Autismus und das Verstehen des Anderen. Theoretisch-konzeptionelle Betrachtungen zum Autismus im Anschluss an W. Dilthey und M. Scheler


Magisterarbeit, 2015

81 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Hauptteil
Erster Abschnitt - Philosophische Konzepte zum Verstehen des Anderen -
1. Das Verstehen des Anderen bei Wilhelm Dilthey
1.1. Sich Selbst, die Außenwelt, die andere Lebenseinheit
1.2. Verstehen als geisteswissenschaftliche Methode
1.3. Allgemeine Bedingungen des Verstehens anderer Menschen
1.4. Elementare und höhere Formen des Verstehen
1.4.1. Elementare Formen
1.4.2. Höhere Formen
2. Max Schelers Wahrnehmungstheorie des fremden Ich
2.1. Schelers Überlegungen zur Du-Evidenz
2.2. Nachfühlen, Nachleben, Mitgefühl
2.3. Schelers konzeptionelle und phänomenologische Kritik an Analogieschluss- und Einfühlungstheorie
2.3.1. Kritik an der Analogieschlusstheorie
2.3.2. Kritik an der Einfühlungstheorie
2.3.3. Phänomenologische Analyse der Ausgangsannahmen von Analogieschluss- und Einfühlungstheorie
2.4. Fremdwahrnehmung bei Scheler
2.5. Fremdverstehen bei Scheler
Zweiter Abschnitt - Autismus -
3. Was ist Autismus?
3.1. Historische und entwicklungspsychologische Data zum Autismus
3.2. Autismus und Verstehen des Anderen
3.3. Autismus und Intelligenz
Dritter Abschnitt - Theoretisch-konzeptionelle Betrachtungen -
4. Dilthey, Scheler und Autismus
4.1. Dilthey und Autismus
4.2. Scheler und Autismus

Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die geistigen Tatsachen haben das Merkwürdige an sich, daß sie, obgleich am innerlichsten uns gegenwärtig, doch in Dunkel gehüllt scheinen, sobald sie Gegenstand der Überlegung werden; auch kann das Auge nicht ohne weiteres jene Linien und Grenzen finden, welche sie auseinanderhalten und unterscheiden. […] Es gestaltet sich also schon allein zu einem nicht unbedeutenden Teil der Wissenschaft, die verschiedenen Vorgänge im Geiste zu erkennen, sie voneinander zu sondern, sie unter die passende Rubrik zu bringen und die ganze scheinbare Unordnung zu regeln, in welcher man sie antrifft, wenn man sie zum Gegenstand der Überlegung und Untersuchung macht.1

Nach dem Verstehen des Anderen zu fragen, hat kein leichtes Beginnen. Denn so selbstverständlich wie wir diesen Vorgang nehmen und so unbewusst wie dieser Vorgang abzulaufen scheint, in dem wir zu unseren Mitmenschen und auch Mitgeschöpfen leben, so schwer ist er auf eine klare Weise bewusst zu machen und so verwickelt erscheint er und ist mitnichten selbstverständlich und einfach ab dem Moment, in dem das Gemenge der vorfindlichen Phänomene durchschaut, erkannt und erklärt werden soll.

Wir Menschen begegnen einander im soziokulturellen Lebensraum und wir machen an einander Erfahrungen, die unser soziales Interagieren bestimmen. Es kann deshalb danach gefragt werden, was wir dabei jeweilig genau von einander erfahren, auf welche Weise und in welchem Ausmaß wir uns in unserem Beieinander von einander eigentlich gewahr werden können. Nehmen wir hierbei an allen möglichen fremden mitmenschlichen Zuständen unseren eigenen, an der Sache hängenden Teil, oder liegen uns verschlossene und unzugängliche, verborgen bleibende Bereiche anbei, die uns die Grenzen der Erfahrung des Anderen aufzeigen? In der Begegnung mit unseren Mitmenschen bekommen wir im Beieinander jeweilige Wahrnehmungsinhalte und -erlebnisse über ihre Körperhandlungen, -bewegungen und -zustände, aber auch ihre seelischen Zustände und kognitiven Denkinhalte scheinen uns nicht verschlossen dazuliegen. Wir nehmen am anderen Menschen vermittelt durch seinen Leib einerseits Tatsachen und Sachverhalte seiner (äußeren) leiblichen2 (zum Beispiel Wunden und Verletzungen) wie seiner (inneren) seelischen Zustände (zum Beispiel Schmerz, Freude, Trauer, Angst) wahr, wir verstehen andererseits aber auch Tatsachen und Sachverhalte aus dem Bereich der kognitiven Vorgänge des Anderen (zum Beispiel Wünsche und Absichten). Es scheint sich um ein kompliziertes Gemisch aus Vorgängen des Wahrnehmens und solchen des Verstehens zu handeln, in denen uns die anderen Menschen verständlich werden. Der jeweilige Umfang und das Ausmaß dieser Erfahrungen am Leben unserer Mitmenschen variiert nach den jeweiligen bestimmenden Lebenszusammenhängen und -beziehungen, in denen wir zu den jeweiligen Mitmenschen stehen, in denen wir uns je gegenwärtig selber befinden mögen, in denen sich der Andere jeweilig befinden mag.

