Kunst und Künstler in der Literatur Franz Kafkas


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

23 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Erzählwelten
2.1. Die Welt des Zirkus’ und Varietés
2.2. Die Welt der Mäuse

3. Die Rolle des Erzählers
3.1 Ein Hungerkünstlerexperte?
3.2 Die Erzählmaus

4. Der Kunstcharakter
4.1 Die Art und Weise der Kunstfertigkeit
4.2 Das Streben nach künstlerischer Vollendung
4.3 Der Aspekt der Performanz
4.4 Das Selbstverständnis als Künstler
4.5 Betrug und Schwindel?

5. Das Verhältnis von Gesellschaft und Künstler
5.1 Das Publikum des Hungerkünstlers
5.2 Das Volk der Mäuse

6. Zusammenfassung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Die Selbstbeobachtung und das Streben nach Ruhm mischen sich in die nächtliche Arbeit und verunreinigen sie, indem sie dem Schreiben, das noch aus „Selbstvergessenheit“ hervorgehen sollte, einen abgründigen Charakter verleihen. In ihm steckt die Dämonie des Narzissmus, der die reine Kunst trübt, weil er darüber täuscht, daß sie nicht der Askese, sondern innerer Notwendigkeit entspringt.“[1]

Dieses Zitat aus dem Brief Kafkas vom 5. Juli 1922 an Max Brod enthält die Essenz des Künstlerproblems zur Zeit der Moderne: das Sich-Selbst-in-Fragestellen des Künstlers. Kafka reiht sich mit seiner Reflexion über das Wesen des Künstlertums in eine Tradition weiterer Autoren ein, die sich mit der Problematik des Künstlers, insbesondere auch im Wechselspiel mit der Gesellschaft und dem Publikum befassten. Mit Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Franz Grillparzer sollen nur einige wenige namhafte Beispiele genannt sein, die ebenjene Thematik um Kunst und Künstler auch literarisch verarbeiteten. So letztendlich auch Franz Kafka, der gar einen ganzen Sammelband „Ein Hungerkünstler“ 1924, kurz vor seinem Tode, den Künstlerfiguren widmete. Drei Erzählungen aus ebenjenem Band, „Erstes Leid“, „Ein Hungerkünstler“, sowie „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ können als Chiffre für die Problematik der Künstlerexistenz gelesen werden. Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit wird sich nun der in diesen Texten erzählerisch entwickelten Kunstdefinition angenähert und die – typisch Kafka – lediglich implizit angesprochene Problematik um Kunst und Künstlertum zu analysieren. Hierfür wird die Analyse auf zwei Erzählungen beschränkt: „Ein Hungerkünstler“, da hierbei vor allem die Künstlerperson im Vordergrund steht und „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“, aufgrund des besonderen Vorzugs einer außergewöhnlichen Reflexion über die Kunst und ihrer Definition. Somit wären beide zu behandelnden Aspekte, die Kunst und auch der Künstler, abgedeckt. Auf der Basis der Texte sollen eingangs die Erzählwelten, deren Setting, als Grundlage der Interpretation im Fokus der Untersuchung stehen. Ein weiterer wichtiger Punkt stellt im Anschluss die Analyse der Rolle des Erzählers dar. Danach wird den verschiedenen Komponenten und der Frage nach dem Kunstcharakter der beiden Künste, dem Gesang und dem Hungern, nachgegangen und dabei auch der Debatte eines möglichen Schwindels bzw. Betrugs der Künstlerfiguren Raum gegeben. Des Weiteren fällt in beiden Erzählungen dem Publikum bzw. der Gesellschaft eine besondere Funktion zu, welche ebenfalls im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden soll. Demzufolge soll das den Texten immanente Wesen der künstlerischen Existenz zu Tage treten und eine Ergründung des Stellenwertes der Kunst für den Künstler selbst und auch der Gesellschaft erfolgen.

2. Die Erzählwelten

Ausschlaggebend für eine angemessene Analyse über Kafkas Reflexion der Künstlerproblematik ist vor allem auch die Verortung der Künstlerfiguren in ihr eigenes Setting. Die Beleuchtung des Hintergrundes der Erzählwelt ermöglicht eine Erleichterung für die Entschlüsselung der Erzählung als Gesamtes, da jede Erzählwelt sicherlich auch mit Bedacht und nicht ohne Grund vom Autor ausgewählt wurde. Im Folgenden soll nun eine mögliche Begründung gefunden werden.

