Die Erklärungsreichweite der IB Großtheorien zum VR-Prinzip der Schutzverantwortung

Die völkerrechtliche Positivierung der humanitären Intervention zwischen realistischer Machtpolitik, liberalen Interessen und universeller Identität


Bachelorarbeit, 2013

65 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Die Großtheorien der Internationalen Beziehungen
1. Der Realismus
2. Der Liberalismus
3. Der Konstruktivismus

III Das völkerrechtliche Prinzip der Responsibility to Protect
1. Die Humanitäre Intervention
2. Die Positivierung der hI in der Responsibility to Protect
3. Zusammenfassend: Womit haben wir es mit der R2P zu tun?

IV Die Erklärungsreichweite der IB Großtheorien zur R2P
1. Erklärungsreichweite und -schwächen des Realismus
2. Erklärungsreichweite und -schwächen des Liberalismus
3. Erklärungsreichweite und -schwächen des Konstruktivismus

V Schlussbetrachtung

Bibliographie

Anhang

I Einleitung

Mit der Resolution (Res.) des Sicherheitsrates (SR) 1973 (2011) der vereinten Nationen (VN) wäh- rend der Revolutionen des Arabischen Frühlings in Libyen wurde der reaktive Teil des neuen Völ- kerrecht(VR)-Prinzips der Responsibility to Protect (R2P) erstmals im konkreten Fall implemen- tiert. Mit durchschlagendem Erfolg, so verhalfen die in diesem Rahmen geführten, massiven Luft- schlägen einer westlichen Staatenallianz gegen die Truppen Gaddafis schließlich den Rebellen zum Sieg und führten indirekt zum Tod des ehemaligen Machthabers. Die mit der völkerrechtlichen Po- sitivierung der humanitären Intervention (hI) vorgenommene Veränderung des Aktionsraumes der VN ist neben dessen Aktualität auch von größter Brisanz, insofern „rules and norms governing the use of force [«] go to the very heart of who we are as the United Nations and what we stand for“ (Annan 2005: IX). Nun ist prinzipiell der Anspruch der R2P weiter gefasst (vgl. Evans/Thakur 2013: 199), da aber die friedlichen Implikationen der neuen Schutzverantwortung völkerrechtlich unproblematisch sind und bereits seit Jahrzehnten verfolgt werden, verkörpert diese praktisch in ihrer militärisch-reaktiven Dimension vor allem die Kodifizierung einer konzeptualisierten hI, wel- che nun bereits seit geraumer Zeit mit ethisch-normativer Begründung das heutige, positive VR unter der VN-Charta herausfordert. Die hI soll hier definiert werden als: (1) Der Einsatz militäri- scher Gewalt (2) durch einen Staat, eine Gruppe von Staaten oder eine internationale Vereinigung (3) im Staatsgebiet eines anderen Staates (4) ohne dessen Zustimmung (5) mit der öffentlich artikulierten Begründung, hierdurch schwere Menschenrechtsverletzungen verhindern zu wollen. Das Konzept der R2P stellt sich derzeit etwa folgendermaßen dar, wobei sich der militärisch-reaktive Teil, hier eigene Hervorhebung, im 2. Hauptsatz (HS) der dritten Säule findet:

“1. The State carries the primary responsibility for protecting populations from genocide, war crimes, crimes against humanity and ethnic cleansing, and their incitement; 2. The international community has a responsibility to encourage and assist States in fulfilling this responsibility; 3. The international community has a responsibility to use appropriate diplomatic, humanitarian and other means to protect populations from these crimes. If a State is manifestly failing to protect its populations, the international community must be prepared to take collective action to protect populations, in accordance with the Charter of the United Nations.” (UNOSAPG 2013 vgl. Ban 2009)

Der Prozess der völkerrechtlicher Kodifizierung der hI in der R2P ist nun „not a theory but a [...] fact begging for an explanation, as facts do” (Waltz 2000: 7). An dieser Stelle sollen die Großtheo- rien der IB herangezogen werden, welche im Falle des Phänomens der R2P kritisch auf ihre Erklä- rungsreichweite hin zu überprüfen sein werden. Die Auswahl der Theorien orientiert sich an den drei großen, rekonstruierten „Debatten“ der IB Theoriediskussion (Schimmelpfennig 2019: 63)1 und der sich hieraus schließlich kristallisierenden drei großen Denkschulen (Kruck/Rittberger 2009: 31), wobei natürlich verschiedene Darstellungen der Debatten (Vgl. Menzel 2001) als auch Eintei- lungen der Großtheorien möglich sind (Menzel 2001, Krell 2009: 123- 407, Schimmelpfennig: 91- 184, Schieder/Spindler (Hrsg.) 2010)2. In der vorliegenden Arbeit soll sich nun auf die als Haupt- strömungen perzipierten Großtheorien des 1. Realismus, 2. Liberalismus und 3. Konstruktivismus beschränkt werden. Im Folgenden werden diese in einem ersten Schritt jeweils idealtypisch darge- stellt. Dies erlaubt sich insofern, als dass es sich bei diesen weniger um spezifische Theorien als um „Weltbilder“ handelt (Krell 2009: 123) und resultiert notwendig aus dem hier zugrundeliegenden Vorhaben nicht die konkrete Theorie eines Autors, sondern drei der dominierenden IB Großtheo- rien, so wie diese als „common sense“ in das breite, akademische Denken eingegangen sind, anhand des Gegenstandes der R2P auf ihre Plausibilität hin zu untersuchen. Um ein solches, idealtypisches Bild zu konstruieren wird sich neben ausgewählten Referenzautoren, deren Werke als Gravitations- zentrum für das zugrundeliegende Verständnis der Großtheorien fungieren, an der einschlägigen, politikwissenschaftlichen Sekundärliteratur orientiert. Bei den herangezogenen Werken der Refe- renzautoren handelt es sich zumeist um „Klassiker“ der jeweiligen Theorieschule, welche zudem bereits im Hinblick auf den Analysegegenstand als vielversprechend gewertet werden. In einem zweiten Schritt erfolgt die Darstellung der Entwicklung, völkerrechtlichen Verankerung und letztli- chen Ausgestaltung der R2P. Diese wird auf einer möglichst deskriptiven, völkerrechtlichen Basis erfolgen. Als Grundlage werden hierzu die einschlägige rechts- und politikwissenschaftliche Litera- tur sowie völkerrechtliche Verträge und VN-Dokumente herangezogen. Es wird zu jedem Entwick- lungsschritt zudem die jeweilige humanitäre Interventionspraxis übersichtlich dargestellt, da diese die völkerrechtliche Entwicklung begleitet oder dieser gar vorauseilt. Zudem werden sich aus der Staatenpraxis Indikatoren für die Erklärungskraft der Großtheorien erwartet. In einem dritten Schritt werden anhand eines auf der erfolgten Darstellung basierenden Indikatorenkatalogs die Großtheo- rien auf ihre spezifische Erklärungskraft hin geprüft. Abschließend erfolgt eine vergleichende Aus- wertung. Die dieser Arbeit zugrundeliegenden und im Folgenden zu klärende Fragestellungen lau- ten also:

1. Wie erklären die Großtheorien unterschiedliche Aspekte der Schutzverantwortung?
2. Wie plausibel können sie diese innerhalb ihres Weltbildes verordnen?
3. Welche Theorie hat insgesamt die größte Erklärungskraft bezüglich des Phänomens der R2P?