Es handelt sich bei diesen Fähigkeiten um alltagspsychologische Konzepte, derer wir uns im Umgang mit unseren Mitmenschen bedienen, um die mentalen Zustände unserer Gegenüber zu erkennen, Vorhersagen über ihr Verhalten zu erstellen und dadurch unser eigenes Verhalten entsprechend anzupassen. Es handelt sich somit um die Fähigkeit, Annahmen und Modelle über die eigenen und die mentalen Zustände anderer zu erstellen.

Die wissenschaftliche Diskussion zur theoretischen Erfassung dieser alltags- psychologischen Konzepte ist breit gestreut und heterogen. Schon lange blicken nicht mehr nur Psychologen und Philosophen fragend auf diese Fähigkeiten, sondern auch in der Soziologie, der Soziobiologie, den Neurowissenschaften steht die Frage nach den habituellen Zusammenhängen dieser alltagspsychologischen Fähigkeiten, die mitunter als das Menschliche am Menschen betrachtet werden, unter besonderem Interesse.3

II

In seiner berühmt berüchtigten Streitschrift »L'homme machine« von 1748 formuliert der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie ein auf die mechanischen Abläufe reduziertes Bild des Menschen und legt den Rahmen für eine materialistische Anthropologie.

Der Mensch ist eine Maschine, derartig zusammengesetzt, daß es unmöglich ist, sich anfangs von ihr eine klare Vorstellung zu machen und folglich sie genau zu bestimmen. Deswegen sind alle Untersuchungen, die die größten Philosophen a priori gemacht haben, indem sie sich sozusagen gewissermaßen der Schwingen des Geistes bedienen wollten, vergeblich gewesen. So ist es nur a posteriori möglich, oder indem man gleichsam im Durchgang durch die Organe die Seele zu entwirren sucht, ich sage nicht, mit letzter Eindeutigkeit die Natur selbst des Menschen zu entdecken, aber den größten Wahrscheinlichkeitsgrad dies betreffend zu erreichen.4

De La Mettrie verwirft jede Metaphysik und apriorische Erkenntnis überhaupt. „Im Durchgang durch die Organe“ sucht er „die Seele zu entwirren“, ja die Seele respektive das Geistige überhaupt schrumpft in de La Mettries Konzept auf eine Eigenschaft der Materie zusammen, der Geist mit seinen Funktionen und Fähigkeiten wird der Materie und dem Verhältnis der Kausalität untergeordnet.

Eine Maschine sein, empfinden, denken, Gut und Böse ebenso unterscheiden können wie Blau von gelb - kurz: mit Intelligenz und einem sicheren moralischen Instinkt geboren und trotzdem nur ein Tier sein, sind also zwei Dinge, die sich nicht mehr widersprechen, als ein Affe oder ein Papagei sein und dennoch sich Vergnügen zu bereiten wissen. [...]

Ich halte das Denken für sowenig unvereinbar mit der organisch aufgebauten Materie, daß es ebenso eine ihrer Eigenschaften zu sein scheint wie Elektrizität, das Bewegungsvermögen, die Undurchdringlichkeit, die Ausdehnung etc.5

De La Mettries Ansätze haben etwas für sich, sie gehen auf die physischen Zustände des Menschen ein und versuchen von diesen her das Wesen des Menschen zu bestimmen - unter Verzicht auf metaphysische Entitäten. Doch liegt der Gedanke nahe, dass das Dasein des Menschen mit einer Reduktion auf sein physisches Dasein (Materialismus, Physikalismus) nicht recht zu umspannen sein wird. Ebenso liegen Zweifel bereit, dass der auf das Geistige reduzierende Standpunkt (Spiritualismus, Psychologismus) andererseits das menschliche Dasein in seinem Wesen wird erfassen können. Beide Sichtweisen greifen zu kurz. Sie bilden Abstrakta und verkennen die phänomenale Gegebenheit der Dinge und Tatsachen. Dem einen wie dem anderen Standpunkt liegt ein dritter gegenüber. Dieser Standpunkt gerade bemüht sich darum, das menschliche Dasein als eine psychophysische Lebenseinheit, als ein lebendiges Ganzes, das nicht auf das Psychische oder Physische reduziert werden kann, aufzufassen. Das Wesen des Menschen lässt sich, so mag sich die Einsicht finden, wenn bzw. soweit wie dieses überhaupt durch ein menschliches Nachdenken erfasst werden kann, doch nur gelingend erkennen, wenn der lebendige Zusammenhang des Geistigen und des Physischen als eben die tatsächliche Lebenseinheit Mensch konstituierend den Grund bildet, von dem aus über den Menschen nachgedacht werden soll.6

Letztlich bleibt aber ein archimedischer Punkt, von dem aus das Nachdenken eine verifizierende Sicht auf das Wesen des Menschen hätte werfen können, eben nach Ansicht des Verfassers noch ein Desiderat dieses Nachdenkens selber - Wahrscheinlichkeiten und intersubjektive Plausibilität, die mag es wohl geben. Eine Scheidelinie stellen hier die je eigenen Annahmen über die Grund legenden, vorfindlichen Entitäten dar, worauf sich die je eigene Weltanschauung errichtet, wodurch festgelegt ist, was es für den Einzelnen gibt, was von ihm gefunden und was gedacht werden kann.7

Die Frage nach den Vorgängen, die uns ein Verstehen des Anderen ermöglichen, und hierbei zuerst in ihrer engeren Form als das Verstehen von fremden Lebensäußerungen, wie sich solche der literatur-, sprach-, geschichtswissenschaftlichen und theologischen Forschung in ihrem Untersuchungsstoff darlegen, wurde eine bestimmende Frage im Zusammenhang mit der sich vollziehenden Konstitution der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert.

