Wie steht Johanna zur Gewalt? Bertolt Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ und Friedrich Schillers „Johanna von Orléans“


Hausarbeit, 2015

17 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Darstellung der Johanna-Figur
2.1 Die historische Gestalt
2.2 „Die Jungfrau von Orleans“
2.3 „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“

3. Einstellung zur Gewalt
3.1 Schillers „Amazone“
3.2 Brechts Pazifistin

4. Warum wählt Brecht Johanna?

5. Brechts Schiller-Parodien
5.1 Die Erkennungsszene
5.2 Die Schluss-Apotheose

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Legende der Jeanne d'Arc ist bis heute eine beliebte Inspirationsquelle für Schriftsteller, Dichter und Filmemacher. Noch zu Lebzeiten begann ihre Glorifizierung, die noch immer anhält und sich weder auf ihr Herkunftsland Frankreich, noch auf bestimmte Kunstgattungen beschränkt.[1] Doch obwohl alle Adaptionen im Kern auf einer realen Person basieren, sozusagen dem historischen Prototyp, und gewisse inhaltliche Grundmuster stets erkennbar bleiben, hat jeder Künstler den Johanna-Stoff auf seine eigene Art und Weise variiert, bearbeitet und mit ideologischen Absichten aufgeladen.

Auch Bertolt Brecht hat sich mit „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ in die lange Liste dieser Neugestaltungen eingereiht. Bei der Lektüre seines Dramas wird allerdings deutlich, dass die historische Vorlage für Brecht nur eine Inspirationsquelle unter vielen war. Stattdessen findet man eine Vielzahl von Anlehnungen an Werke anderer Autoren, allen voran Friedrich Schillers „Die Jungfrau von Orleans“. Die beiden Dramen sind ein gutes Beispiel dafür, wie sehr sich die Bearbeitungen des Stoffes voneinander unterscheiden, dass sie mitunter auch Bezug aufeinander nehmen – und dass sie in manchen Fällen komplett gegensätzliche Johanna-Figuren entwerfen.

Brecht verlegt die Handlung vom Frankreich des 14. Jahrhunderts auf die Viehhöfe und an die Fleischbörse im Chicago der 1920er Jahre. Johanna Dark, Leutnant der Missionsbewegung „Die Schwarzen Strohhüte“, stößt auf die trostlose Lage der Arbeiter in den Schlachthöfen, die durch die unternehmerischen Aktivitäten des Fleischkönigs Mauler bedingt ist. Sie solidarisiert sich mit den Armen, verhindert durch ihr Handeln aber das Gelingen eines Generalstreiks und bricht letztlich unter dem Bewusstsein dieser Schuld zusammen.

Genauso wie Schillers Johanna durchläuft auch die Protagonistin bei Brecht eine Wandlung, an deren Ende allerdings ein anderes Ergebnis steht und dass „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ zum Gegenentwurf von Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ macht. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Verhältnis der Johanna-Figuren zur Gewalt. Die vorliegende Arbeit wird sich genauer mit diesem Aspekt befassen.

Zunächst soll geklärt werden, wie sich Schillers und Brechts Johanna-Figuren in Bezug auf ihre Darstellung von der historischen Vorlage und voneinander unterscheiden. Anschließend wird untersucht, welche Rolle Gewalt für die beiden Titelfiguren spielt. Das führt zu der Frage, warum Brecht sich für das Johanna-Motiv entschieden hat. Zwei exemplarische Beispiele sollen die sogenannte „Schiller-Parodie“ erläutern. Das abschließende Fazit gibt auch einen Ausblick auf weitere Forschungsfragen.

2. Darstellung der Johanna-Figur

Die Umdeutung historischer Personen hat in der Literatur Tradition. Auch Schiller wollte mit „Die Jungfrau von Orleans“ keine geschichtstreue Überlieferung vorlegen und nahm tiefgreifende Veränderungen am Johanna-Stoff vor. Brecht ging allerdings noch einen Schritt weiter. Sein Drama wird als „gezwungen wirkende Modernisierung“[2] bezeichnet, weil es den Johanna-Stoff so weit verfremdet, dass es kaum noch etwas mit der Historie gemeinsam hat.

Brecht hat sich zwar für eben jenes Motiv entschieden und sein Drama damit ganz bewusst in die Johanna-Reihe gestellt. Knopf weist in diesem Zusammenhang aber darauf hin, dass er „nicht am Ausgangspunkt, also an der historischen Jeanne d'Arc, sondern am Endpunkt an[knüpft], an den literarischen Darstellungen der Figur.“[3]

Um zu verstehen, warum Brechts Wahl auf die Johanna-Figur fiel, muss zunächst ihre unterschiedliche Darstellung in „Die Jungfrau von Orleans“ und „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ untersucht werden. Da der historische Stoff trotz Umarbeitung und Neudeutung die Grundlage für beide Werke bildet, wird dabei auch kurz das Verhältnis der Adaptionen zur Historie erläutert.

