Jahrmarkt der Miniaturmenschlichkeiten. Die Inszenierung von Kleinwuchs in den Freak Shows der USA 1840-1940


Bachelorarbeit, 2015

45 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Beschädigte Identität: Einleitung ... 5

1. Midgets und Dwarfs: Signifikante Unterschreitungen der Norm ... 8

2. Institutionalisierte Legitimation: Die Freak Shows von 1840 bis 1940 ... 11

3. Systeminhärente Notwendigkeit: Die Inszenierungen von Freaks ... 15

4. Große Belustigung: Die Inszenierung von Kleinwuchs ... 18
4.1 Groteske Verhunztheit: Die Inszenierung von Dwarfs ... 19
4.2 Niedlichkeit und Absurdität: Die Inszenierung der Einzelnen ... 21
4.3 Niedlichkeit und Talent: Die Inszenierung der Gruppe ... 25
4.4 Niedlichkeit und Bürgerpflicht: Die Inszenierung der Gemeinschaft ... 28

Geprägte Identität: Zusammenfassung ... 33

Abbildungen ... 35

Literatur- und Filmverzeichnis ... 41
Primärliteratur ... 41
Sekundärliteratur ... 42
Filmverzeichnis ... 45

Beschädigte Identität: Einleitung

„there’s something wrong, not too wrong,
but that which is wrong (too small)
is of the utmost import” (Ablon 1984: 29)

Als „klein“„ bezeichnet oder angesehen zu werden, ist eine Sache der Relation. Das bedeutet, dass die Bezeichneten von den Bezeichnenden in Beziehung zu einer bestimmten oder unbestimmten Vergleichsgruppe gesetzt werden, die physisch größer ist. Je stärker jene Vergleichsgruppe zahlenmäßig auftritt, desto mehr wird deren durchschnittliche physische Größe zu einer erwünschten Norm. Menschen, die die physische Norm über ein zu tolerierendes Maß hinaus unterschreiten, repräsentieren unweigerlich den unerwünschten Gegenentwurf zur erwünschten Norm und werden als andersartig betrachtet. Aus dieser physischen Andersartigkeit werden durch die Bezeichnenden (meist negative) Verallgemeinerungen über den Charakter der Bezeichneten abgeleitet. Solch eine Stigmatisierung verzerrt die eigentliche Identität der Bezeichneten zu einer „spoiled identity“ (Goffman 1963). Tritt die Unterschreitung der als Norm geltenden Körpergröße in Form einer extremen Abweichung und mithin als „Kleinwuchs“ auf, erhält sie als eklatanter Bruch mit den größenspezifischen Erwartungen die Tendenz, bei den „normal“ großen Mitmenschen starke Reaktionen wie Mitleid, Ablehnung, Belustigung, Neugier oder Faszination und das Bedürfnis nach Interpretation oder Spekulation hervorzurufen. Dass Kleinwuchs aufgrund solcher erwartungsgemäß starken Reaktionen seitens der Mitmenschen auch immer kommerziell ausgebeutet werden konnte und wurde, ist ein historischer Fakt, der insbesondere auf die USA im 19. und 20. Jahrhundert zutrifft, die mit ihren Freak Shows die europäische Tradition der Kuriositätenausstellungen nicht nur aufgriffen, sondern an Lebendigkeit und kreativer Potenz weit übertrafen. In diesen Freak Shows wurden Kleinwüchsige im Rahmen einer hoch konventionalisierten Form der Unterhaltung vermarktet (vgl. Gerber 1996: 43), deren Muster sich in den 1840er Jahren herausbildeten und erst in den 1940ern ihren Niedergang erlebten. Basis dieser organisierten Vermarktung war die Anwendung unterschiedlichster Inszenierungsmöglichkeiten, auf die die Show People (definiert als Akteure der Unterhaltungsindustrie) zurückgriffen, um Kleinwuchs so zu präsentieren, dass er für ein zahlendes Publikum möglichst attraktiv wurde. Nicht selten avancierten die auf diese Weise in Szene gesetzten „Miniaturmenschen“ zu Stars von internationaler Berühmtheit und nahmen auf ihre eigene Inszenierung bisweilen so großen Einfluss (vgl. Howells/Chemers 2005; Roth/ Cromie 1980: 53; Barnum 1871: 601), dass sie diese oft auch außerhalb der Freak Shows als Möglichkeit zur „Presentation of Self in Everyday Life“ (Goffman 1959) weiterführten. Die Perfektion solcher Inszenierungen war erreicht, wenn wahre und inszenierte Identität eins wurden.