Der Historiker Johann Gustav Droysen (1808 - 1884), ein Vertreter der sogenannten deutschen historischen Schule, versuchte seit 1857 in wiederholten Vorlesungen zur Geschichtswissenschaft sich auch solchen Fragen zu zuwenden, durch deren Beantwortung sich diese zu damaliger Zeit noch junge bzw. sich gerade erst allmählich konstituierende Wissenschaft über ihren Gegenstand, ihre Aufgaben, Methoden und Kompetenzen genaue Rechenschaft abzulegen vermöge. Zu sehr reichte damals nach dem Empfinden der deutschen Historiker der methodologische Arm der Naturwissenschaften über den eigenen Forschungsbereich in den der Geisteswissenschaften hinein.8

In seinem „Grundriss der Historik“ versucht Droysen die Geschichtswissenschaft als System konzeptionell zu erfassen und zu beschreiben. Hierbei kommt er zu der Feststellung:

[n]ur was Menschengeist und Menschensinn gestaltet, geprägt, berührt hat, nur die Menschenspur leuchtet uns wieder auf.

Prägend, formend, ordnend, in jeder Aeusserung giebt der Mensch einen Ausdruck seines individuellen Wesens, seines Ich. Was von solchen Ausdrücken irgendwie, irgendwo vorhanden ist, spricht zu uns, ist uns verständlich.9

Die Äußerungen unserer menschlichen Gegenüber sind uns nach Droysen insofern vertraut, weil

die geistig-sinnliche Natur des Menschen jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äussert, in jeder Aeusserung innere Vorgänge spiegelt. Wahrgenommen erregt die Aeusserung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projicirend, den gleichen inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden u.s.w.10 »Menschengeist« und »Menschensinn« prägen die Spuren, die uns verständlich sind.

Um wie viel schwindet doch auch unser Verständnis für die Sachverhalte, denen nicht mehr der menschliche Geist seinen Sinn gab, so bei anderen Tierarten, bei den Pflanzen scheinbar weitestgehend. Wohl vermögen wir es, wo Sachverhalte noch den menschlichen ähneln, für Aspekte dieser Sachverhalte ein Verständnis zu entwickeln, und zumal durch ein teilnehmendes Mitleben erlangen wir tatsächlich teilweise ein klareres Verständnis für die mentalen Sachverhalte von anderen Tieren. Immer hypothetischer werden aber die Aussagen. Doch dem Eindringen in die Tatsachen und Sachverhalte der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt des Menschen gleicht dieses Verständnis nicht.

Für Droysen, und dieser Ansicht ist auch Dilthey, besteht die historische Methode vor allem darin den Untersuchungsgegenstand „forschend zu verstehen.“11 Dass in der geschichtswissenschaftlichen Erforschung am Untersuchungsgegenstand überhaupt Erkenntnisse erlangt werden können, beruht für Droysen „in der uns congenialen Art der Aeusserungen, die als historisches Material vorliegen.“12 Auch dieser von Droysen im speziellen Zusammenhang mit der historischen Forschung benannte Sachverhalt, nämlich die Kongenialität der menschlichen Äußerungen, findet sich in den Überlegungen Wilhelm Diltheys wieder, wenn dieser die Möglichkeit des Einander- Verstehens in der „Gleichförmigkeit der menschlichen Natur“ begründet sieht.13

III

In der hier vorgelegten Magisterarbeit wird ein philosophischer Erkundungsgang in einem interdisziplinären Sachverhalt zwischen dem Fachgebiet der Philosophie und dem der Psychologie vorgenommen. In dieser Ausgangslage liegt der Grund für die in dieser Arbeit verwendete Methodik. Philosophische und psychologische Sachverhalte und Argumente werden einmal jeweilig für sich entwickelt und dann in einer anschließenden Betrachtung auf einander bezogen.

Um dem Leser den Überblick und den Einstieg zu erleichtern, sei im Folgenden kurz der Aufbau der Arbeit erläutert. Die Arbeit gliedert sich allgemein in Einleitung, Hauptteil und Schlussbetrachtung.

Der Hauptteil ist in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt werden in einer texthermeneutischen Rekonstruktion zwei philosophische Konzepte zum Verstehen des Anderen, das sind zum einen die Ausführungen Wilhelm Diltheys und zum anderen die Ausführungen Max Schelers, vorgestellt. Die Darstellungen des ersten Abschnittes nehmen für sich genommen auf die Fragen im Unterkapitel I der Einleitung Bezug, wo danach gefragt wurde, was wir beim interaktiven Miteinander jeweilig genau von einander erfahren, d.h. ob wir an allen möglichen fremden mitmenschlichen Zuständen unseren eigenen Teil nehmen oder ob unzugängliche Bereiche anzunehmen sind, an denen Grenzen eines Erfahrens des Anderen aufgezeigt werden.

Die Beschäftigung mit Diltheys und Schelers Konzepten zum Verstehen des Anderen ist aber auch unter dem Gedanken einer permanenten Zurückführung in die philosophische Diskussion von Interesse. Sowohl Dilthey als auch Scheler müssen mit ihrem Nachdenken als enorm nachwirkend auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Ihre mit unter nicht leicht zu verstehenden Texte stellen für eine intensive Beschäftigung eine nie zu unterschätzende Aufgabe dar. In einer wieder aneignenden Rekonstruktion ihrer jeweiligen Ansichten liegt also eine wertvolle philosophie- geschichtliche und nicht geringe texthermeneutische Aufgabe. Zumal gezeigt werden kann, dass die Texte Wilhelm Diltheys und Max Schelers weiterhin sehr gute erkenntnistheoretische und phänomenologische Betrachtungen zum Verstehen des Anderen darstellen, mit denen eine Beschäftigung auch im 21. Jahrhundert lohnt.