2.1. Die Welt des Zirkus’ und Varietés

Die Welt des Zirkus’ zeichnet sich besonders dadurch aus, dass die Präsentation von Absonderlichem, Künstlerischem und Nicht-Alltäglichem vor Publikum als Selbstverständlichkeit erscheint. In ihr befindet sich die „Sphäre der Schaustellerei, […] und damit eine Sphäre der Kunst, die zugleich mit Rand und Sonderexistenzen, mit Exzentrik und Orientierungslosigkeit konnotiert ist.“[2] Deshalb stellt ein üblicher Hungerkünstler an sich auch eine passende Attraktion für den Zirkus dar. Die Performanz des Talents der Artisten wird von den Zuschauern erwartet und im Kopf eines jeden befindet sich ein Skript der typischen Vorstellungen und Abläufe im Zirkus. Mit diesen Klischees vermag Kafka virtuos zu spielen: Bei ihm wird zwischen dem Begriff „Artist“, welcher auf einen körperlichen Bezugsbereich referiert und für gewöhnlich der Zirkuswelt angesiedelt ist und dem allgemeinen Begriff „Künstler“ mit Bezug auf geistige Fähigkeiten nicht unterschieden. Beide Aspekte fallen bei ihm in der Verwendung des Wortes Künstler zusammen, obwohl das im Fall des Hungerkünstlers nicht unbedingt – entgegen der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs - einen „Könner“ suggeriert.[3] Das, womit der Leser aufgrund der Verortung der Erzählung in einer Zirkuswelt rechnet, nämlich, dass es sich um eine Darstellung außerordentlicher Fähigkeiten handelt, wird wider erwarten in der Erzählung eben nicht gezeigt. Da der Hungerkünstler die Fähigkeiten und die Erwartungen an einen herkömmlichen Artisten nicht erfüllt, da in seinem Fall das Hungern aus Zwang und nicht aufgrund einer besonderen Leistung erfolgt, bewirkt das Setting des Zirkus’ eine Verstärkung des Kontrasts zwischen dem erwarteten Können, aber dem eigentlich aus einem Zwang entspringenden Müssen. Gleichzeitig sind der Zirkus und insbesondere der spätere Standort des Hungerkünstlers bei den Ställen für ihn sowohl ein Ort des Fluches, als auch des Segens; Er verspürt einerseits Dankbarkeit, da der Ort ihm „die Menge der Besucher“ (S. 367) ermöglicht und die Grundlage für den „Lebenszweck“ (S.366)[4] der Bewunderung bildet und auf den er andererseits auch sein Elend zurückführt, wenn ihn „die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das Vorübertragen der rohen Fleischstücke für die Raubtiere, die Schreie bei der Fütterung sehr verletzten und dauernd bedrückten.“ (S. 367). Zusammenfassend verdeutlicht der Rahmen des Zirkus und Varietés also erst die Zweischneidigkeit des Künstlertums im Hungerkünstler.

2.2. Die Welt der Mäuse

Bei „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ wird die Handlung in die Tierwelt, nämlich wie der Titel verrät, in die der Mäuse verlagert. Doch was könnte Kafka, ein bekennender Mäusefeind[5] dazu verleitet haben? Klar ist, dass sprechende Tiere sofort die Assoziation einer Fabel[6] hervorrufen, doch unterscheidet sich diese Erzählung insofern deutlich vom Prototyp einer solchen, indem sie nicht auf eine klare Lehre oder Moralformel verweist – der Sachverhalt ist hier um einiges komplexer. Entscheidende Vorteile für die Wahl der Tierwelt als Handlungsort liegen darin, dass der Leser dadurch das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel erfassen kann und somit gleichzeitig in Distanz dazu tritt.[7]