Es werden sich mit dieser Arbeit sowohl Einblicke in die Vorzüge und Schwächen der IB Weltbilder angesichts des Erklärungsgegenstandes, als auch ein vertieftes Verständnis ob des Wesens der R2P erwartet.

II Die Großtheorien der Internationalen Beziehungen

Zur besseren hbersichtlichkeit soll sich die Darstellung der jeweiligen Theorievariante an den Ka- tegorien (1) Akteur, (2) Struktur, (3) Disposition, (4) Krieg sowie (5) Kooperation und Frieden ori- entieren. Die ersten drei Kategorien dienen der Illustration der jeweiligen Großtheorie. So werden zunächst die Akteurstypen sowie deren grundlegende Eigenschaften und Beziehungen untereinan- der beschrieben, in einem zweiten Schritt erfolgt die Darstellung der handlungsdeterminierenden Strukturen und in einem dritten Schritt folglich die Disposition der Akteure. Die folgenden zwei Kategorien beinhalten bereits eine gewisse analytische Anwendung der Großtheorien im Hinblick auf Voraussetzungen, Wahrscheinlichkeit und Art militärischer Konflikte sowie für Kooperation und friedliche Koexistenz. Da die R2P die beiden Themenbereiche berührt, bieten diese hberlegungen wichtige Erkenntnisse für den Analyseteil.

1. Der Realismus

Der Realismus ist vielleicht die älteste der IB Metatheorien und bezieht sich in seiner Ideentradition bis zurück auf die Darstellung des Peloponnesischen Krieges durch den Feldherren und Historiker Thukydides im 5. Jahrhundert (Jhd.) v. Christus. Moderne Vorbilder der Denkschule des Realismus sind die Schriften Hobbes und Machiavellis. Entscheidend aus der Tradition ist ein allgemein skep- tisches Menschenbild, die zweckrationale Disposition der Akteure sowie das Streben nach Macht und deren (positive) Funktionalisierung. In Abkehr an den klassischen Individualrealismus (etwa Carr 1962, Morgenthau 1963) soll hier vom strukturellen oder Neo-Realismus, nach Waltz (2007/ 2000a), Mearsheimer (1994) oder Hertz (1974) ausgegangen werden, welcher die egoistische Dis- position der Staatenakteure von der strukturellen Anarchie der internationalen Beziehungen abhän- gig macht.

1.1. Der strukturelle Realismus:

(1) Im Weltbild des Realismus sind die einzig relevanten Akteure der iB die prinzipiell souveräne Staaten (Waltz 2007: 94). Diese werden auf internationaler Ebene trotz ihrer Unterschiede, etwa an Größe, Wohlstand, Macht und Regierungssystem, als einheitlich handelnde Akteure verstanden. In den iB erfüllen sie alle die gleiche Funktion und haben die gleichen Ziele. Der Staat wird zu einer „Blackbox“. Relevante Unterschiede der Staaten sind also ausschließlich quantitativer, nicht quali- tativer Natur (Waltz 2007: 96). Messbar wird der Status eines Staaten in der Staatenwelt somit al- lein durch den Machtvergleich mit seinesgleichen. (2) Die Handlungsoptionen der Staaten werden durch die Struktur der IB determiniert. Die primäre Struktur des internationalen Systems bildet das im Grunde unveränderliche Ordnungsprinzip der Anarchie, welche notwendigerweise durch die Souveränität der systemischen Einheiten entsteht (Waltz 2007: 102). Diese grundlegende Struktur- eigenschaft ist für den Realismus der Ausgangspunkt, von ihr hängt alles Weitere ab. Unterhalb dieser primären Strukturkonstante findet sich eine sekundäre Strukturvariable. Diese entsteht aus dem relativen Machtpotential der einzelnen Staaten und der sich hieraus ableitenden Machtverhält- nisse in den iB. Diese sekundäre Struktur des Systems kann also durch das Handeln der staatlichen Einheiten, allen voran die mächtigsten, beeinflusst werden. Die größte Gefahr für den Staat unter diesen Voraussetzungen ist die der jederzeit drohenden Gewaltanwendung anderer Staaten (Waltz 2007: 102). Jeder Staat muss so jederzeit auf einen feindlichen Angriff vorbereitet sein, um notfalls seine Sicherheit bzw. politische Unabhängigkeit verteidigen zu können. (3) Auf dieser Basis ständi- ger Unsicherheit, illustriert so in dem bekannten Gefangenendilemma (vgl. Schimmelpfennig 2010: 79), entsteht eine permanente Machtkonkurrenz. Da in dieser unveränderlichen Konkurrenzsituation der iB der Machtzustand des Staates sich jeweils an der Macht der anderen misst, zählen nur relati- ve Gewinne. Hieraus resultiert auch das bekannte Sicherheitsdilemma (Herz 1974), einer endlosen Spirale an präventiver Machtansammlung. Die wichtigste Form der Macht in den iB ist die militäri- sche. Mit ihr kann man nicht nur die eigene politische Unabhängigkeit und Existenz vor dem Ein- fluss anderer Staaten verteidigen, sie dient auch der Verfolgung eigenständiger politischer der öko- nomischer Interessen, welche schließlich wieder der Sicherheit oder Machtvermehrung dienen (Waltz 2007: 94). Macht ist im internationalen System die Währung, sie ist „fungibel“ (Schimmel- pfennig 2010: 70). Bezüglich des Machtstrebens kann nun unterschieden werden zwischen defensi- ven und offensiven Realisten. Im defensiven Realismus strebt der Staat nur insoweit nach Macht, wie diese nötig ist, seine Sicherheit zu gewährleisten und wird erst dann aktiv, wenn er die eigene politische Autonomie bedroht sieht. In diesem Fall bieten sich ihm zwei Möglichkeiten des Balan- cing (Waltz 2007: 197ff.). Ein internes, auf die Aktivierung zusätzlicher Machtressourcen im Inland ausgerichtetes, und ein externes, wobei hier versucht wird, über gezielte Bündnispolitik erneut ein Machtgleichgewicht herzustellen. Wenn möglich zieht der Staat das innere Balancing vor, um mög- lichst unabhängig zu bleiben. Der offensive Realismus argumentiert dagegen, dass der Staat im Zu- stand ständiger existentieller Unsicherheit und unvorhersehbaren, zukünftigen Bedrohungen ständig nach mehr relativer Macht strebt (Mearsheimer 1994: 11- 12). Als eine weitere Folge dieser Unsi- cherheit können Staaten einander nicht vertrauen, diese sind so auch in ihrem Sicherheitsstreben letztlich immer auf das Potential zur Selbsthilfe angewiesen. Unter diesen Rahmenbedingungen ist jegliche Versöhnung oder längerfristige Kooperation unmöglich (Waltz 2007: 111). Auch weiterge- hende, internationale Arbeitsteilung in anderen Bereichen verbietet sich, da diese dem Sicherheits- interesse widersprechende Interdependenzen schafft (Waltz 2007: 104). Eventuelle ökonomische oder ideologische Ziele müssen sich also dem grundlegenden Sicherheitsbedürfnis unterordnen. Auch wird auf mögliche, absolute Gewinne einer Kooperationsleistung verzichtet, sofern diese rela- tive Verluste beinhalten und der Staat fürchtet ständig, in Abwesenheit einer übergeordneten Sankti- onsinstanz, von seinen Partnern übervorteilt zu werden. So lange das grundlegende Ordnungsprin- zip der Anarchie besteht, verändert sich auch nichts an dieser Disposition (Waltz 2000: 5). Die Blackbox Staat ist somit, innerhalb dieser determinierenden Struktur, nicht lernfähig. (4) Militäri- sche Macht ist auch für die Kooperation das entscheidende Element. Diese lässt sich durch Drohung oder Gewaltausübung erzwingen (Schimmelpfennig 2010: 83). Zudem versuchen kleinere Staaten sich aus Sicherheits- und Einflussinteressen Machtschwerpunkten in den iB anzunähern. Die typi- sche Kooperationsform von Staaten im Realismus ist die militärische Allianz. Diese wird von Staa- ten zur relativen Nutzenmaximierung eingegangen und hat meist nur temporären Charakter. Es gilt:

