Der vierfache Schriftsinn. Zugänge zur Auslegung der Bibel

Entwicklung, Darstellung, Chancen und Grenzen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

27 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG

2 AUSGANGSPUNKT UND ENTWICKLUNG DER LEHRE VOM VIERFACHEN SCHRIFTSINN
2.1 Jesu Schriftinterpretation
2.2 Apostolische Schriftinterpretation
2.3 Die allegorische Schriftinterpretation des Origenes
2.4 Die Schriftinterpretation Augustins
2.5 Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn bei Johannes Cassianus und die Stiftung einer Auslegungstradition
2.6 Die Schriftinterpretation des Thomas von Aquin
2.7 Zusammenfassung

3 SYSTEMATISCHE DARSTELLLUNG DER LEHRE VOM VIERFACHEN SCHRIFTSINN
3.1 Der literarische Schriftsinn
3.2 Der spirituelle Schriftsinn
3.2.1 Der allegorische Schriftsinn
3.2.2 Der moralische Schriftsinn
3.2.3 Der anagogische Schriftsinn
3.3 Übersicht

4 CHANCEN UND GRENZEN DER LEHRE VOM VIERFACHEN SCHRIFTSINN - EINE PERSÖNLICHE STELLUNGNAHME

5 BIBLIOGRAPHIE

1 EINLEITUNG

Das Bemühen um eine der Bibel adäquate Hermeneutik, die sowohl um die historische Erhellung der biblischen Botschaft einerseits sowie um ihre relevante Kontextualisierung ins soziokulturelle Umfeld hinein andererseits, befleißigt ist, beschäftigt die (kirchliche) Schriftauslegung nicht erst seit der Aufklärung.1 Vielmehr berechtigt das Studium der Theologiegeschichte zur Ansicht, dass sich die Kirche der Herausforderung um eine ordnungsgemäße Schriftinterpretation von ihren frühesten Tagen an gestellt hat.

Was in jenen ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten sorgfältig, aber auch sehr bestimmt konstituiert wurde, blieb bis zum Anbruch der Neuzeit kirchliche Auslegungspraxis. Die Basis hatte Philo von Alexandrien gelegt, für die Weiterentwicklung sorgte die Alexandrinische Schule, namentlich Origenes. Über letzteren ging der Weg dieser Interpretationsweise weiter in den Westen, besonders über die geniale Gestalt Augustins (vgl. Berger 1999:7). Bekannt geworden ist diese Art der Schriftinterpretation als eine von einem mehrfachen - je nach Ausprägung: doppelten, dreifachen oder vierfachen - Schriftsinn ausgehende Bibelexegese, die Ädurch das ganze Mittelalter hindurch unangefochtene Geltung“ hatte (Reventlow 1994:221).

“In ancient times, the Bible had been one book among many, but it now became the only book of which many people had any knowledge” (Bray 1996:130). So galt die Bibel innerhalb eines un- gefähr tausendjährigen Zeitraums als Schulbuch par excellence (Smalley 1970:xiv), Äum deren Verstehen das Mittelalter in Gottesdienst und Unterweisung, in zahllosen Kommentaren und mit allen Mitteln der Künste, die Dichtung eingeschlossen, gerungen hat“ (Ohly 1977:2; vgl. Ocker 1998:75). Ihr Inhalt durchdrang das Denken der gesamten Epoche und es ist von daher nicht verwunderlich, dass das Bibelstudium als höchster Wissenschaftszweig galt (Smalley 1970:xi- xiv).

Aus hermeneutischer Perspektive nahte man dem einflussstarken Text mithilfe des zum »vierfachen Schriftsinn« weiterentwickelten Auslegungsverfahrens. Dieser mittelalterlichen, längst nicht mehr als ‚barbarisch’ verschrienen - wie neuere Untersuchungen2 eindeutig aufzeigen -, sondern wenn auch in festen Bahnen verlaufenden, deshalb aber nicht undifferenziert ausgestalteten Schriftinterpretation, sondern geistreichen Form der Exegese (Smalley 1970:xiii ff) gilt die Aufmerksamkeit der vorliegenden Arbeit.