Im zweiten Abschnitt wird der Leser mit der Autismus-Spektrum-Störung bekannt gemacht. Dies soll dem mit Autismus nicht vertrauten Leser als Handreiche dienen, um die Ausführungen im dritten Abschnitt besser verfolgen zu können. Zu diesem Zweck werden in deskriptiver Darstellungsweise historische und entwicklungspsychologische Data und Sachverhalte zusammengestellt. Eine psychologisch vollständige Darstellung zum Themenfeld Autismus stellt der zweite Abschnitt nicht dar. Unter Autismus, dies sei schon an dieser Stelle ausgeführt, ist ein entwicklungspsychologisches Störungsfeld zu verstehen, das sich vor Allem, neben anderen Syndromen, in Mängeln hinsichtlich der sozio-emotionalen Kommunikation, im aktiven und passiven Sinne, kennzeichnet. Autisten haben mit den alltagspsychologischen Fähigkeiten, wie sie im Unterkapitel I der Einleitung allgemein Erwähnung fanden, ihre Schwierigkeiten. Autistische Menschen scheinen ihre Gegenüber nicht als psychische Wesen wahrzunehmen.

Im dritten Abschnitt werden theoretisch-konzeptionelle Betrachtungen auf den Autismus versucht. Es wird gezeigt, wie Teile einerseits der Diltheyschen und andererseits der Schelerschen Überlegungen zum Fremdverstehen als Hintergrund für Zusammenhänge der Autismus-Spektrum-Störung formalisiert werden können. In Ansätzen wird herausgearbeitet, wie beide Konzepte es vermögen die Symptomatik der autistischen sozial-kommunikativen Dysfunktion mit dem eigenen Instrumentarium zu systematisieren. Sie tragen damit zu einem Verständnis der Autismus-Spektrum-Störung bei.

Die Schlussbetrachtung bringt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse.

Hauptteil

Erster Abschnitt - Philosophische Konzepte zum Verstehen des Anderen -

Im nun folgenden ersten Abschnitt des Hauptteiles werden zwei philosophische Positionen rekonstruiert. Dies werden zum einen die Überlegungen Wilhelm Diltheys zu den Möglichkeiten und Bedingungen des Verstehens fremder Lebensäußerungen und zum anderen wird dies die Wahrnehmungstheorie des fremden Ich von Max Scheler sein.

1. Das Verstehen des Anderen bei Wilhelm Dilthey

Der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833 - 1911) muss zu den wichtigsten deutschsprachigen Philosophen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gezählt werden. Seine Forschungen reichen von Überlegungen zur Konstitution und Methodologie der Geisteswissenschaften, über das hermeneutische Verstehen als der genuinen Methode der Geisteswissenschaften, bis zu Ausarbeitungen über eine verstehende Psychologie.14 Dilthey kann als Vertreter einer hermeneutischen Philosophie bezeichnet werden, aber auch der philosophischen Richtung der Lebensphilosophie wird er mitunter zugerechnet, sowie als Historist bezeichnet.15

Das Nachdenken Wilhelm Diltheys ist vor allem durch das Bestreben gekennzeichnet, in seinen Überlegungen auf das Ganze des menschlichen Daseins als eines lebendigen Daseins blicken zu wollen. In kritischer Hinsicht auf die Ausführungen der englischen Empiristen (Locke, Hume) und Kants schreibt er 1883 in seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften«, weil, wie er konstatiert, „in den Adern des erkennenden Subjekts, das [… diese] konstruierten, […] nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft der Vernunft als bloßer Denktätigkeit“ rinne, dass ihn selbst aber „historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin [führte], diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis16 und ihrer Begriffe […] zugrunde zu legen“, darum halte er „[…] jeden Bestandteil des gegenwärtigen abstrakten, wissenschaftlichen Denkens […] an die ganze Menschennatur […].“17 Die ganze Menschennatur ist sein Bezugspunkt, denn die von diesem Punkt absehende wissenschaftliche Betrachtung hantiert mit einem künstlichen Gebilde, mit einer Abstraktion. Ihm ist dabei durchaus bewusst, dass das wissenschaftliche Nachdenken zu solchen Mitteln greifen muss, um in der vorfindlichen Welt einen fassenden Blick auf und in die Phänomene zu bekommen. Aber es muss dabei der Gedanke leitend bleiben, dass es sich um eine gedankliche Leistung zum Zwecke einer wissenschaftlichen Erörterung handelt, die künstlich vom großen Lebenszusammenhang losgelöst, abstrahiert worden ist. Deshalb müssen diese Erkenntnisse wieder auf den ganzen Lebenszusammenhang, da sie nur in ihm und für diesen eine erklärende Relevanz besitzen, zurück bezogen werden.