„today's alliance partner might be tomorrow's enemy, and today's enemy might be tomorrow's alli- ance partner“ (Mearsheimer 1994: 12). Erneut zeigt sich die Uniformität der Staaten und deren Indifferenz gegenüber etwaigen, ideologischen hberschneidungen bei der Befriedigung ihres Si- cherheitsinteresses. Die Zusammenarbeit in Institutionen basiert allein auf dem staatlichen Eigenin- teresse der internationalen Machtdiffusion und damit der Machterweiterung. Zentrale Entschei- dungsforen von Institutionen werden somit nach den Ansprüchen der mächtigsten Staaten ausgestal- tet und bieten lediglich eine weitere Arena für die Austragung von Machtkonkurrenzen (Mearshei- mer 1994: 13). Gemäß des Realismus sind allein Machtkonzentrationen in der Lage, die negativen Auswirkungen der Anarchie abzuschwächen. In einem Zustand der Unipolarität oder gar der Hege- monie sind Kooperationsleistungen dank einer als „Proto-Weltstaat“ (Schimmelpfennig 2010: 75) fungierenden Dominanz des mächtigsten Staates leichter möglich. Dieser ist in der Lage verbindli- che Regeln einzuführen und durchzusetzen. Ähnliches müsste auch im Fall einer dominierenden Staatenallianz gelten. Auf Weltebene ist längerfristige und tiefergehende Kooperation also nur in einem Moment außergewöhnlicher Machtkonzentration zu erwarten. (5) „Among states, the state of nature is the state of war.“ (Waltz 2007: 102). Krieg kann im Naturzustand Hobbescher Anarchie (Wesel 2012: 41) der iB jederzeit ausbrechen. Ein Staat führt Krieg, wenn es in seinem Interesse liegt, d.h. wenn er sich hierdurch relative Machtgewinne erhofft. Dem zentralen Sicherheitsinteresse sind alle weiteren hberlegungen untergeordnet.

2. Der Liberalismus

Gegen das skeptisch bis negative Menschenbild des klassischen Realismus setzte der „Idealismus“, als Fremdbezeichnung der Realisten für verschiedene liberale Weltbilder, das verhalten positive eines tendenziell guten oder doch zumindest rationalen und lernfähigen Menschen (Wesel 2012: 40). Der Liberalismus umfasst eine Reihe von Strömungen, wobei als der wichtigste Vordenker der liberalen Großtheorien Immanuel Kant mit seinen Schriften „Zum ewigen Frieden“ gilt (Kant 2011, Vgl. Hidalgo 2012: 19ff.)3. Die folgende Darstellung soll sich nun sowohl an dem subsystemischen bottom-up Ansatz des neuen Liberalismus, wie er maßgeblich durch Moravcsik (1997) zusammen- gefasst wurde (Vgl. Schieder 2010: 190f., Krell 2009: 183), als auch dem Institutionalismus, wie er, aufbauend auf der Interdependenztheorie (Kehohane/Nye 1977) entscheidend durch Keohane (1984) geprägt wurde (Zangl 2010: 134), orientieren4. Wobei hier, mit Hinblick auf den Analysegegenstand, eine funktionelle Verbindung des subsystemischen und des institutionellen Liberalismus angestrebt wird. Mit einer Verschmelzung dieser beiden werden die wesentlichen traditionellliberalen Strömungen sowie die ersten beiden IB Theoriedebatten umfasst.