Wenn die Lehre vom vierfachen Schriftsinn es bisher offensichtlich nicht geschafft hat, Äsich aus der Lokalisierung im Mittelalter zu befreien“ (Gerigk 2002:119) und in der so genannten modernen Hermeneutik keine Wirkung entfaltet hat (:136), so beobachtet man in der Ägegenwärtige[n] Diskussion um den Pluralismus so genannter neuer Paradigmen biblischer Exegese ... die Ablösung der historisch-kritischen Exegese durch eine neue Variante der Theorie eines mehrfachen Schriftsinns“ (Körtner 1991:216).

Neuere Untersuchungen erlauben schon seit einiger Zeit, in der Lehre vom vierfachen Schriftsinn zunehmend auch eine aktuelle Fragestellung zu sehen. Wagt man einen Blick auf die hermeneutischen Entwicklungen der letzten fünf Jahrzehnte, so nimmt man mitunter radikale Verschiebungen wahr. Wollte man noch Mitte des vorigen Jahrhunderts ausschließlich die historisch-kritische Methode als hermeneutisch gültigen Zugang zur Schrift anerkennen, in der man Ädie Genesis einer Lebensäußerung verwechselt [hat] mit ihrer hermeneutischen Entschlüsselung“ und die Texte somit auf das historische Verständnis verengte (Maier 1990:53), so beobachtet man seitdem ein stetes Anwachsen von alternativen Zugängen, so dass wir uns heute einem regelrechten Methodenpluralismus gegenübergestellt sehen.3

Daneben hat auch die »Biblische-Theologie-Bewegung«4, sowie die nach dem Zweiten Welt- krieg entfachte Debatte um den sensus plenior,5 d.h. ob das Neue Testament an sich von einem »volleren« oder »umfassenderen« Sinn der alttestamentlichen Schriften ausgeht (vgl. Longen- ecker 1999:xxxi-xxxiv),6 das erneute Fragen nach ‚mehr’ als nur einer literar-historischen Inter- pretation geweckt.

Auch wenn das allen Ansätzen gemeinsam zugrunde liegende Bestreben, die Bibel ganzheitlich zu verstehen, nach Oeming (1998:175.177) nicht über die Ägegenwärtige Methodenfülle und die mit ihr verbundene Sinnflut“ hinwegtäuschen kann, sollte man sie Äweder als etwas prinzipiell Neues noch als etwas Beängstigendes einstufen. Sie ist vielmehr als eine von der Eigenart des Verstehens her notwendige Transformation der antiken Lehre vom vierfachen Schriftsinn zu be- greifen“.

Aus dem bisher Gesagten kann folglich bedenkenlos geschlussfolgert werden, dass die Untersuchung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn sich nicht nur mit einer historischen, sondern auch zunehmend aktuellen Fragestellung beschäftigt.7

Im vorgegebenen Rahmen werde ich zunächst dem Ausgangspunkt und der Entwicklung des vierfachen Schriftsinns nachspüren, diesen sodann systematisch zu erhellen versuchen. Ausgewählte Beispiele dienen der Veranschaulichung der niedergelegten hermeneutischen Grundsätze. Nach erfolgter Darstellung wird sich das abschließende Kapitel um die Würdigung des beschriebenen Interpretationsansatzes bemühen.

2 AUSGANGSPUNKT UND ENTWICKLUNG DER LEHRE VOM VIERFACHEN SCHRIFTSINN

Eine Geschichte der Bibelauslegung muss Institutionen und Bewegungen in Betracht ziehen. Der an dieser Stelle erfolgende, auf die Lehre vom vierfachen Schriftsinn konzentrierte Abriss von der apostolischen bis hin zur hochscholastischen Schriftinterpretation wird sich aber zwangsläu- fig, da er diese Arbeit nicht leisten kann, vor allem als eine Geschichte einiger (weniger) Gelehr- ten erweisen.8

Von immenser Reichweite für diese Untersuchung ist die bewusst an den Anfang gestellte, da richtungweisende Schriftinterpretation Jesu. Richtungweisend ist sie, weil seine Nachfolger sie als autoritativ anerkannt haben und folgerichtig um größtmögliche Nachahmung bemüht waren.