Weil sich die Rekonstruktion der Geschichte wegen der zum Teil schlechten Überlieferungen und der Legendenbildung als schwierig erweist, geht die Arbeit allerdings nur auf den Kern der Johanna-Biographie ein. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wird auf eine ausführliche Darstellung des historischen Kontextes verzichtet.[4]

2.1 Die historische Gestalt

Jeanne d'Arc stammt aus Domrémy, einem Dorf an der Maas in Lothringen. Mit dreizehn Jahren hörte sie zum ersten Mal Stimmen, die sie als die Stimmen von Engeln wahrnahm und schließlich als Gotteseingebung interpretierte[5]. Jeanne war überzeugt, dass sie von diesen Stimmen den Auftrag zur Rettung ihres Vaterlandes und zur Vertreibung der Engländer erhalten hat, verließ ihre Familie nachdem sie 17 Jahre alt geworden war und reiste nach Chinon, um den enterbten Dauphin Karl VII. von Frankreich aufzusuchen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen erhielt sie tatsächlich eine Audienz beim Thronanwärter. Dieser soll ihr sein Heer anvertraut haben, nachdem Jeanne ihn erkannte, obwohl ein anderer auf seinem Thron saß.[6]

Die Jungfrau begleitete die Soldaten nach Orleans, das die Engländer nach vier Tagen aufgaben und wo Karl anschließend feierlich gekrönt wurde. Knopf weist an dieser Stelle darauf hin, dass Jeanne wahrscheinlich nie selbst gekämpft hat, sondern als Bannerträgerin eher eine psychologische Rolle in der Schlacht spielte.

Die Befreiung von Orleans stellte einen Wendepunkt in den englisch-französischen Auseinandersetzungen dar. Die fast vollständige Vertreibung der Engländer vom Festland hat Jeanne allerdings nicht mehr erlebt. Sie wurde 1430 von burgundischen Truppen festgenommen und an die Engländer ausgeliefert. Die machten ihr in Rouen den Prozess und verbrannten sie am 30. Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen. Das Urteil wird erst 1456 und nach Beendigung des Hundertjährigen Krieges widerrufen. 1894 folgt die Seligsprechung, 1920 dann die Heiligsprechung.

2.2 „Die Jungfrau von Orleans“

Schon im Prolog wird angedeutet, dass Schillers Johanna sich von den übrigen Protagonisten im Drama unterscheidet. Als einfaches Hirtenmädchen ragt sie dank körperlicher Schönheit und geistlicher Wundergaben[7] aus ihrem Umfeld heraus. Sie meidet andere Menschen und sucht die Einsamkeit in den Bergen[8]. Ihr eigener Vater beschreibt sie als „verschlossen“ und „kalt“.[9] Interesse am Heiraten hat sie nicht, emotionale Regung zeigt die fanatische Patriotin zunächst nur dann, wenn es um ihr Vaterland geht:

Dieses Land des Ruhms,
Das schönste, das die ew’ge Sonne sieht
In ihrem Lauf, das Paradies der Länder,
Das Gott liebt, wie den Apfel seines Auges[10]

Als Frankreich durch den Konflikt mit den Engländern in Not gerät, sieht Johanna sich von Gott als Retterin des Landes berufen:

Ein Zeichen hat der Himmel mir verheißen,
Er sendet mir den Helm, er kommt von ihm,
Mit Götterkraft berühret mich sein Eisen,
Und mich durchflammt der Mut der Cherubim,
Ins Kriegsgefühl hinein will es mich reißen,
Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,
Den Feldruf hör ich mächtig zu mir dringen,
Das Schlachtross steigt und die Trompeten klingen.[11]

Der kriegerische, amazonenhafte Geist der Johanna, ist eines der Elemente, die Schiller hinzugedichtet hat. Ebenso wenig entspricht das der Jungfrau auferlegte Liebesverbot der historischen Realität. In der Szene, in der Johanna der weltlichen Liebe zu Lionel unterliegt, zeigt sie erstmals Gefühle, die nicht religiöser oder patriotischer Natur sind: Nach einem kurzen Kampf reißt Johanna ihm vor dem beabsichtigten Todesstoß den Helm herunter, sieht ihm in sein Gesicht und ist von seinem Anblick derart ergriffen, dass sie nicht in der Lage ist, den Todesstreich auszuführen. Johanna fühlt sich schuldig, weil sie ihr Gelübde gebrochen hat, ist zugleich aber besorgt, dass Lionel in die Hände der Franzosen fallen könnte.