2.1. Der subsystemisch-institutionelle Liberalismus:

(1) In Abgrenzung zum Realismus sind im subsystemischen Liberalismus nicht Staaten sondern Individuen und Gruppierungen die wesentlichen Akteure, deren Interessen dem politischen Handeln kausal vorgeschaltet sind (vgl. Moravcsik 1992: 516f.). Es kann hier zwischen öffentlichen (staatli- chen), privaten (eigennützig) und zivilgesellschaftlichen (gemeinnützig) Akteuren unterschieden werden (Schimmelpfennig 2010: 118). Diese Akteure handeln zweckrational und definieren, in Konkurrenz oder Zusammenarbeit, ihre auf die Außenpolitik gerichteten Interessen, welche dann entsprechend kanalisiert, aggregiert und schließlich durch den Staat externalisiert werden. In den iB ist nun, im Einklang mit dem Institutionalismus, der Staat der wesentliche Akteur, eben als Werk- zeug innerstaatlich generierter Interessen (Moravcsik 1997: 518). In der transnationalen Variante des subsystemisch-institutionellen Liberalismus sind es auf internationaler Ebene agierende, öffent- liche, private oder zivilgesellschaftliche Akteure, welche versuchen, in den Entscheidungszentren internationaler Institutionen bzw. „Regime“ (Zangl 2010), Politikprozesse und Ergebnisse zu beein- flussen. Dies geschieht erneut über den Umweg des einzig souveränen Akteurs mit legislativer Re- gelungskompetenz der iB, dem Staat. Politisches Handeln ist also eingefasst in eine nationale und transnationale Zivilgesellschaft, deren Prozesse dem staatlichen Handeln vorgeschaltet sind. Die Exekution des Interessenaggregats unterliegt indes weiterhin den Staaten. Man könnte in diesem zweifachen two-level Game (Vgl. Putnam 1988) von zwei Akteursgruppen ausgehen, je nachdem ob man die subsystemische (Individuen und Gruppierungen) oder die systemisch (Staaten) Ebene betrachtet. (2) Auch der subsystemisch-institutionelle Liberalismus geht von der Anarchie in den in iB aus, jedoch ist deren Wirkung auf die letztliche Disposition der Staaten deutlich geringer als im Realismus, da diese vorrangig auf innerstaatlicher Ebene entsteht (Schieder 2010: 196)5. Im subsystemisch institutionellen Liberalismus haben wir es bei der Struktur mit einem two-level Game zu tun. Auf subsystemischer Ebene ist die entscheidende strukturelle Voraussetzung die Verteilung von Möglichkeiten für die verschiedenen Akteure Einfluss auf die außenpolitische Interessenaggregati- on zu nehmen. Hier gibt es nun eine Vielzahl institutioneller Ausgestaltungen, welche jeweils die Einflussnahme unterschiedlicher Interessengruppen bevorzugen (Moravscik 1997: 518)6. Für den transnationalen Raum gilt prinzipiell das gleiche, wobei das demokratische Element der innerstaat- lich-subsystemischen Einflussnahme weitestgehend entfällt. Auch für die systemisch-staatliche Per- spektive muss zunächst die „Innenseite der Außenpolitik“ (Krell 2009: 185) bemüht werden. Militä- rische Macht ist für den Großteil der innerstaatlichen Akteure nicht von entscheidendem Interesse, zumal diese auch als Instrument, durch die Asymetrisierung des Krieges sowie dem ausgeuferten Vernichtungspotential nuklearer Waffen, zunehmend weniger fungibel wurde. Einige der primären Interessen der subsystemischen Akteure sind nun, ausschließlich oder nur effizienter7, durch trans- und/oder internationale Kooperation zu erreichen. Es bestehen also, für die (optimale) Verfolgung verschiedener Interessen (z.B. wirtschaftlicher Gewinn), eine Vielzahl wechselseitige Abhängigkei- ten oder „komplexe Interdependenzen“ (vgl. Keohane/Nye 1977: 24- 37). Diese Interessen und In- terdependenzen sind zunächst rein sachbezogene (z.B. auf jeweils unterschiedlichen Akteuren zu- gängliche Rohstoffe, welche durch Tausch oder Verbindung [zusätzlichen] Gewinn bedeuten wür- den) und sollen hier bezeichnet werden als Interessen und Interdependenzen „erster Ordnung“. Es ist nun möglich, dass Interdependenzen erster Ordnung allein durch die außenpolitische Koordina- tion mehrerer (oder möglichst vieler) Staaten optimal bearbeitet werden können (z.B. wenn sich entsprechende Ressourcen in verschiedenen Staaten befinden, welche kein Freihandelsabkommen getroffen haben). Diese regulatorische Interdependenz soll hier als Interdependenz zweiter Ordnung bezeichnet werden. In diesem Fall werden die interessierten, subsystemischen Akteure ihre Interes- sen auf die Beeinflussung der Außenpolitik lenken, um diese auf die Bearbeitung der Interdepen- denz zweiter Ordnung auszurichten. Dieses Interesse an der Durchsetzung einer bestimmten Au- ßenpolitik, wird hier entsprechend als Interesse zweiter Ordnung bezeichnet. Staaten, welche zum gleichen Zeitpunkt die gleichen Interessen zweiter Ordnung externalisieren werden wahrscheinlich kooperieren. Durch regelmäßiges Zusammentreffen von Staaten mit gleicher externalisierter Präfe- renz entstehen problemspezifische und handlungsleitende Regelwerke, genannt Regime (Zangl 2010: 133, zur besseren Bearbeitung der Interdependenzen erster Ordnung (z.B. durch die Errich- tung einer Freihandelszone). Im Rahmen dieser Regime können internationale Organisationen (IO) geschaffen werden, welche ihrerseits wieder Aufgaben verschiedener Regime wahrnehmen können. Als die maßgebliche Funktion der IO kann die Senkung der Kooperationskosten angesehen werde, woraus eine besseren Bearbeitung der Interdependenzen (erster und zweiter Ordnung) folgt. So werden kosten gesenkt durch 1. das Angebot eines regelmäßigen Verhandlungsrahmens 2. die Inter- pretation der (meist vertraglich) vereinbarten Regeln der Regime, 3. die Kontrolle der Einhaltung dieser Regeln und 4. eventuell die Sanktion bei Nichtbefolgung dieser Regeln. Eine solche Senkung der Transaktionskosten begünstigt die weiteren Ausgestaltung, Ausweitung oder Neukreation eines Regimes (Keohane 1984: 89- 109). Die Verteilung von argumentationsmacht im entsprechenden Problemfeld8 unter den kooperierenden Staaten wirkt sich hierbei direkt auf die konkrete Ausgestal- tung des Regimes aus (Keohane 1984: 31- 46). Maßgeblich durch die wachsende internationale, bzw. transnationale Zusammenarbeit besteht der globale Trend zu wachsender Interdependenz (z.B. durch steigenden Konsum mit steigendem Wohlstand und der hiermit verbundenen Ressourcenver- knappung und Umweltverschmutzung). Hierdurch wächst auch die Bereitschaft sich weitergehend in Regimen zu engagieren, was erneut kooperationsfördernd sein kann. Auf internationaler Ebene versuchen nun die transnationalen Akteure, ganz im Sinne ihrer Interessen erster Ordnung, zusätz- lich direkten Einfluss auf die Regimeentwicklung zu nehmen. Durch den „Engelskreis“ sich selbst stabilisierender, dezentraler Verregelung und Kooperation verringert sich die internationale Anar- chie und Unsicherheit (Schimmelpfennig 2010: 102- 112) mit direkter Rückwirkung in den subsys- temischen Raum und somit schließlich erneut in die externalisierten Interessen der Staaten. (3) Die Disposition des Staates hängt ganz von den sich letztlich durchsetzenden Interessen der verschiede- nen Akteure der nationalen Zivilgesellschaft ab. Diese können theoretisch nun in jeder erdenklichen Weise definiert werden und umfassen das gesamte Spektrum von militärischer Eroberungspolitik, Revisionismus und Sicherheitspolitik über Ressourcenbedarf und Handelsmöglichkeiten bis hin zu altruistischen Interessen (Moravcsik 1997: 520). Der neue Liberalismus ist also zunächst einmal nicht notwendigerweise eine harmonistische Theorie (Krell 2009: 186). Zur Quelle der externali- sierten Präferenzen gibt es im Liberalismus nun drei Ansätze: 1. Der ideational liberalism betrach- tet die soziale Identität, das Weltbild und die Werteordnung als grundlegend für die Präferenzbil- dung. Somit werden auch die innerstaatliche institutionelle Ausgestaltung, Verfahren und Verhal- tensweisen, sowohl in außenpolitischen Arbeitsweisen als auch in der Zielsetzung, externalisiert (Moravcsik 1997: 527). 2. Der commercial liberalism konzentriert sich auf wirtschaftliche Präfe- renzen der nationalen und transnationalen Akteure. 3. Der republican liberalism fokussiert die Wege der Einflussnahme und Aggregation der externalisierten Interessen und damit auch das jeweilige Regierungssystem eines Staates. So erfolgt die Präferenzgenese in Demokratien in der Regel auf breiterer, repräsentativer Basis als in autokratischen Staaten (Moravcsik 1997: 524ff.). Für den sub- systemischen Liberalismus gilt: „what states want is the primary determinant of what they do“ (Mo- ravcsik 1997: 522). Diese Präferenz ist nicht statisch und die subsystemischen Akteure sind lernfä- hig. (4) Frieden entsteht immer dann, wenn Staaten aufeinandertreffen, deren Politikstil und Ziel- setzungen verlässlich auf Gewaltlosigkeit ausgerichtet sind und speziell internationale Kooperation, wenn die durch Staaten vertretene Interessen einander begünstigen (Schieder 2010: 197). Als nütz- liches Hilfsmittel der Staaten für stabile Kooperation fungieren die Regime, welche über internatio- nale Verregelung zudem die negativen Strukturwirkungen der Anarchie abschwächen können. Ko- operation und Frieden verstärken sich somit gegenseitig. Der Liberalismus bescheinigt in jeder Hin- sicht liberalen Demokratien besonderes Potenzial zur Kooperation und dem Friedenserhalt. So gilt der „demokratische Friedens“ als „as close as anything we have to a law in international relati- ons“ (zitiert nach Moravcsik 1997: 531)9. (5) Andererseits kann ein Staat, auch ein demokratischer, nicht unbeeinflusst seinen Interessen nachgehen, da er auf der internationalen Ebene durch die, eventuell zuwiderlaufenden, externalisierten Interessen anderer Staaten eingeschränkt ist (Morav- scik 1997: 520). Allgemein entstehen internationale militärische Konflikte immer dann, wenn eine Konstellation gegenläufiger externalisierter Präferenzen verschiedener Staaten ausreichend Bereit- schaft in der Zivilgesellschaft, bzw. den dominierenden nationalen Interessengruppen, hervorruft, um diese kostenintensive Option zu favorisieren (Moravcsik 1997: 521). Infolge vielseitiger Kritik an der Theorie des demokratischen Friedens10 bleibt hier auch lediglich „ein halbierter demokrati- scher Frieden“ (Krell 1997: 210), verbunden mit der Feststellung, dass Demokratien einfach be- stimmte Formen der Kriegslegitimation erfordern (Krell 2009: 197- 216).