2.1 Jesu Schriftinterpretation

Nicht von ungefähr schreibt Schäfer (1980:15): ÄDie Stellung der Bibel in der Kirchengeschichte wird nur verständlich aus der Stellung Jesu zur Heiligen Schrift seines Volkes“. Darüber hinaus ist Ädas richtige Verständnis des Werkes Jesu das eigentliche Ziel nicht nur alles Bibelstudiums, sondern auch aller Theologie“ (:ebd.).

Zuerst die Apostel, ihnen nacheifernd die Apostelschüler, waren sehr darum bemüht, sich so stark wie möglich an den Schriftgebrauch ihres ‚eigentlichen’ Lehrers Jesus zu halten. So hat ge- rade seine Schriftinterpretation, obwohl er selbst nie eine Hermeneutik vorgegeben hat und Äder Schwerpunkt seiner Verkündigung nicht in der Schriftauslegung liegt“ (Ebeling 1959:246), größ- te Auswirkungen auf die apostolische und frühchristlichen Interpretation des Alten Testaments und auf diese Weise das Entstehen des christlichen Neuen Testaments ausgeübt. ÄJesu Auftreten war ... in sich selbst ein hermeneutischer Akt, der die einen neu und endgültig in das Verständnis Gottes einführte, während die anderen durch Jesu Anspruch und Verkündigung die alttestament- liche Offenbarung Gottes gefährdet oder gar aus den Angeln gehoben wähnten (Stuhlmacher 1986:64).

Jesus hat schon aufgrund seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und der damit verbundenen jüdischen Erziehung das Alte Testament zweifellos als seine Bibel betrachtet (Reventlow 1990:52). War er auf der einen Seite mit allen drei Abteilungen der heiligen Bücher - sowie mit der Auslegungsmethodik (:ebd.) -9 seines jüdischen Volkes wohl vertraut gewesen, was sein ÄAnschluss an die Tradition“ (Schäfer 1980:15), d.h. die Verwurzelung seiner Verkündigung in alttestamentlichen und frühjüdischen Voraussetzungen, bezeugt (vgl. Koch 1999:459; vgl. Gun- neweg 1977:15),10 so war seine Schriftauslegung auf der anderen Seite von hartem Gegensatz zur jüdischen Interpretation gekennzeichnet (Schäfer 1980:15f); dieser zeigte sich beispielsweise an Äseiner gezielten Kritik an der Sabbat- und Reinheitstora“ (Koch 1999:459f). Diesbezügliche und andere sozial-ethische Weisungen ergingen Ägerade nicht als Auslegung, Korrektur oder Weiterführung einzelner Schriftaussagen ...; vielmehr erfolg[t]en sie in prophetischer Vollmacht und Unbedingtheit, legitimiert durch die Nähe der von Jesus angesagten Herrschaft Gottes“ (:460). Mit dem egō de legō (‚ich aber sage’) beanspruchte Jesus (messianische) Autorität, Äwel- che neben und gegen diejenige des Moses tritt“ (Marshall 1985:50) und rief Menschen in seine Nachfolge (vgl. Reventlow 1990:55f).

Auf diese Weise hat Jesus selbst Ädas christozentrische Verständnis“ (O. Michel)11 des Alten Testaments angebahnt und damit gewissermaßen den Ausgangspunkt für die später entwickelte und dann zum Dogma erhobene Lehre vom mehrfachen Schriftsinn legitimiert. So war er selbst es, der Ädie Seinen in das Problem der sachgemäßen Schriftauslegung hineingestoßen“ hat (Stuhlmacher 1986:65).