Mit der folgenden Arbeit soll der bisher in der wissenschaftlichen Literatur einmalige Versuch unternommen werden, Muster in der Inszenierung von Kleinwüchsigen aufzudecken und zu untersuchen, ob sich diese Muster in den Jahren zwischen Etablierung und Niedergang der US-amerikanischen Freak Shows signifikant verändert haben. Der Fragestellung liegt die Annahme zu Grunde, dass sich die historischen wie gesellschaftlichen Ereignisse und Prozesse innerhalb der zu untersuchenden einhundert Jahre auch auf die Inszenierung von Kleinwüchsigen ausgewirkt haben müssen. Die Schwierigkeit beim Annähern an dieses Thema resultiert nicht nur aus der Abwesenheit einer erschöpfenden Forschungsliteratur,1 sondern auch daraus, dass die vorliegenden Primärquellen (v.a. Photographien, Ankündigungen, Werbeplakate, Flugblätter, „True Life“-Berichte und Zeitungsartikel) Resultate dieser Inszenierungen waren oder diese mit der Realität verwechselten. Trotzdem oder gerade deshalb stellen sie unschätzbare Zeugnisse dar, die Aufschluss darüber geben, auf welche Weise die damalige Unterhaltungsindustrie Identitäten schuf.

Das Thema wird gemäß folgender struktureller Vorgehensweise behandelt: Nach einer notwendigen Definition dessen, was in dieser Arbeit unter Kleinwuchs zu verstehen ist, wird die Auswahl des historischen Rahmens begründet, der für das Thema gewählt wurde und Entstehung, Blütezeit und Niedergang das Phänomens Freak Shows auf der Basis gesellschaftlicher Veränderungen erklärt. Anschließend wird gezeigt, dass die Inszenierungen von Freaks nicht auf Kleinwuchs beschränkt blieben, sondern etwas den Freak Shows Systeminhärentes waren. Erst danach kann die Inszenierung von Kleinwüchsigen im Speziellen dokumentiert werden, indem die herausgearbeiteten Veränderungen der einzelnen Präsentationsmodi jeweils in einem eigenen Kapitel Berücksichtigung finden.