3. Der Konstruktivismus

Der Konstruktivismus entsprang der dritten großen Theoriedebatte vor allem in Abgrenzung zum Realismus und institutionellen Liberalismus aber auch zum subsystemischen Liberalismus11 (vgl. Risse-Kappen 1995: 282f./ Wendt 1994: 384). Durch diese jüngste Theorieströmung, welche sich ab Ende der 80er Jahre entwickelte, hält die, maßgeblich durch Foucault (1969) eingeleitete, epistemo- logisch Wende in den Sozialwissenschaften schließlich auch in den IB Einzug (vgl. Finnemo- re/Sikkin 1998: 888). Während die vorangegangenen Großtheorien rationalistisch waren in der An- nahme, man könne die Struktur der iB und die Akteursdispositionen vor allem von materiellen Fak- toren, wie etwa der Macht- oder der Ressourcenverteilung, abhängig machen, geht der reflexive Konstruktivismus davon aus, das diese im wesentlichen intersubjektivisch, sozial konstruiert wer- den (Wendt 1992: 393f., ebd. 1999: 1). Als Referenzautoren orientiert sich die folgende Darstellung vor allem an den modernen Klassikern Wendts (1992, 1994, 1999), dessen vorwiegend staatszen- trierter Ansatz, wo nötig, durch die subsystemischen und kommunikativen Ansätze von etwa Risse (1995, 2000) und um das Element der Institutionen durch Finnemore (1996) bzw. Finnemo- re/Sikkink (1998) ergänzt wird.

3.1. Der soziale Konstruktivismus:

(1) Angesichts der Akteursauswahl unterscheidet sich der soziale Konstruktivismus kaum von dem subsystemisch-institutionellen Liberalismus. Wobei internationale Organisationen hier auch als ei- genständige Akteure auftreten können (Wesel 2012: 92). Der entscheidende Unterschied zu den rationalistisch-materiellen Ansätzen ist der, dass die Akteure nun nach einer „logic of appropriaten- ess“ (Finnemore/Sikkink 1998: 897, March/Olsen 1989)12 anstelle zweckrationaler Motive vorge- hen. (2) Im Konstruktivismus wird die internationale Anarchie weitgehend dekonstruiert und die programmatische Aussage „Anarchy is what states make of it“ (Wendt: 1992) zeugt hiervon gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird die internationale Anarchie nicht mehr als die Absenz eines Ordnungssystems betrachtet, sondern als eine spezifische Form der institutionellen und sozialen Ordnung einer international society13, welche sich durch die Expansion des Westens und dessen Werte durchgesetzt hat (Finnemore 1996: 326f.). Die Anarchie ist also keine überzeitliche Konstan- te, sondern die Konsequenz spezifischer, (westlicher) Ansichten und Vereinbarungen die iB betref- fend. Zum anderen ist es die intersubjektivisch geschaffene, ideelle Struktur, welche den Akteuren den Handlungsrahmen der Angemessenheit vorgibt und somit wesentlich ihr Verhalten determiniert. Die soziale Ausgestaltung des anarchischen Ordnungssystems ist zunächst also ebenfalls offen. Was einem Akteur nun jeweils angemessen erscheint ist abhängig von dessen Selbstidentifikation. Zur Konstruktion seiner Identität ordnet der Akteur in kollektive Identitäten ein oder grenzt sich von diesen ab. Ein entscheidender Teil kollektiver Identitäten sind nun (kollektive) Ideen, welche in 1. Werte, 2. Wissen und 3. Normen unterschieden werden können (Schimmelpfennig 2010: 164f.).