2.2 Apostolische Schriftinterpretation

Jesu Jünger machten sich den Schriftumgang ihres Meisters, den sie als verheißenen Messias und Erlöser anerkannten, zueigen. Seiner Auslegung verpflichtet, bedienten sich die Apostel als Kin- der ihrer Zeit aber auch - ganz selbstverständlich - der gängigen Interpretationsweise (vgl. Ellis 1991:77), in welche sie als männliche Juden bereits in ihrer Kindheit eingeführt wurden. ÄWir müssen bedenken“, schreibt Stuhlmacher (1986:63f), Ädass Jesus und die Apostel aus der israeli- tischen Glaubenstradition heraus zu ihrer Evangeliumsverkündigung aufbrachen“, denn sie Äwuchsen als Juden in einer Welt auf, in der die synagogale Schriftauslegung allgegenwärtig war“. In knappen Worten Gunnewegs (1977:15): ÄDas religiöse Erbe der Väter gibt man nicht ohne Not preis“.

Longenecker (1999:14-33) klassifiziert die jüdische Auslegung des ersten Jahrhunderts in vier Hauptrichtungen: 1. “litteralist interpretation”; 2. “midrashic interpretation”; 3. “pesher interpretation” und 4. “allegorical interpretation”. Nach Maier (1990:56) ist schon aus dieser Vielfalt ersichtlich, dass jüdische Interpreten davon überzeugt waren, Ädass die heiligen Schriften mehr enthielten als das, was sich als sensus litteralis darbot“. Urchristliche Bibelexegese entstand also in einem Raum, Äin dem der mehrfache Schriftsinn völlig selbstverständlich war“ (:ebd.), wobei jeweils die literarische Interpretation den Ausgangspunkt gebildet hat.

Wie für Jesus, so stellte sich auch für die frühen judenchristlichen Gemeinden nie die Frage nach der ÄBeibehaltung“ des Alten Testaments, da es als Äselbstverständliche Gegebenheit“ galt (Koch 1999:457). Vielmehr prägte die an Christus gläubig gewordenen Juden das Bewusstsein, Äin solchem Glauben gerade das wahre Israel zu sein“ und Äließ auf Seiten der Christen freilich zunächst keinen Zweifel daran aufkommen, sich mit vollem Recht auf die ererbten Schriften berufen zu dürfen“ (Gunneweg 1997:15).

Folglich blieb die Schrift Äals umfassendes Zeugnis von Gottes Wirken und seinem verpflichten- den Willen notwendigerweise in Geltung - trat jetzt aber in ein Wechselverhältnis gegenseitiger Interpretation mit dem Bekenntnis zu dem neuen Heilshandeln Gottes in Jesus Christus“ (Koch 1999:457). Eben diese ÄRezeption und Beibehaltung des Alten Testaments als ganzem“ nötigte das frühe Christentum vor vornherein Äzur platonisierenden Annahme eines mehrfachen Schrift- sinnes“ (Oeming 1998:10).

In Bezug auf das Alte Testament schien die Kirche auf der einen Seite also bewusst im Einklang mit der jüdischen Gemeinschaft zu bleiben; so lassen sich in frühen christlichen Schriften keine Spuren von Reibungen mit anderen jüdischen Gruppen darüber feststellen, welche Bücher göttli- che Autorität haben (vgl. Ellis 1991:6). Über die jüdische Interpretation hinausgehend, wurde das Alte Testament von der Urgemeinde nun aber - in Berufung auf Jesus - »christologisch«12, d.h. im Hinblick auf seine Erfüllung in Christus ausgelegt; es unterlag fortan Äeinem radikalen Prozess der ‚Relektüre’ und Neuinterpretation“ (Koch 1999:468), oder in Ellis’ Worten (1991:77): “Jesus and his apostles « make their unique contribution to first-century Jewish ex- position by their thorough-going reinterpretation of the biblical writings to the person, ministry, death and resurrection of Jesus the Messiah” (Hervorhebung im Original).

Diese neue Form der Schriftauslegung nahm in den alttestamentlichen Schriften über die ge- wohnte Interpretation hinaus zunehmend - je nach Bezeichnung - »tiefere«, »höhere«, »volle- re«, »umfassendere« oder auch »verborgenere« Ebenen wahr, die allesamt auf ihre zukunftwei- sende Erfüllung im Messias Jesus hindeuteten, und begründete auf diese Weise die so genannte typologische Schriftinterpretation, die in der Antiochenischen Schule ihre Ausgestaltung fand. Damit entfernte sich die am Messias ausgerichtete Schriftauslegung aber auch immer weiter vom Judaismus: “This messianic interpretation of Scripture could be understood as a break with Juda- ism since it involves a new covenant of God (Luke 22:20; Heb 8:8-13) that depicts Israel’s pre- ceding institutions and Scriptures as an old covenant, i.e. Old Testament, now superceded” (Ellis 1991:77).