1. Midgets und Dwarfs: Signifikante Unterschreitungen der Norm

Unter Kleinwüchsigen im Sinne dieser Arbeit sind Menschen zu verstehen, deren Inszenierung als „Freaks“ lediglich oder hauptsächlich auf einem signifikanten2 negativen Größen-Unterschied im Verhältnis zur durchschnittlichen Mehrheitsgesellschaft basierte.3 Diese Definition gilt nur für zwei Gruppen von Kleinwüchsigen, wobei alleiniges Kriterium für eine Zuordnung die körperliche Proportionalität bzw. Disproportionalität war. Die proportionalen Kleinwüchsigen wurden als Midgets4 (dt. „Dreikäsehochs“ oder „Kleine Mücken“) bezeichnet und sahen wie „small men or women“ (Ablon 1984: 5) aus. Sie wiesen völlig normale Körperproportionen auf (vgl. Webster’s II New Collegiate Dictionary 1999: 693), entsprachen den gängigen ethnischen, sozialen wie kognitiven Normen der US-amerikanischen (oder europäischen) Mehrheitsgesellschaft und unterschieden sich von dieser lediglich durch ihren extremen Kleinwuchs. Die zweite Gruppe Kleinwüchsiger, die in dieser Arbeit thematisiert wird, bilden die so genannten Dwarfs (dt. „Zwerge“ oder „Zwerginnen“), deren körperliche Disproportionalität genetische Ursachen hat und sich darin äußert, dass Kopf, Arme oder Beine ungewöhnlich groß oder klein im Vergleich zum Rest des Körpers sind (vgl. Ablon 1984: 3). Der körperlichen Proportionalität der Midgets, die wie „ordinary people, only in miniature“ (Nickell 2005: 111) wahrgenommen wurden und lediglich aufgrund ihrer Größe inszeniert wurden, stand also die Disproportionalität derDwarfs gegenüber, deren Kleinwuchs nicht das einzige, aber das hauptsächliche Fundament ihrer Inszenierungen bildete. Beide Bezeichnungen5 wurden zwar zur damaligen Zeit in Abgrenzung zueinander benutzt, aber nicht immer mit aller Konsequenz (vgl. Roth/Cromie 1980: 22).6 Im Großen und Ganzen galten Midgets nach US-amerikanischer Auffassung aufgrund ihrer physischen Proportionalität als ästhetischer (vgl. Howells/Chemers 2005) als Dwarfs, deren äußere Erscheinung vom physischen Ideal der Mehrheitsgesellschaft in zweifacher Weise (Kleinwuchs und Disproportion) abwich. Midgets waren daher höher angesehen, denn „beautiful as they were, they were not Dwarfs” (Sketch 1863: 9). Solch eine Unterscheidung zwischen Midgets und Dwarfs wurde nicht nur von den Veranstaltern der Freak Shows und ihrem Publikum gemacht,7 sondern auch von den unmittelbar Betroffenen selbst, die damit eine Art Hierarchie der Kleinwüchsigen ausdrückten. Aus Daten, die im Rahmen einer breit angelegten Studie 1933 im Auftrag der U.S. Eugenics Records Office in Chicago gesammelt wurden, wird ersichtlich, dass sich Kleinwüchsige selbst strikt in die ein oder andere Gruppe einordneten und mithin ebenso strikt von der jeweils anderen abgrenzten, um ihren jeweiligen (Vermarktungs-)Wert für die Unterhaltungsindustrie aufgrund ihrer Inszenierungsmöglichkeiten hervorzuheben (vgl. Howells/Chemers 2005). Insbesondere Midgets sahen es als Beleidigung an, mit einemDwarf auf gleiche Stufe gestellt zu werden, denen sie sich auf der Basis physischer Attraktivität und mithin größerer Erfolgsaussicht alsShow People überlegen fühlten (vgl. Gresham 1953: 99). Dabei muss explizit auf ein Dilemma in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu Ungunsten der Midgets hingewiesen werden, das paradoxerweise mit genau dieser profitableren Attraktivität in Zusammenhang steht. Mögen Dwarfs aufgrund ihrer zweifachen „undesired differentness“ (Goffman 1963: 5) auch mehrheitlich als unattraktiv wahrgenommen worden und deshalb weniger erfolgreich innerhalb des Show Business gewesen sein, so wurden sie doch nicht für Kinder gehalten wie die Midgets (vgl. Drash, Greenberg und Money 1968: 578f).8 Niemand „ever mistakes a Dwarf for a child, and it seems easier for a man to resign himself to being thought ugly than for him to be considered ‘cute’” (Gresham 1953: 99).9 Dieser wichtige Aspekt der Niedlichkeit („Cuteness“, vgl. Merish 1996) und die damit verbundene unterschiedliche Wahrnehmung von Midgets und Dwarfs wird im Laufe diese Arbeit an anderer Stelle aufgegriffen, weil sie die Grundlagen für die Inszenierung von Kleinwuchs in den US-amerikanischen Freak Shows bildete.

[…]