Für Wilhelm Dilthey steht das gesamte Dasein der Tatsachen, wie er in seinen »Beiträge[n] zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht« schreibt, „unter der allgemeinsten Bedingung“, dass diese die Tatsachen eines Bewußtseins sind, hierdurch zeige sich der Satz der Phänomenalität als der oberste Satz der Philosophie.18 So kann er konstatieren:

jedes äußere Ding ist mir nur als eine Verbindung von Tatsachen oder Vorgängen des Bewußtseins gegeben; Gegenstand, Ding ist nur für ein Bewußtsein und in einem Bewußtsein da19 ; […] diese Kugeln im unermeßlichen Raume, ja dieser Raum selbst, in dem sie schweben, existiert für mich nur, weil und sofern das alles Tatsache meines Bewußtseins ist.20

1.1. Sich Selbst, die Außenwelt, die andere Lebenseinheit

Diese Voraussetzung (das Vorfindliche ist Tatsache eines Bewußtseins) führt zu der formalen Konsequenz, dass „nur in dem Bewußtseinsakte […] das Gegenüberstellen, das Trennen von Selbst und Objekt da[sei].“21 Für Dilthey sind Bewußtseinsakte hierbei aber eben nicht nur Denkakte - das Ganze der Menschennatur umfasst neben dem Denken22 eben auch Fühlen und Wollen - und folgerichtig erklärt er „den Glauben an die Außenwelt nicht aus einem Denkzusammenhang, sondern aus einem in Trieb, Wille und Gefühl gegebenen Zusammenhang des Lebens.“23 Die Unterscheidung von Selbst und Objekt, von Innen und Außen in unserer Wahrnehmung ist nicht als ein rein rationaler Vorgang anzusehen, sondern entspringe, so Dilthey, aus dem »Eigenleben«. Dieses »Eigenleben« konstituiert sich auf Trieb, Gefühl und Willenshandlung und dessen Außenseite wird durch den Körper gebildet.24 Unter dem Begriff »Eigenleben« versteht Dilthey somit ein Gemenge von inneren Vorgängen, die innerhalb des eigenen Bewußtseins unterschieden werden können und als „miteinander in einer Struktur des Seelenlebens verbunden“ gedacht werden.25 Hierbei differenziert sich das Selbst zu einer Außenwelt, indem neben dem Impuls des eigenen Willens mit seinen Handlungs- und Begehrsrichtungen auch Widerstandsempfindungen und Hemmungen gegen diese eigenen Willenshandlungen auftreten -„[e]in Willens- und Gefühlszustand des Erleidens, des Bestimmtwerdens wird erfahren.“26 Darin, im Wollen und in der Widerstandsempfindung - im Willen, der von mir abhängt, und in der Widerstandsempfindung, in der ein von mir Unabhängiges erlebt wird -, erschließe sich uns eine Realität der Außenwelt. Diese Realität wird als ein lebendiger Zusammenhang erlebt. Ein Bewußtsein über eine reale Außenwelt zu haben, erfolgt für Dilthey damit über einen vermittelnden Vorgang; die Vorstellung „einer unmittelbaren Willenserfahrung des Widerstandes oder überhaupt die psychologische Fiktion von unmittelbarem Gegebensein irgendeiner Art“ weist er zurück.27

Hier muss nun weiter gefragt werden, wie für Dilthey nach seiner Theorie der Realsetzung von Außenwelt in dieser Außenwelt andere Lebewesen in einer deutlichen Abgrenzung zum eigenen Selbst erfahren werden?

Grundsätzlich unterscheidet sich der erste Erfahrungsschritt gegenüber anderen Lebewesen nicht von den Erfahrungen zu unbelebten Dingen - hier wie dort erfolgt dieser Vorgang über die eigenen Willensintentionen und zu diesen korrespondierend erlebte Widerstandsempfindungen, nur dass in den wahrgenommenen Widerstands- empfindungen, in einer Art Steigerung oder Verstärkung der Wahrnehmungsinhalte, nun ein von meinem Selbst unabhängiger Wille mit eigen korrelativen willkürlichen Bewegungen erlebt wird. Dieses Erleben einer anderen Willenseinheit führt zu „seelischen Vorgängen in dem Auffassenden“, so Dilthey, „die eine Verstärkung der Überzeugung von Realität zur Folge haben.“28 In der Begegnung mit den fremden Willenseinheiten werden Gefühls- und Willensvorgänge, die eine Färbung und Verstärkung der Realität der anderen Lebenseinheit bewirken und die als Herrschaft, Abhängigkeit und Gemeinschaft grob kategorisiert werden können, erlebt - in diesen gelebten und erlebten Zusammenhängen wird in der Außenwelt „das Du erlebt, und auch das Ich wird hierdurch vertieft. Ein beständiger leiser Wechsel von Druck, Widerstand und Förderung läßt uns fühlen, daß wir niemals allein sind.“29 Auf dieser elementaren Erfahrungsebene anhebend verstärkt sich die Erfahrung des fremden Anderen, mithin zu einem selbständigen individuellen Selbstzweck analog zu der Erfahrung des eigenen Ich, durch weitere Vorgänge, die Dilthey als Vorgänge eines Nachbildens und Nachlebens der fremden seelischen Zustände versteht und welche sich den eigenen als verwandt und gleichartig zeigen. Es folgen „zu den Erfahrungen von natürlichen Schranken des Willens am Anderen die höher gelegenen sittlichen Erfahrungen“, durch diese wird der Andere als Selbstzweck individualisiert und anerkannt.30

1.2. Verstehen als geisteswissenschaftliche Methode

Wird nun versucht, auf die Vorgänge beim Verstehen eines anderen Menschen zu blicken, so wie Dilthey sich den Verlauf dieses Vorganges erklärt, so muss deutlich hervorgehoben werden, dass das Nachdenken Diltheys vornehmlich darin sein Ziel hatte, den sich konstituierenden Geisteswissenschaften durch ein ihnen originäres Stoffgebiet eine klare Abgrenzung zum Stoffgebiet der Naturwissenschaften und diesen gegenüber insbesondere eine erkenntnistheoretisch-methodologische Grundlegung zu erbringen.