Es kann festgehalten werden, dass die Apostolische Schriftinterpretation die heiligen Schriften auf der einen Seite nicht fallengelassen, auf der anderen nur noch im Sinne ihrer christologischen Relevanz interpretiert hat. ÄAus dieser Spannung ergeben sich die Probleme und Perspektiven der neutestamentlichen Schriftverwendung“ (Koch 1999:457). Allmählich, dafür aber sehr be- stimmt, wurde der Bruch mit der jüdischen Vergangenheit eingeleitet (vgl. Gunneweg 1977:21). Zur ersten systematisch angelegten Darstellung des christlichen Glaubens, und darin der christli- chen Hermeneutik, sollte es aber erst durch den großen Kirchengelehrten Origenes kommen (vgl. z.B. Ebeling 1959:247).

2.3 Die allegorische Schriftinterpretation des Origenes

Der in Alexandria aufgewachsene, ausgebildete und dort wirkende Origenes (ca. 185-254) gilt als überragendster geistiger Repräsentant der einflussreichen (»älteren«)13 Alexandrinischen Schule, dem Zentrum hellenistisch-jüdischer Allegorese. Aber weit über Alexandria hinaus ist er gewiss Äder vielseitigste Wissenschaftler“ (Childs 2003:54) und Äbedeutendste Exeget der Alten Kirche. Frühere Ausleger, auf die er sich beruft, werden durch ihn weit überholt, und alle spätere Schriftauslegung ist von ihm unmittelbar oder durch den Gegensatz bestimmt“ (Elze 1961:1521).14 Mit seinem Hauptwerk Peri.arcwn15 diente er der Kirche nicht nur als begnadeter Dogmatiker, Äer war auch Textkritiker, Exeget und Hermeneutiker“ (Strecker / Schnelle 1994:142). Sein theologischer Einfluss auf die Kirche wird einzig von dem des Augustin über- troffen (vgl. Childs 2003:54).

Seit der Moderne wird Origenes in der Regel - allzu voreilig - mit der allegorischen Schriftin- terpretation in Zusammenhang gebracht. Auch wenn dies zweifellos richtig ist und er mit der Begründung des sog. »dreifachen Schriftsinns« den Weg für die Lehre vom vierfachen Schrift- sinn theoretisch wie praktisch16 vorgezeichnet hat, worauf im Folgenden näher einzugehen sein wird, darf das nicht über seine mit Akribie betriebene Arbeit am biblischen Text hinwegtäu- schen.

Die Beschäftigung mit der Bibel beginnt auch für Origenes mit der Feststellung des bestmöglichen Textes (Schäfer 1980:42; vgl. Gunneweg 1977:39) und ist ihm geradezu Voraussetzung zum Schriftverständnis, was sich eindrücklich im »Unternehmen Hexapla« zeigt. Mit diesem zwischen 230 und 240 entstandenen philologischen Meisterwerk, das die Präzisierung des LXXTextes am hebräischen Original beabsichtigte, wollte er Äeine gesicherte Grundlage für die Auseinandersetzungen mit den jüdischen Exegeten herstellen“ (Kettler 1960:1693; vgl. Stuhlmacher 1986:80). Es ist von daher verständlich, weshalb er allgemein als Begründer der Textkritik gilt, der den »Buchstaben« nie über dem »Geist« vernachlässigen wollte (Ritter 1998:293). Im Vollzug der Exegese bemüht sich Origenes gewissenhaft17 um Ästreng wissenschaftliche und kritische Fragen der Auslegung, ... nach dem Wortsinn, den geschichtlichen Umständen und der geschichtlichen Zuverlässigkeit der Berichte Mit diesem Teil seiner Schriftwissenschaft folgt er dem Vorbild der alexandrinischen Philologie“ (Karpp 1992:23).

