen meistern konnte. Trifft sie nun auf ein anhand ihrer bisherigen Strategien nicht zu bewältigendes Lebensereignis, versagen oder fehlen zusätzliche äußere Ressourcen (Familie, Partnerschaft, Religion,...) und besteht zudem Lösungsdruck, so entwickelt sich ein innerer Spannungszustand, der mit Symptomatik einhergeht: Einengung der Gedanken, Unfähigkeit, andere Lösungswege wahrzunehmen, Unfähigkeit einer kritisch-distanzierten Bewertung, Gefühle von dysphorischer Gereiztheit, Depressivität, Hilf- und Hoffnungslosigkeit,... treten auf. Außerdem ist zu vermuten, dass in der Lebensgeschichte dieser Person selbstdestruktive Stile der Konfliktbewältigung, depressive Attributionsstile bzw. Neigung zu Selbstentwertung oder Gefühle existentieller Lebensunfähigkeit häufiger vorliegen. Suizidales Verhalten ist hier also eine Form des Krisenverhaltens und kann auch als Anpassungsstörung, Belastungsreaktion oder depressiv-suizidale Reaktion bezeichnet werden.

Im Krankheitsmodell schließlich - einem psychobiologischen Modell von Suizidalität mit vermittelnden psychopathologisch Faktoren - wird suizidales Verhalten als Ausdruck einer psychischen Erkrankung - primär einer Major Depression - verstanden (vgl. Wolfersdorf & Kaschka, 1995; Ahrens, 2000).

Abbildung 2

Krankheitsmodell (vgl. Wolfersdorf & Kaschka, 1995, S. 11)

Psychische Krankheit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Hoffnungslosigkeit

Unerträglichkeit seelischen Schmerzes

Antizipation unerträglichen körperlichen Schmerzes

Unerträgliche Unruhe

Quälendes Schuldgefühl bis Schuldwahn

Unerträgliche existentielle Bedrohung

Altruismus, Opferhaltung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Suizidales Verhalten

2.7.1. Erklärungsmodelle suizidalen Verhaltens Jugendlicher

2.7.1.1.Das präsuizidale Syndrom

In jener 1953 von Ringel herausgegebenen Monographie „Der Selbstmord - Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung“ wird erstmals das „präsuizidale Syndrom“ - gekennzeichnet durch „Einengung“, „gehemmter und gegen die eigene Person gerichtete Aggression“ und „Selbstmordphantasien“ - beschrieben.

Um die einzelnen Stufen des präsuizidalen Syndroms zu verdeutlichen, möchte ich an dieser Stelle ein Gedicht eines Suizidenten zitierten, welches sie in sehr eindrucksvoller Weise wiedergeben zu vermag (zitiert nach Ringel, 1981).

Immer enger wird mein Denken, immer blinder wird mein Blick. Mehr und mehr erfüllt sich täglich mein entsetzliches Geschick. Kraftlos schlepp ich mich durchs Leben, aller Lebenslust beraubt, habe keinen, der die Größe meines Elends kennt und glaubt. Doch mein Tod wird euch beweisen, dass ich jahre-, jahrelang an des Grabes Rand gewandelt, bis es jählings mich verschlang. (S. 584)

Es erhob sich jedoch die Frage, ob die einzelnen Elemente dieses präsuizidalen Syndroms auch auf Kinder und Jugendliche übertragbar sind. Anhand einer von Ringel 1984 publizierten Untersuchung an 40 Jugendlichen nach einem Suizidversuch wurde deutlich, dass das präsuizidale Syndrom bei Jugendlichen durch folgende Merkmale charakterisiert wird:

1. konkrete Vorstellungen über die Durchführung eines Suizidversuchs

2. Suizidgedanken in der Anamnese

intensive, gedankliche Beschäftigung mit dem eigenen Suizid, während der die Vorstellung, einen Suizid zu unternehmen, für die/den Betroffene/n zunehmend an Vertrautheit gewinnt

3. dysphorische Verstimmungen

4. psychosomatische Äquivalente

Schlafstörungen, Veränderungen des Essverhaltens, Müdigkeit, Konzentrations- und Kreislaufstörungen, Störungen des vegetativen Nervensystems.

Damit unterscheidet sich das präsuizidale Syndrom bei Kindern und Jugendlichen von demjenigen bei Erwachsenen insbesondere durch das Hinzutreten psychosomatischer Störungen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 190 Seiten

Details

Titel
Wie Vertrauenspersonen die Gefühlslage von Jugendlichen beeinflussen. Der Zusammenhang von Selbstwert, Perfektionismus, Depression und Suizid
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz  (Institut für Psychologie)
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2004
Seiten
190
Katalognummer
V31382
ISBN (eBook)
9783638324120
Dateigröße
2121 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstwert, Perfektionismus, Spiritualität, Korrelate, Depressivität, Suizidalität, Ausmaß, Fehlens, Vorhandenseins, Vertrauensperson, Leben, Jugendlicher, Ausprägung, Variablen
Arbeit zitieren
Sigrid Pichler (Autor:in), 2004, Wie Vertrauenspersonen die Gefühlslage von Jugendlichen beeinflussen. Der Zusammenhang von Selbstwert, Perfektionismus, Depression und Suizid, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31382

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