Das Fundament der kollektiven Ideen sind die Werte. Diese richten sich auf die grundlegende und letztliche Zielvorstellung des Kollektivs und dessen Organisation (z.B. Menschenwürde, Freiheit, Wohlstand, Macht oder auch die göttlich-gute Gesellschaft). Das Wissen umfasst eine bestimmte Vorstellung der (materiellen) Wirklichkeit und hberzeugungen hinsichtlich kausaler Zusammen- hängen. Die kollektiven Normen setzen, auf Basis von Werten und Wissen, Standards für angemes- senes Verhalten. Die Gesamtheit der kollektiven Ideen, welche sich durch Kohärenz oder hberlap- pung zu kollektiven Identitäten (synonym auch Kulturen oder Gemeinschaften) verdichten können, bildet nun, über die jeweilige Selbstidentifikation der Akteure, die entscheidende Struktur der iB (Wendt 1994: 385). (3) Gemäß dieser Struktur eines gemeinsamen Normenstandards ihrer jeweili- gen kollektiven Identität handeln die Akteure angemessen14 und sind zudem ständig bestrebt, ihre ideelle Basis nach innen wie nach außen zu festigen (Schimmelpfennig 2010: 174)15. Der zentrale Mechanismus hierzu ist das kommunikative Handeln, hier als der Versuch über die Argumentation weitere Akteure, potentielle Sozialisanden, von den eigenen (kollektiven) Ideen zu überzeugen und diese somit im Rahmen der eigenen kollektiven Identität zu sozialisieren (vgl. Risse 2000: 28). Kommunikatives Handeln kann sich potentiell immer und überall vollziehen16. Auch durch materi- ellen Druck oder Zwang kann oberflächlich normengeleitetes Verhalten, allerdings kaum tatsächli- che Wertediffusion, erreicht werden. (4) Kooperation entsteht leicht zwischen Akteuren mit der gleichen oder zumindest einer ähnlichen ideellen Basis. hber Häufungen gemeinsamer Ideen kön- nen sich (internationale) kollektive Identitäten entwickeln. Die Akteure dieser Gemeinschaft identi- fizieren sich wechselseitig positiv miteinander und es entsteht auf Basis von Empathie, Altruismus und Vertrauen eine Kultur der Freundschaft (vgl. Wendt 2009: 289) und Frieden. Ein Mechanismus zur Erzeugung (aber auch Stabilisierung) von Kooperation und Frieden ist die Sozialisation über kommunikatives Handeln. Die Voraussetzungen hierfür sind gut, wenn 1. eine bereits ideell- kohärente und stabile Gemeinschaft einen neuen oder unsicheren Sozialisanden zu überzeugen ver- sucht, 2. die Anschlussfähigkeit der durch die Gemeinschaft vertretenen Ideen an die Selbstidentifi- kation des Akteurs hoch ist, 3. dieser sich bereits formell zu einer Idee bekannt hat, 4. der Soziali- sierende eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet des diskutierten Geltungsanspruches ist und, hiermit verknüpft, 5. dieser in seiner Absicht glaubwürdig scheint (Schimmelpfennig 2010: 175ff.)

(5) Wiedersprechen sich die ideellen Standpunkte zweier Akteure, können Antipathien entstehen. Je grundlegender für die eigene Identität hierbei der Streitpunkt, desto schwieriger sind die Differenzen überbrückbar. Aufgrund einer im Extremfall fehlenden gemeinsamen Lebenswelt (Risse 2000: 10ff.) ist kommunikatives Handeln ausgeschlossen. Ideelle Konflikte sind somit potenziell sogar schwerer überbrückbar als rationalistische Verteilungsfragen. Durch mangelnde gegenseitige Identifikation, insbesondere angesichts der eigenen Verhaltensnorm widersprechender Praxen, entsteht Misstrauen und Abneigung. Sei es um den Gegner zur Einhaltung des eigenen Verhaltensstandards zu zwingen oder auch aus präventivem Selbstschutz, um den Feind zu schwächen oder zu beseitige. In dieser Kultur der Feindschaft ist Gewaltanwendung jederzeit möglich.

III Das völkerrechtliche Prinzip der Responsibility to Protect

Der Krieg für die Menschenrechte ist nicht nur ein Oxymoron, sondern auch für das moderne Völ- kerrecht unter der VN-Charta hoch problematisch. So ist das am deutlichsten konnotierte Ziel der Organisation, wie im ersten Hauptsatz der Präambel sowie in Art. 1 I (VN 1945) formuliert, die Wahrung des international peace17. Dieser wird nun theoretisch durch die in Art. 2 gelisteten Grundprinzipien der Charta gewährleistet (Vgl. Leiß 2000: 59ff.). In vorliegendem Fall entschei- dend ist das absolute Gewaltverbot (VN 1945: Art. 2 IV)18 und die Garantie der Nichteinmischung in die domaine réservé der inneren Angelegenheiten eines Staaten (ebd.: Art. 2 VII)19. Die Charta beschreibt im 2. HS der Präambel sowie in Art. 1 III nun auch die Förderung und Festigung der Menschenrechte als eines Ihrer Ziele, zudem ist der Individualschutz des VR ständig fortentwickelt worden und nimmt hier heute eine zunehmend zentrale Bedeutung ein (vgl. Leiß 2000: 71)20. Eine Legitimation zur offensiven Gewaltanwendung verknüpft mit dem Menschenrechtsschutz kennt die Charta gemäß ihrem Wortlaut allerdings nicht. Diese ist völkerrechtlich nur möglich, wenn der SR, welchem die Hauptaufgabe für die Sicherung des Weltfriedens obliegt (VN 1945: Art. 24 I), im Fal- le der Feststellung einer Gefahr oder eines Bruchs des Friedens (ebd.: Art. 39) beschließt, auf mili- tärische Mittel (ebd.: Art. 42) zurückgreifen um diesen wiederherzustellen. Für die rechtliche Mög- lichkeit einer hI wird somit als entscheidend erachtet, inwieweit die innerstaatliche Verletzung von Menschenrechte als eine Gefahr oder ein Bruch des internationalen Friedens gedeutet werden kann, wobei dies wiederum davon abhängt, inwieweit deren Gewährleistung in die domaine réservé der innerstaatlichen Souveränität fällt. Dieses Verhältnis von VR und innerstaatlichem Recht wird im konsensbasierten VR21 von der Verbindlichkeitsdichte einer Verregelungen abhängig gemacht. Zentrale Elemente des völkerrechtlichen Individualschutz besitzen heute nun theoretisch die Quali- tät der höchsten Verbindlichkeitsdichte von ius cogens, als zwingendes Recht für die einzelnen Staaten, und/oder des erga omnes, als Verpflichtung für die gesamte Staatengemeinschaft (vgl. Ip- sen 2004: 211- 233, Leiß 2000: 147ff., Pape 1997: 6ff.)22. Mit ansteigender internationaler Verbind- lichkeit des Menschenrechtsschutzes scheint dieser als interventionsemanzipativer Pol zunehmend in der Lage die ursprünglich interventionsrestriktiven Grundprinzipien der internationalen Frie- denswahrung zu infiltrieren. Im Folgenden soll nun dargestellt werden, wie sich das Spannungsfeld zwischen diesen Grundprinzipien und humanitär begründeten Einsätzen praktisch und theoretisch bis hin zum VR Prinzip der R2P verlagert und in welcher Weise diese den Konflikt zu lösen ver- sucht.