Darin stimmt Origenes mit der jüdischen und frühchristlichen Schriftauslegung überein - dass er mithilfe der Texterkundung die Grundlage für die literarische Interpretation legt. Aber nicht nur bei der Arbeit am Text bediente er sich der Alexandrinischen Instrumentarien; er gebrauchte auch das dort ebenfalls entwickelte, in der Spätantike allgemein anerkannte wissenschaftlichexegetische Entschlüsselungsverfahren, Ämit dessen Hilfe man den von den antiken Dichtern, Homer voran, in ihre Texte geheimnisvoll eingewobenen Logos entdecken und zur Erscheinung bringen konnte“: die Allegorese (Stuhlmacher 1986:80f; vgl. :72).

Es ist wichtig, hervorzuheben, dass der Einsatz der allegorischen Bibelauslegung nicht aus purer Willkür aus der antiken Umwelt aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Die Alte Kirche war vielmehr dazu gezwungen, eine Antwort auf die noch offene Frage zu geben, vor die sie sich mit dem alttestamentlichen Erbe gestellt sah (Gunneweg 1977:32):

[...]


1 Auch wenn nach Ebeling (1959:243) die Prägung des Begriffs Hermeneutik im heutigen Sinne sich erst an der ÄSchwelle zur Neuzeit“ vollzog und nach Kümmel (1969:3-11) von einer wissenschaftlichen Betrachtung des Neuen Testaments Ämit ge- schichtlichem Interesse und ohne eine bestimmte dogmatische oder konfessionelle Bindung“ (:3) beginnend mit der Aufklärung, genauer: seit dem 18. Jh. die Rede sein kann, da es vorher zu keiner Äkonsequent geschichtlichen Fragestellung“ (:11) kam, räumt letzterer doch sogleich ein, dass die Alte Kirche sich zumindest im Prozess der Kanonisierung mit der Frage der (apostolischen) Verfasserschaft bestimmter urchristlicher Schriften, somit also auch mit geschichtlichen Thematiken beschäftigt hat.

2 Vgl. insbesondere die Werke von J. Daniélou, H. de Lubac, K.J. Torjesen, B. Smalley, H. Crouzel, F. Ohly u.a.

3 Vgl. dazu allein die RGG-Artikel zu ÄBibelkritik“ der dritten (1959) und vierten (2000) Auflage, in denen die Verschiebung von der ‚Vorherrschaft’ der historisch-kritischen Methode hin zur Methodenvielfalt deutlich zutage tritt. Nach Maier (1990:55) hat die Äimmer wieder ins Gespräch gebrachte Mehrdimensionalität der Schriftauslegung das Monopol des historischen Bibelverständnisses“ bestritten. Die von Reformation und Humanismus scheinbar durch eine Beachtung des historischen Sinns allein abgelöste Lehre vom vierfachen Schriftsinn hat sich nach Oeming (1998:29f) in der Moderne zu einer Methodenvielfalt entwickelt, Ädie den Texten weit mehr als nur einen oder nur vier Sinne abgewinnt“.

4 Vgl. insbesondere Childs, B.S. 1994, 2003. Die Theologie der einen Bibel. 2. Bde. Freiburg: Herder. Meiner Untersuchung liegt die Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003, zugrunde.

5 Eine gute Übersicht des Forschungsertrags in: Reventlow, H.G. 1983. Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jahr- hundert. Darmstadt: WBG. Der Begriff wurde vom spanischen Jesuiten A. Fernández bereits 1925 als terminus technicus einge- führt (:43). Ein besonderes Zentrum hat die Debatte um den sensus plenior in Spanien, darüber hinaus gibt es Fürsprecher auch in Löwen (J. Coppens), Jerusalem (P. Benoit) und Baltimore (R.E. Brown) (:41). Aus evangelikaler Perspektive vgl.: Longenecker (1999:xxxii; dort auch weitere bibliographische Angaben zum Fortgang der Debatte) und Moo, D.J. 21995. "The Problem of Sen- sus Plenior" (S. 179-211). In: D. Carson und J. D. Woodbridge (Hg.), Hermeneutics, Authority, and Canon. Grand Rapids: Ba- ker.