Der Forschungsgegenstand, an dem die Naturwissenschaften ihre Aussagen finden, kennzeichnet sich für Dilthey darin, „daß jene zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten“; darum entstehe ein Zusammenhang der Tatsachen dieser Wissenschaftsgruppe nachträglich darin, dass dieser Zusammenhang „in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, vermittels einer Verbindung von Hypothesen […] gegeben“ sei.31 Auf eine ganz andere Weise denkt sich Dilthey die Gegebenheit der Tatsachen, über welche die Geisteswissenschaften handeln. Die Tatsachen der geisteswissenschaftlichen Gruppe treten „in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter“ auf; ihnen liegt „der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde.“32 Den wesentlichen Unterschied zwischen beiden Wissenschaftsgruppen sieht er demzufolge darin, dass sich die naturwissenschaftliche Forschung primär um die Erklärung der Phänomene in der vorfindlichen Außenwelt, die über die äußere Wahrnehmung erfahren werden, bemühe, wogegen die Gruppe der Geisteswissenschaften zuallererst ihren Untersuchungsgegenstand, der primär in einer inneren Wahrnehmung gegeben ist, zu verstehen strebe.33 Aufgrund dieser Unterscheidung der Untersuchungsgegenstände und Methoden der beiden Wissenschaftsgruppen kommt Dilthey zu der dichotomen erkenntnistheoretischen Gliederung: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“34 »Erklären« und »Verstehen« seien somit zwei verschiedene Erkenntnis verschaffende Vorgänge. Der Begriffsinhalt des Verstehens liegt Dilthey in entscheidender Weise vor. Das Verstehen kennzeichnet einen Vorgang, in dem die eigene seelische Individualität genauso wie die fremde zur Erkenntnis gebracht wird. In der Objektivation dieser subjektiven Vorgänge beim Verstehen des Anderen läge die Möglichkeit der geisteswissenschaftlichen Forschung begründet. Für die Geisteswissenschaften ist es daher von größter Bedeutung, dass der Vorgang des Verstehens einer fremden Seeleneinheit zu objektiver Gewissheit geführt werden kann. Die Geisteswissenschaften sehen sich in ihrem Erkenntnisbemühen doch vor dem Problem, dass sich die Menschheit als ein Erkenntnisobjekt erweist, das aus verschiedenen Individuen besteht, die alle ihren ganz eigenen entwicklungsgeschichtlichen Seelenzusammenhang haben. So schreibt Dilthey:

Der einzelne Mensch in seinem auf sich selber ruhenden individuellen Dasein ist ein geschichtliches Wesen. Er ist bestimmt durch seine Stelle in der Linie der Zeit, seinen Ort im Raum, seine Stellung im Zusammenwirken der Kultursysteme und der Gemeinschaften.35 Dieser von Individuum zu Individuum stets verändert sich entwickelnde so eigene Seelenzusammenhang stellt sich methodisch darin als ein erkenntnistheoretisches Problem heraus, dass an ihm und seinen Erzeugnissen nicht nur und eben nicht zuerst Gleichförmigkeiten analog zu den Ergebnissen des Naturerkennens festgestellt werden können, sondern dass zunächst nur das »Singulare« und »Individuale« erfasst werden kann. Der geisteswissenschaftlichen Gruppe muss es bei ihren Aussagen oft allein darin genüge sein, dass sie in bestimmten Fällen nur Singularia darzustellen vermag, dass ein generalisierendes Voranschreiten im Verständnisvorgang ausgeschlossen bleiben kann. Den Begriffsinhalt des Vorganges des Verstehens subsumiert Dilthey unter „den Allgemeinbegriff des Erkennens“ - Erkennen sei ein Vorgang, „in welchem ein all- gemeingültiges Wissen angestrebt wird.“36 Das Verstehen definiert er als einen Vorgang, „in welchem aus sinnlich gegebenen Äußerungen seelischen Lebens dieses zur Erkenntnis kommt“, obwohl diese sinnlichen Äußerungen verschieden sein können, muss das Verstehen dieser Ausdrücke auf gemeinsamen Merkmalen dieser Äußerungen gründen.37 Letztlich nennt er den Verstehensvorgang, wie er dann kanonisiert in der Wissenschaft ausgeführt wird, nämlich „[d]as kunstmäßige Verstehen von schriftlich fixierten Lebensäußerungen“, ein »Auslegen« und »Interpretieren«.38 Diese Vorbemerkungen erschienen nötig, um darzulegen, dass Dilthey nicht primär an einer speziellen Theorie des Fremdverstehens gearbeitet hat, sondern vornehmlich darum bemüht war, den Vorgang des Verstehens als einer geisteswissenschaftlichen und zu objektiver Erkenntnis führenden Methode zu konkretisieren. Dennoch lässt sich von diesem Bemühen im Dienste einer geisteswissenschaftlichen Methodologie ein Zusammenhang von Gedankengängen herauslösen, in denen Diltheys Verständnis von den Vorgängen beim Verstehen anderer Menschen fassbar wird.