[...]


1. Die während der ersten Hälfte des 20. Jhd. geführte Debatte zwischen Anhängern des Realismus und den des Idealismus. 2. Die Debatte zwischen Neorealismus und neoliberalem Institutionalismus sowie 3. der Debatte zwischen Rationalismus und Konstruktivismus.

2 So werden zudem noch regelmäßig der Institutionalismus und der Transnationalismus, welche in der vorliegenden Arbeit unter den Liberalismus fallen, der Strukturalismus bzw. Marxismus und der Feminismus genannt

3 So kann in dieser Tradition unterschieden werden zwischen: 1. Dem Republikanischen Liberalismus, der sich durch die Demokratisierung der nationalen Herrschaftsverhältnisse letztlich internationale Kooperation und Frieden erhofft mit 2. seiner extremen Form des Liberalen Imperialismus, welcher auf Fortschritt durch die zivilisatorische Mission der „höher entwickelten“ liberalen Demokratien setzt. Für den liberalen Imperialismus gilt statt Kant John Stuart Mill als Vordenker, welcher einen klaren Doppelstandard bezüglich Interventionen gegenüber „civilized nations and barbari- ans“ vertrat (Mill 2006: 259). 3. Dem regulatorischen Liberalismus, heute regelmäßig als Institutionalismus bezeichnet, welcher die Möglichkeit sieht, durch institutionelle Verregelung und Verrechtlichung die Anarchie der iB zu verringern, die egoistische Disposition der Staaten zu Kanalisierung und so zunehmende Kooperationsleistungen zu ermöglichen. Als Vordenker gilt hier, noch vor Kant, der „Vater des Völkerrechtes“ Hugo Grotius (1583- 1645) (Vgl. Moses 2009: 404). Und 4. der ökonomischen Realismus, welcher allgemein dem internationalen Freihandel eine wohlfahrtssteigern- de und schließlich, auch aus Kosten-Nutzenabwägungen, kriegshemmende Wirkung unterstellt (Krell 2009: 178ff.).

4 Oft wird der Institutionalismus heute, trotz seiner Wurzeln im regulatorischen Liberalismus, als eigene Großtheorie neben dem subsystemischen Liberalismus behandelt (Menzel 2001, Krell 2009: 123- 407, Schimmelpfennig: 91- 184). Angesichts des vorliegenden Analysegegenstandes der R2P bietet sich diese Verflechtung jedoch an.

5 Die durch die Anarchie geförderte Unsicherheit spiegelt sich nur insoweit im letztlichen Staatsverhalten wider, wie diese die außenpolitischen Interessen der dominierenden, innerstaatlichen Akteure beeinflusst. Grundsätzlich wäre der Erhalt der politischen Unabhängigkeit bzw. Existenz nun auch hier ein zentrales Anliegen der verschiedenen subsyste- mischen Akteure, obwohl „[i]t is not uncommon for states knowingly to surrender sovereignty [or to] compromise security“ (Moravcsik 1997: 520), zudem kann die durch die Anarchie entstehende Unsicherheit auf verschiedene Arten „verringert“ werden.

6 So kann die Möglichkeit der Einflussnahme nicht nur von den Facetten zwischen liberaler Demokratie und diktatorischer Tyrannei, sondern auch z.B. zwischen schwachen und starken Staaten, Mehrheits- und Konsenzdemokratien oder der Anzahl und Art der Veto-Spieler abhängig gemacht werden (Schimmelpfennig 2010 : 141ff.).

7 Man kann bei den Interdependenzverhältnissen Abstufungen Einführen und unterscheiden etwa zwischen Autonomie und Dependenz oder sensitivity und vulnerability (Keohane/Nye 1977 : 12f., Vgl. Spindler 2010 : 106).

8 Für eine Untersuchung der verschiedenen Machtsymmetrieverhältnisse und deren Konsequenzen in Verhandlungssituationen siehe Keohane/Nye 1977.

9 Hierzu wird angeführt : 1. Durch die breite Teilhabe der Bevölkerung an der Interessenaggregation übt gerade der Akteur, welcher auch die wesentlichen, materiellen und physischen Kosten für militärische Konflikte zu tragen hätte, einen erheblichen Einfluss auf die Außenpolitik des Staates aus (Moravcsik 1997: 531). 2. Die innerstaatlichen Struktu- ren prägen den externalisierten Politikstil. Demokratische Staaten haben demnach die grundlegende Disposition sich auch in ihrer Außenbeziehung im Allgemeinen friedlich, regelgeleitet und multilateral ausgerichtet zu verhalten (Schimmelpfennig 2010: 143ff.). 3. Eine ökonomisch wie politisch liberale Gesellschaft fördert transnationale Einbin- dung und Verflechtung der transnationalen Akteure, was durch regelmäßige Kooperation complex interdependences (Keohane/Nye: Kap. 2) und Vertrauen schafft, welches sich erneut in deren Präferenzen und schließlich externalisiert im Staatsverhalten spiegelt (Moravcsik 1997: 535). 4. Die Transparenz des demokratischen Systems sorgt zudem für Ver- trauen und löst zwischen Demokratien Kooperationshemmnisse wie das Sicherheitsdilemma auf. 5. Liberale Gesell- schaften begünstigen (somit) die Regimebildung und damit den oben angesprochenen Engelskreis von stabiler Koopera- tion. Für illiberale Gesellschaften gilt entsprechend das Gegenteil.

10 So führen Demokratien in etwa so viele Kriege wie nicht-Demokratien, nur eben nicht untereinander. Historisch sind bei weitem nicht alle hiervon Verteidigungskriege, sondern auch Eroberungs-, Kolonialisierungs- oder Entkolonialisierungskriege. Hinzu kommen eine Reihe Beinahe-Kriegen zwischen Demokratien (Krell 1997: 199- 206) sowie indirekte Kriegsbeteiligungen zuungunsten demokratisch gewählter Regierungen (vgl. Forsythe1992).

11 Wobei der ideational liberalism des subsystemischen Liberalismus mit seiner Interessensgenese basierend auf kol- lektiver Identität bereits eine Brücke schlägt zwischen rationalistischen und konstruktivistischen Ansätzen. Siehe zu Fragen rationalistischer Interessensgenese: Elster 1982, Axelrod/Cohen 1984. Ebenso der institutionelle Liberalismus mit seinen Reflexionen über die Lernprozesse der Akteure in Regimen, hierzu: Jervis 1988, Keohane 1990. Insofern kann der Konstruktivismus auch als communitarian Liberalism beschrieben werden (vgl. Wendt 1992: 394).