6 Vertreter der These vom sensus plenior sind darum bemüht, die theologische Relevanz des Alten Testaments für den Christen unter der Voraussetzung der Inspirationslehre und mit Mitteln scholastischen Denkens zu lösen (Reventlow 1983:41ff).

7 Ohly (1977:2): Ä...wir Philologen sind uns in der Regel nicht bewusst ..., in welchem Maße unsere Kunst der Interpretation der Bibelexegese schon der Väterzeit und des Mittelalters verpflichtet ist“.

8 Formulierung angelehnt an Smalley (1970:xvii).

9 Vgl. den Disput in Mt 22, 41-46; Mk 12, 35-37a. Jesu eigenständiger vollmächtiger Umgang mit dem mosaischen Gesetz zeigt sich deutlich in den Antithesen der Bergpredigt. Hinweise bei Stuhlmacher 1986:64f.

10 Beispielhaft kann auf Jesu Gebrauch der Tora hingewiesen werden, wenn er etwa in der Frage der Ehescheidung (Mk 10, 6ff) an den Schöpfungsbericht als ursprünglichen Willen Gottes erinnert (Gen 1, 27; 2, 24); ferner ist Jesu Anknüpfung an das Gesetz im zusammenfassenden Doppelgebot ersichtlich. Auch zu den Propheten besteht ein bewusster Anschluss (vgl. z.B. Mk 12, 1-12 mit Jes 5, 1; Lk 10, 15 mit Jes 14, 13ff; Lk 7, 22 mit Jes 35, 5f und 61, 1). Die dritte Abteilung, die Schriften, dienen ihm als unmittelbare Quelle für seine Beziehung zu Gott. (vgl. Schäfer 1980 15f).

11 Zitiert in Stuhlmacher 1986:64.

12 Zu den ersten Ansätzen zur christologischen Schriftauslegung vgl. z.B. Stuhlmacher 1986:66.

13 Ritter (1998:292) unterscheidet zwischen der »älteren« theologischen Richtung der Alexandrinischen Schule, die von Clemens von Alexandrien und seinem (Äangeblichen“; :293) Schüler Origenes repräsentiert wird und der »jüngeren«, die hauptsächlich von Athanasius und Cyrill geprägt ist.

14 Diese allgemein anerkannte Sicht unterstützt beispielsweise auch Mühlenberg (1999:473-478), wenn er die Schriftauslegung der Alten Kirche in die Zeit vor, während und nach Origenes gliedert.

15 ÄDie Schrift Von den Prinzipien (de principiis, peri.arcwn, princ.) ist Origenes’ bedeutendste systematische Arbeit Sie ist in Rufins (nicht gänzlich zuverlässiger) lateinischer Übersetzung und einem Auszug bei Hieronymus, ep. 124 überliefert. Beträchtliche Teile aus dem dritten und vierten Buch sind in der Philokalia erhalten“ (Williams 1995:406).

16 Origenes schuf eigene umfangreiche Kommentare zu alt- und neutestamentlichen Büchern. Unter diesen besonders berühmt geworden ist der für sein »geistliches Kind« Ambrosius verfasste Johanneskommentar (vgl. z.B. Stuhlmacher 1986:80).

17 ÄNicht umsonst bezeichnete man ihn als filoponoj Ägewissenhaft“ oder Äarbeitsam“ (Athanasius, decr. 27,1) (Williams 1995:403).

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Der vierfache Schriftsinn. Zugänge zur Auslegung der Bibel
Untertitel
Entwicklung, Darstellung, Chancen und Grenzen
Hochschule
University of South Africa
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
27
Katalognummer
V313485
ISBN (eBook)
9783668129689
ISBN (Buch)
9783668129696
Dateigröße
844 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verfacher Schriftsinn, Bibelauslegung, Allegorese, Typologie
Arbeit zitieren
David Löwen (Autor:in), 2004, Der vierfache Schriftsinn. Zugänge zur Auslegung der Bibel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/313485

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