1.3. Allgemeine Bedingungen des Verstehens anderer Menschen

Das Verstehen anderer Menschen (und Lebewesen überhaupt) muss nach Dilthey als ein existentialer Vorgang angesehen werden, da wir in unseren Handlungen, Absichten, Plänen, in unserem Lebensvollzug in der Gemeinschaft mit unseren Mitmenschen davon abhängig sind, dass wir unsere Gegenüber verstehen können, dass wir für ihre Handlungen, Absichten und Pläne ein Verständnis erlangen - Verstehen ist eine Zweckhandlung. Eine Gesellschaft, in der einander nicht verstehende Wesen lebten, scheint unmöglich. Das Leben legt von sich aus die Notwendigkeit für ein Verstehen der Lebensäußerungen anderer Menschen und die Möglichkeit dazu muss als mitgegeben vorausgesetzt werden.

Für Wilhelm Dilthey ist Leben, ist der Lebensverlauf ein einheitlicher Zusammenhang des Seelenlebens.39 Dieser Zusammenhang wird unmittelbar als ein solcher Zusammenhang erlebt. Erst im Nachhinein, im reflektierenden Zurücklehnen wird dieser seelische Zusammenhang aufgespalten, in Teilen vorgestellt und gegliedert. Im Erlebnis, im Erleben ist die geistige Welt, das ist die geschichtlich-gesellschaftliche Welt, die der Mensch sich erschafft, für diesen als ein lebendiger Zusammenhang da.

Geistige Tatsachen sind dem Menschen, nach Dilthey, primär durch die innere Erfahrung gegeben. Auf der Grundlage dieser inneren Erfahrung vollzieht sich ein Vorgang des Selbstverstehens, ein Treten in Bekanntschaft mit sich selbst. Machen wir an Objekten der Wahrnehmung die Erfahrung von willkürlicher Bewegung, dann schließen wir auf eine wie auch immer geartete Beseelung im Gegenüber, denn nur in den willkürlichen Bewegungen, so Dilthey, können wir „einen Schluß auf seelisches Leben machen.“40

Hinsichtlich dieses Schließens auf die Beseelung des Anderen meint Dilthey, dass dieser Schluss, mittels dessen wir ein seelisches Leben im Gegenüber setzen, ein Schluss sei, der in der logischen Form des Analogieschlusses dargestellt werden kann, bzw. einem solchen logischen Schlussschema äquivalent sei. Dilthey äußert sich diesbezüglich stets vorsichtig bzw. ambivalent. Einerseits benutzt er die Vorstellung des Schließens auf Grundlage einer Analogieannahme als des logischen Charakters dieses Vorganges, andererseits bezeichnet er diesen Vorgang nur als einem Analogieschlussschema äquivalent. Nur in einem nachträglichen Analyseverfahren sei dieser Vorgang dann als ein solcher Schluss aufzufassen.41

Um aber zu einem Verständnis, zu einem Verstehen des Anderen zu kommen, wird eine Transposition unseres eigenen Selbst in den Anderen vollzogen - eine Hineinverlegung des an uns erlebten seelischen Zusammenhanges in den Anderen werde vollzogen. Somit bildet für Dilthey „[d]er seelische Zusammenhang den Untergrund des Erkenntnisprozesses […].“42 Dieses Hineinverlegen in den Anderen versteht Dilthey als ein Nachbilden des Seelenlebens des Anderen. Dieses Nachbilden erfolgt nach dem Muster der eigenen Erlebnisse. Diese eigenen Erlebnisse werden als ein lebendiger Zusammenhang erfahren und im Nachbilden versuchen wir, analog zu diesen eigen Erlebnissen, den seelischen Zusammenhang des Anderen zu verstehen.43 Wir können dies, weil uns in der geistigen Welt der Qualität nach nichts wirklich Fremdes begegnen kann - Dilthey spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Gleichförmigkeit der menschlichen Natur.“44 Die Unterschiede des seelischen Zusammenhanges der Menschennatur liegen nur in einem quantitativen Verhältnis vor - „und hierauf beruhen dann […] die Unterschiede der Individualität.“45 Das Auffassen der eigenen Erlebnisse und das Nachbilden der eigenen Erlebnisse durch Transpositionierung in dem Anderen hängt in seinem komplexen Vorgehen von unseren ganzen Gemütskräften ab. Daher kann Dilthey sagen:

[w]ir erklären die Natur durch rein intellektuelle Prozesse, aber wir verstehen [scil. uns selbst und den Anderen] durch das Zusammenwirken aller Gemütskräfte in der Auffassung. […] Eben daß wir im Bewußtsein von dem Zusammenhang des Ganzen leben, macht uns möglich, einen einzelnen Satz, eine einzelne Gebärde oder eine einzelne Handlung zu verstehen.46

In diesen Zusammenhang gehört ein Gedanke Diltheys, und er nimmt dabei Gedankengänge Max Schelers, nämlich des »Mit-einander-fühlens«47, vorweg, wenn er schreibt:

daß wir fremde Zustände in einem gewissen Grade wie die eigenen fühlen, uns mitfreuen und mittrauern können, zunächst je nach dem Grade der Sympathie, Liebe oder Verwandtschaft mit anderen Personen.48

[...]


1 Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, (12. Auflage) Hamburg 2005, Seite 11.