Der Clou an Kafkas Erzählung besteht allerdings darin, dass der Grad zwischen Menschenwelt und Tierwelt zwar vorhanden ist, jedoch hauchdünn erscheint. Nur wenige Andeutungen im Text verweisen darauf, dass es sich dabei nicht um eine Menschengeschichte handelt. Beispielsweise wird davon berichtet, dass Josefine bei ungenügender Hörerzahl sogar „beißt“[8], an anderer Stelle ist von „Scharen“ von Kindern die Rede, welche mit den tierischen Attributen „zischend oder piepsend“ (S. 482) versehen werden und zu guter letzt wird das Pfeifen als „charakteristische Lebensäußerung“ (S. 474) dieses besonderen Volkes beschrieben. Auf mehr Hinweise, dass es sich um ein nicht-menschliches Setting handelt, wartet bis auf den bereits erwähnten Titel der Leser vergeblich – das Wort „Maus“ wird im Übrigen kein weiteres Mal verwendet. Somit besteht vordergründig die Absicht, durch die Verlagerung des Geschehens in die Lebenswelt der Mäuse, eine Distanz herzustellen und die Handlung objektiv zu verfolgen, realiter wird man beim Lesen dadurch jedoch implizit geradezu dazu angehalten, die Reflexion auch auf die anthropologische Ebene zu übertragen. Auffällig ist in der Erzählung, dass neben den wenigen tierischen Andeutungen auch häufig sehr menschliche, mäuse-untypische Begrifflichkeiten verwendet werden, wenn etwa vom „Erdarbeiter“ (S.474) oder von „Schulen“(S. 482) die Rede ist. Die Grenzen der beiden Welten verwischen an manchen Stellen. Diese Mischung bewirkt, dass dem Leser ein höherer Erkenntnisgewinn eröffnet wird. Alt spricht der Tierwelt den Charakter einer Gegenmacht ab und bezeichnet die Erzählung treffend als „verfremdete Version anthroplogischer Anlagen, Spannungen und Konflikte“[9].

Resultierend daraus wird ersichtlich, dass die Verortung des Künstlerproblems in das jeweilige Setting verschiedene Funktionen erfüllt: Einerseits, in „Ein Hungerkünstler“, dient der Zirkus als Grundlage zur Entfaltung der Problematik, da eine Welt von Könnerschaft und Künstlertum mit der Figur des Hungerkünstlers eine Kuriosität beherbergt, welche dem herkömmlichen Verständnis einer Zirkusattraktion gänzlich widerspricht und der Definition eines Künstlers, wie noch gezeigt werden wird, womöglich gegenläufig ist. Bei „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ fungiert die Tierwelt als eine Art Spiegel der Menschenwelt, welche jedoch eine größere Distanz bewirkt und somit auf eine höhere Erkenntnisebene abzielt. Gleichzeitig wird dem Autor dadurch ermöglicht, Tabus zu überschreiten und Unsäglichkeiten mit einem Augenzwinkern zu transportieren, wie die Debatte um die Ästhetik der künstlerischen Darbietung der Maus.

3. Die Rolle des Erzählers

Wie auch die Verlagerung des Geschehens in eine entsprechende Erzählwelt erfüllt auch die Erzählstimme verschiedene Funktionen. Demzufolge soll dieser Teil der Arbeit dem Erzähler gewidmet werden, da auch diese Instanz hinsichtlich verschiedenster Punkte Aufschluss über das Erzählte geben kann und einen Beitrag zur Entschlüsselung des Kunst- und Künstlerproblems leistet.