12 Wie diese aus sozial-psychologischer Sicht zweckrationale Entscheidungen dominieren siehe: Fiske/Taylor 1994, Nisbett/Ross 1980, Gilowich 1991 oder Wilcox/Williams 1990.

13 Hierzu siehe v.a. Bull 1977, auch Bull and Watson 1984, Gong 1984 und Buzan 1993.

14 Hierbei kann nun unterschieden werden zwischen 1. dem habituellen Handeln, als der unreflektierten Reprodukti- on standardisierter Abläufe und Praktiken, 2. dem normativen Handeln, wobei sich der Akteur in diesem Fall prinzipiell zwischen Optionen entscheiden könnte, doch den internalisierten Ideen (Werten, Wissen, Normen) seiner Bezugsge- meinschaft folgt und diese vertritt und 3. dem kommunikativen Handeln wobei hier im Falle problematisch gewordene Geltungsansprüche (Vgl. Habermas 1995) über den Diskurs nach dem angemessenen Verhalten gesucht wird (Risse 2000: 4).

15 Wobei der jeweilige Missionierungsdrang einmal von der Inklusivität bzw. Exklusivität der kollektiven Ideen abhängig sowie davon, inwieweit die Möglichkeit zum normengeleiteten Handeln von der Anerkennung eigener Ideen seitens Außenstehender abhängt.

16 In ihrer Auswirkung auf die iB entscheidende Arenen für Sozialisationsprozesse sind innerstaatlicher Institutionen oder internationale Organisationen. Immer wichtiger werden hier auch ideell motivierte, transnationale Akteursnetzwerke, welche direkt im Rahmen internationaler Regime oder über die Rückkopplung in den innerstaatlichen Raum eines Sozialisanden ein bestimmtes Werte- oder Normensystem propagieren (Vgl. Sikkink 171).

17 Der Friedensbegriff der Charta ist ursprünglich ein internationaler (Leiß 2000: 65), wovon auch die deutsche hbersetzung „Weltfrieden“ zeugt.

18 Für die Entwicklung der schrittweisen Einschränkung des ius ad bellum siehe Menk 1992 oder Kolb 2009.

19 Diese Grundsätze sind untereinander verknüpft. So wurde zur essentiellen Gewährleistung der souveränen Staatengleichheit über das absoluten Gewaltverbot das ius belli aus der äußeren staatlicher Souveränität herausgelöst (Menk 1992: 46) und die innere staatliche Souveränität, wiederum Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker (Ipsen 2004: 389- 405), wird durch das Prinzip der Nichteinmischung bzw. das Interventionsverbot gewährleistet.

20 Man unterscheidet allgemein zwischen drei Generationen der Menschenrechte. 1. Die grundlegenden Abwehr und Freiheitsrechte der „civil and political rights“, 2. die Anspruchsrechte bezüglich „ social, economical and cultural rights“ und 3. die Solidaritätsrechte der „group and collective rights“ (Vgl. Wesel 2012: 230- 245). Der völkerrechtliche Individualschutz umfasst heute im Rahmen der allgemeinen Menschenrechte sowohl (1) multilarerale Verträge mit weltweiter Verbreiterungstendenz als auch solche (2) mit exklusiv regionalem Geltungsbereich (Ipsen 2004: 774-809). Die zweite Quelle multilateral vereinbarter Individualrechte ist (3) das aus dem Kriegsrecht, ius in bello, entstandene humanitäre Völkerrecht. Wobei sich diese Rechtskreise zunehmend verzahnen (Hobe 2008: 563/ Pape 1997: 47). Als wichtigste Kodifikationen sollen genannt werden: (1) Die „International Bill of Rights“ (Vgl. VN-VV 1948: A/RES/3/217), welche heute aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (VN-VV 1948a) sowie dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte (VN-VV 1966a) und dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (VN-VV 1966b) besteht. (2) Hier sind die wichtigsten völkerrechtlich wirksamen Dokumente die Europäische Men- schenrechtskonvention (EMRK 1950), die Charta der Grundrechte der EU (EU 2009), die Amerikanische Menschen- rechtskonvention (OAS 1969), die Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker (OAU 1981) und die Ara- bische Charta der Menschenrechte (LAS 2004).(3) Im humanitären Völkerrecht existieren die zwei Säulen das „Haager Rechts“ (Haag 1907: IV), sowie des „Genfer Rechts“(Genf 1949) (Vgl. Hobe 2008: 420- 455, 540ff.). Beginnend Mitteder 90er besteht zudem die Tendenz die juristische Ahndung besonders schwerer Verstöße gegen die Menschenrechte zu zentralisieren. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildet die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes durch das Rom-Statut, welcher bei den Tatbeständen von 1. Völkermord, 2. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der 90er besteht zudem die Tendenz die juristische Ahndung besonders schwerer Verstöße gegen die Menschenrechte zu zentralisieren. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildet die Errichtung des Internationalen Strafgerichts- hofes durch das Rom-Statut, welcher bei den Tatbeständen von 1. Völkermord, 2. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 3. Kriegsverbrechen sowie 4. Aggression tätig wird (IStGH 1999: Art. 5 Ziff. 1 a-d).

21 Ein universeller Geltungsanspruch des VR kann in einer multisystemaren und multikulturellen Welt nur auf dem Konsensprinzip bestehen. Praktisch ist dies eine abgeschwächte Form des reinen Positivismus, da der Konsens zwar auf dem Willen der Rechtssubjekte basiert, allerdings weder auf die ausdrückliche Zustimmung aller Beteiligten angewiesen ist, noch eine Konsensregelung einseitig aufgelöst werden kann (Ipsen 2004 : 15ff.).

22 Nach verbreiteter Interpretation fallen heute zentralen Elemente des humanitären VR sowie der Menschenrecht- scharta und hierauf aufbauend der Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen aber auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder das Verbot der Aggression unter diese Kategorien (Kadelbach 2006: 27, Elias 1974: 185).

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Die Erklärungsreichweite der IB Großtheorien zum VR-Prinzip der Schutzverantwortung
Untertitel
Die völkerrechtliche Positivierung der humanitären Intervention zwischen realistischer Machtpolitik, liberalen Interessen und universeller Identität
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Seminar für Wissenschaftliche Politik)
Veranstaltung
Keine
Note
1,7
Autor
Jahr
2013
Seiten
65
Katalognummer
V312166
ISBN (eBook)
9783668109742
ISBN (Buch)
9783668109759
Dateigröße
1359 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erklärungsreichweite, großtheorien, vr-prinzip, schutzverantwortung, positivierung, intervention, machtpolitik, interessen, identität
Arbeit zitieren
Benno Valentin Villwock (Autor:in), 2013, Die Erklärungsreichweite der IB Großtheorien zum VR-Prinzip der Schutzverantwortung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/312166

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