1 Keine der größtenteils beeindruckenden Arbeiten, die das Thema berühren, hat sich auf die Inszenierung von Kleinwüchsigen und deren Veränderungen spezialisiert. Die wissenschaftliche Literatur berücksichtigt entweder das Thema Freak Show und Freaks als Gesamtphänomen (vgl. v.a. Adams 2001; Bogdan 1988; Drimmer 1991; Fiedler 1978; Hartzman 2006; Nickell 2005; Thompson 1968), konzentriert sich auf psychische oder soziale Herausforderungen für Kleinwüchsige (vgl. u.a. Ablon 1984; Adelson 2005a) oder gibt einen breiten Überblick über das Leben von Kleinwüchsigen im Allgemeinen (vgl. Adelson 2005b). Für die Charakterisierung der einzelnen Inszenierungsmodi wurde insbesondere Bezug genommen auf Bogdan 1988, Howells/Chemers 2005, Merish 1996 und Tuan 1984. Aber auch diese Arbeiten beschreiben nur einen Aspekt der Inszenierung von Kleinwüchsigen. Hervorzuheben sind zudem Hy Roth und Robert Cromie, die mit ihrem Band The Little People (1980) die bisher umfangreichste Sammlung an Photographien von kleinwüchsigen Freaks vorgelegt haben.
2 Die Größe solcher Kleinwüchsigen lag zwischen ca. 46 cm und 1,20 m (vgl. Roth/Cromie 1980).
3 Sie sind daher strikt von jenen Freaks zu unterscheiden, die in dieser Arbeit nicht thematisiert werden, weil deren Kleinwuchs nur eine von vielen (geistigen oder körperlichen) Anomalien war, deretwegen sie ausgestellt wurden. Dazu gehörten u.a. Menschen mit Mikrozephalie und so genannte „fremde Rassen“ oder „diminutive people“ (Nickell 2005: 106) wie bspw. „Pygmäen“.
4 Diese ab 1865 aufgekommene und mittlerweile als pejorativ abgelehnte Bezeichnung (vgl. Ablon 1984: 5 FN 3) wird in dieser Arbeit als historischer Fachbegriff verwendet, denn sie war auch unter den Kleinwüchsigen selbst gängig und bis in die 1950er Jahre akzeptiert. Heute sind die Begriffe „hypophysäre“ oder „proportionale „ Kleinwüchsige“ geläufig.
5 In der Zirkussprache hießen alle Kleinwüchsigen „runts“ (dt. Kümmerlinge) (vgl. Ostman 1996: 123).
6 Selbst die Encyclopædia Britannica von 1910/11 macht keinen Unterschied, sondern führt unter dem Stichwort „Dwarf“ den Midget Charles Stratton an, der als „General Tom Thumb“ inszeniert wurde (s.v. „Dwarf“). Erst in der Encyclopædia Britannica von 1947 wird eine klare Unterteilung zwischen „those who are normal in proportions and the disproportionate“ gezogen (s.v. „Dwarf“).
7 Für die Mediziner und Eugeniker des 20. Jahrhunderts war eine Klassifikation zwischen Midgets und Dwarfs bis in die 1940er Jahre von eher untergeordnetem Interesse (vgl. Howells/Chemers 2005).
8 Auch im Skandalfilm „Freaks“ (1932) erscheint der Midget als infantilisiertes, „entmanntes“ Opfer, dem der Dwarf als „männlicher“ Rächer (vgl. 58:40-58:47) gegenübersteht.
9 Auch weibliche Midgets wurden als niedliche Kinder wahrgenommen. Die kleinwüchsige Lavinia Warren berichtet davon, wie der Impuls des damaligen Präsidentschaftskandidaten, die erwachsene Frau wie ein Kind anzufassen, bei ihr große Schamgefühle ausgelöst hat (vgl. Saxon 1979: 44f).

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Jahrmarkt der Miniaturmenschlichkeiten. Die Inszenierung von Kleinwuchs in den Freak Shows der USA 1840-1940
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Geschichtswissenschaften)
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
45
Katalognummer
V312331
ISBN (eBook)
9783668139237
ISBN (Buch)
9783946458166
Dateigröße
763 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bestandteile der Arbeit sind auch mehrere Abbildungen, mit deren Hilfe Inszenierungsweisen anschaulich dargestellt werden.
Schlagworte
Zwerg, Kleinwuchs, Freaks, Freak, Freak Show, Kleinwüchsige, Inszenierung, USA, Barnum, Midget, Dwarf, Zwergwuchs, Midget City, Midget Ensemble, Tom Thumb, Zwerge, Miniaturmenschen, Lilliputaner, Lilliputia, Midget Village, Midgets, Tod Browning, Side Shows, Freak Shows, Charles Stratton, Lavinia Warren, Präsentation
Arbeit zitieren
Dominik Jesse (Autor:in), 2015, Jahrmarkt der Miniaturmenschlichkeiten. Die Inszenierung von Kleinwuchs in den Freak Shows der USA 1840-1940, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/312331

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