3.1 Ein Hungerkünstlerexperte?

„In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen.“ (S.359), so beginnt die Erzählung „Ein Hungerkünstler“ und schon der erste Satz signalisiert, dass das Interesse und Wissen des Erzählers um die Angelegenheit der Hungerkunst über die eines Laien hinausgeht. Diese Aussage deutet an, dass sich der Erzähler bereits über einen sehr langen Zeitraum mit der Hungerkunst auseinandergesetzt hat. Er glänzt auch im weiteren Verlauf mit detaillierten Kenntnissen und weiß sogar mehr als „kein Eingeweihter sonst wußte“ (S.381). Doch ist er nicht nur über die äußerlichen Gegebenheiten der Zirkusattraktion Hungerkünstler im Bilde, sondern kennt auch noch die Gefühle und Gedanken dessen: „[…] denn für seine Fähigkeiten zu hungern fühlte er keine Grenzen.“ (S. 362). Man erfährt, wann der Hungerkünstler glücklich ist (vgl. S. 360) und wann er unzufrieden ist (vgl. S. 187), aber auch die Gedanken der restlichen Gesellschaft sind dem Leser zeitweise zugänglich: „[…]denn die Eingeweihten wußten wohl, daß der Hungerkünstler während der Hungerzeit niemals, unter keinen Umständen, selbst unter Zwang nicht, auch das Geringste nur gegessen hätte“ (S. 360). Der Erzähler erscheint daher heterodiegetisch und nullfokalisiert. Bonner-Hummel identifiziert diesen als Mitglied des Beamtentums und führt dies auf die Wortwahl des Erzählers zurück: weil er das Hungern als „fehlerlos“ (S. 361) bezeichnet, von einer „Laufbahn“ (S. 365) des Hungerkünstlers spricht und ihm ein „Zeugnis“ (S. 361) ausstellen muss, soll es sich hierbei um das Jargon eines Beamten handeln. Diese Beweisführung erscheint jedoch ungenügend, Bonner-Hummel verweist letztendlich darauf, dass der Beamte, da er ja aufgrund seines Berufs aus einer anderen Lebenswelt stammt, trotz Kenntnis der Hungerkunst diese dennoch nicht verstehen kann und dies der Erzählung einen ironischen Unterton verleiht[10]. Diese Annahme wird hier nicht geteilt. Die Erzählung spielt damit, dass durch die Nullfokalisierung des Erzählers und die Berichterstattung im Indikativ der Leser in Sicherheit über die Kompetenz und Zuverlässigkeit seiner Aussagen in Sicherheit gewogen wird, die allerdings bis auf eine Ausnahme am Ende niemals in direkter Rede präsentiert werden. Letztendlich entpuppt sich der Erzähler auch als ein Schwindler oder zumindest als ein Täuscher, der die Essenz der Erzählung absichtlich verschweigt oder gar nicht kennt, nämlich dass der Hungerkünstler aus Zwang hungert und nicht aufgrund einer besonderen Fähigkeit. Er gibt zumindest vor, allwissend zu sein, obwohl er es realiter nicht ist. Der Hungerkünstler offeriert schließlich selbst den Höhepunkt der Geschichte mittels direkter Rede, was sowohl in inhaltlicher wie auch formaler Weise das Unvermögen beziehungsweise den Betrug des Erzählers enthüllt:

[...]


[1] Alt, Peter-André: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie, München ²2008.

[2] Schmitz-Emans, Monika: Franz Kafka. Epoche – Werk – Wirkung, München 2010, S. 183.

[3] Vgl. Bonner-Hummel, Marie Luise: Das Künstlerproblem in Franz Kafkas Erzählungen: Eine vergleichende Studie zur Entwicklung des Problemkreises in der deutschsprachigen Literatur, Berkeley 1979, S. 16.

[4] Kafka, Franz: „Ein Hungerkünstler“, in: Hermes, Roger (Hg.): Franz Kafka. Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, Frankfurt a.M. 2011, S. 366. Weitere Zitate aus dem Primärwerk werden ab sofort in Klammern im Fließtext ersichtlich.

[5] Vgl. Lubkoll, Christine: Dies ist kein Pfeifen. Musik und Negation in Franz Kafkas Erzählung „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66, München 1992, S. 748.

[6] Definition nach Stadler, Hermann (Hg.): Texte und Methoden 13. Lehr- und Arbeitsbuch Deutsch, Berlin 1997.

[7] Vgl. Bonner-Hummel (1979), S.65.

[8] Kafka, Franz: Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, in: Hermes, Roger (Hg.) Franz Kafka. Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, Frankfurt a.M. 2011, S. 478. Weitere Zitate aus dem Primärwerk werden ab sofort in Klammern im Fließtext ersichtlich.

[9] Alt (2008), S. 653.

[10] Vgl. Bonner-Hummel (1979), S. 195f.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Kunst und Künstler in der Literatur Franz Kafkas
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Department Germanistik)
Veranstaltung
HS Franz Kafka – Positionen der Forschung
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
23
Katalognummer
V310397
ISBN (eBook)
9783668091177
ISBN (Buch)
9783668091184
Dateigröße
432 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kafka, Hungerkünstler;, Josefine, Sängerin, Volk der Mäuse, Franz, Kunst, Künstler, Kunstverständnis
Arbeit zitieren
Julia Hümmer (Autor:in), 2012, Kunst und Künstler in der Literatur Franz Kafkas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310397

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