Anschließend schweigt sie zu den Vorwürfen ihres Vaters, der sie als von der Hölle gesandt anklagt, weshalb sie vom König verbannt wird. Als ihr Land erneut in Not gerät, entsagt sie ihrer weltlichen Liebe und wendet die Schlacht erneut zugunsten der Franzosen. Allerdings wird sie tödlich verwundet und stirbt noch auf dem Schlachtfeld. Die Verlegung des Todes der Johanna vom Scheiterhaufen auf das Schlachtfeld ist zugleich die massivste Verfremdung der historischen Wirklichkeit bei Schiller.

Weitere erfundene Details in Bezug auf die Titelfigur sind ihre Familienverhältnisse, die Erscheinung des Schwarzen Ritters und die Donnerschläge bei der Krönungszeremonie, Johannas prophetische Talente und ihre Flucht vor den Engländern.[12] Zudem hat Schiller den Friedenspakt Frankreichs mit Burgund und England sowie den Tod des britischen Heerführers Talbot chronologisch vorverlegt, um die historischen Ereignisse im Drama noch vor Johannas Tod geschehen zu lassen.

Nicht historische Wahrheit, sondern die „höhere poetische Wahrheit“ ist Schillers Ziel. Er selbst schreibt, dass eine Tragödie durch den poetischen Zweck, den sie verfolgt, „in der Nachahmung frei [wird]; sie erhält Macht, ja Verbindlichkeit, die historische Wahrheit den Gesetzen der Dichtkunst unterzuordnen und den gegebenen Stoff nach ihrem Bedürfnisse zu bearbeiten.“[13] Schillers Verfremdungen des Johanna-Stoffes zeigen, dass es ihm um das Individuum und sein tragisches Schicksal geht. Er schreibt die Historie im Sinne der Wirkung auf den Leser um und gestaltet seine Titelheldin als „Kunstfigur“[14].

2.3 „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“

Brecht geht mit seiner Verfremdung der historischen Wirklichkeit noch weiter als Schiller. Das liegt einerseits daran, dass der Autor sich bewusst von der ursprünglichen Jeanne-d’Arc-Geschichte entfernt, den Zeitbezug verändert und die heldische Funktion der Figur in den Hintergrund rückt. Bezeichnenderweise nennt Brecht seine Protagonistin auch in Johanna Dark („die Dunkle“) um, was ein erster Wink auf ihr Schicksal ist. Andererseits entstammt Brechts Johanna nur zu einem Teil der Geschichte, mehr noch aber der Bearbeitung Schillers und ist damit „Zitat, nicht Erfindung“.[15]

[...]


[1] Vgl. Große, Wilhelm: Bearbeitungen des Johanna-Stoffes. München 1980, S. 7.

[2] Nette, Herbert: Jeanne d'Arc in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1977, S. 130.

[3] Knopf, Jan: Berthold Brecht: Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Frankfurt 1985, S. 49.

[4] Einen guten Überblick bietet etwa Krumeich, Gerd: Jeanne d'Arc. Die Geschichte der Jungfrau von Orleans. München 2006.

[5] Vgl. Schirmer-Imhoff, Ruth: Der Prozess der Jeanne d'Arc: Akten und Protokolle 1431-1456. München 1978, S. 20.

[6] Vgl. Lucie-Smith, Edward: Johanna von Orleans. Eine Biographie. Düsseldorf 1977, S. 82. f.

[7] Vgl. Schiller, Friedrich: Die Jungfrau von Orleans. Stuttgart 2013, S. 9.

[8] Ebd., S.7.

[9] Ebd.

[10] Ebd., S. 15.

[11] Ebd. S. 18.

[12] Vgl. Alt, Peter-André: Die Jungfrau von Orleans (1801). In: ders.: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Zweiter Band, München 2004, S. 514 f.

[13] Schiller, Friedrich: Theoretische Schriften. Berlin 2014, S. 104.

[14] Sauder, Gerhard: Die Jungfrau von Orleans. In: Hinderer, Walter (Hrsg.): Schillers Dramen. Interpretationen. Stuttgart 1992, S. 341.

[15] Kopf 1985, S. 8.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Wie steht Johanna zur Gewalt? Bertolt Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ und Friedrich Schillers „Johanna von Orléans“
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Neuere deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Literaturgeschichte in exemplarischen Beispielen: (politisches) Handeln und Charakter.
Note
2,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
17
Katalognummer
V312261
ISBN (eBook)
9783668115576
ISBN (Buch)
9783668115583
Dateigröße
545 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schiller, Brecht, Johanna, Heilige Johanna der Schlachthöfe, Jungfrau von Orleans, Jungfrau, Olreans, Schiller-Parodie, Pazifismus, Amazone, Erkennungsszene, Schluss-Apotheose, Gewalt, Mauler, Karl, Jeanne d'Arc, Kant, kantianische Dramatik, kategorischer Imperativ, Slift, Hexentod, Heldentod
Arbeit zitieren
Michael Verfürden (Autor:in), 2015, Wie steht Johanna zur Gewalt? Bertolt Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ und Friedrich Schillers „Johanna von Orléans“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/312261

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