2 Die inneren leiblichen Zustände bleiben verborgen. Vgl. das Scheler-Kapitel (2.) in dieser Arbeit.

3 Einen Überblick zum interdisziplinären Forschungsbemühen gewähren die Beiträge in den folgenden Herausgaben, siehe: Stephan, Achim & Walter, Sven (Hrsg.), Handbuch Kognitions- wissenschaft, Stuttgart 2013. Förstl, Hans (Hrsg.), Theory of Mind, Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens, Heidelberg 2007. Breyer, Thiemo (Hrsg.), Grenzen der Empathie, München 2013.

4 De la Mettrie, Julien Offray, Die Maschine Mensch, Hamburg 2009, Seite 27. [Hervorhebungen im Original.]

5 Ebd., Seite 125

6 Der Verfasser zählt die in dieser Arbeit näher besprochenen Autoren Wilhelm Dilthey und Max Scheler diesem dritten Standpunkte zugehörig.

7 Vgl. zu dem Gedanken dieses Absatzes die Ausführungen von Thomas Samuel Kuhn (ders.; Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, (zweite revidierte Auflage) Frankfurt am Main 1976), sowie die Ausführungen von Paul Feyerabend (ders., Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main 1986).

8 Vgl. dazu: Droysen, Johann Gustav, Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft. Sowie: ders., Natur und Geschichte. Beide Texte sind als Anhang abgedruckt in: ders., Grundriss der Historik, (zweite durchgesehene Auflage) Leipzig 1875 (hier verwendete Ausgabe: Reprint des Originals von 1875, Paderborn 2011). Und: Windelbandt, Wilhelm, Geschichte und Naturwissenschaft (1894), in: ders., Präludien, Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, zwei Bände, (neunte, photomechanisch gedruckte Auflage) Tübingen 1924, 2. Band Seite 136-160. Vgl. als Gegenkonzept vor allem das an den naturwissenschaftlichen Methoden ausgerichtete Sach- und Methodenkonzept von John Stuart Mill (ders., Zur Logik der Moralwissenschaften (1843), Frankfurt am Main 1997).

9 Droysen, Johann Gustav , Grundriss der Historik , (zweite durchgesehene Auflage) Leipzig 1875 (hier verwendete Ausgabe: Reprint des Originals von 1875, Paderborn 2011), Seite 9.

10 Ebd.

11 Droysen, Johann Gustav, Grundriss der Historik, a. a. O., Seite 9. Vgl. auch: „Die ethische, die geschichtliche Welt verstehen wollen heisst vor Allem erkennen, dass sie weder doketisch, noch nur Stoffwechsel ist.“ (ders., Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: a. a. O., Seite
62.)

12 Droysen, Johann Gustav, Grundriss der Historik, a. a. O., Seite 9.

13 Vgl. Kapitel 1.3., Seite 22.

14 Vgl. Lessing, Hans-Ulrich, Wilhelm Dilthey, Eine Einführung, Köln etc. 2011, Seite 9.

15 Vgl. ebd., Seite 105. Zum Konzept »Lebensphilosophie« vgl. auch Scheler, Max, Versuche einer Philosophie des Lebens, Nietzsche - Dilthey - Bergson, in: ders., Gesammelte Werke Band III, hrsg. v. Maria Scheler, (5. Auflage) Bern 1972, Seite 311 - 340.

16 Mit seiner »Einleitung« versucht er den Geisteswissenschaften eine erkenntnistheoretisch- methodologische Grundlegung zu bringen.

17 Dilthey, Wilhelm, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883), in: ders., Gesammelte Schriften Band I, hrsg. v. Bernhard Groethuysen, (7. Auflage) Stuttgart 1973, Seite XVIII.

18 Dilthey, Wilhelm, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890), in: ders., Gesammelte Schriften Band V, hrsg. v. Georg Misch, (8. Auflage) Stuttgart 1990, Seite 90 - 138, Seite 90.

19 Ebd.

20 Ebd., Seite 91

21 Ebd.

22 Denken = Vorstellen, etc.

23 Ebd., Seite 95

24 Ebd., Seite 96

25 Ebd., Seite 95

26 Ebd., Seite 102

27 Ebd., Seite 103, vgl. die Ausführungen zu Max Scheler in dieser Arbeit.

28 Ebd., Seite 110

29 Ebd., Seite 111

30 Ebd.

31 Dilthey, Wilhelm, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in: ders., Gesammelte Schriften Band V, hrsg. v. Georg Misch, (8. Auflage) Stuttgart 1990, Seite 139 - 240, Seite 143.

32 Ebd., Seite 143f

33 Vgl. auch die Konzeption Wilhelm Windelbands, der den Gegensatz unter den Begriffen »nomothetisch« (Naturwissenschaft) und »idiographisch« (Geisteswissenschaft) denkt. „So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgeschehens oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt […]. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren was immer ist, diese was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf - in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen idiographisch.“ (ders., Geschichte und Naturwissenschaft (1894), Seite 145, in: ders., Präludien, Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, zwei Bände, (neunte, photomechanisch gedruckte Auflage) Tübingen 1924, 2. Band Seite 136 - 160.)

34 Ebd., Seite 144

35 Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften Band VII, hrsg. v. Bernhard Groethuysen, (8. Auflage) Stuttgart 1992, Seite 77 - 88, Seite 135.

36 Dilthey, Wilhelm, Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: ders., Gesammelte Schriften Band V, hrsg. v. Georg Misch, (8. Auflage) Stuttgart 1990, Seite 317 - 338, Seite 332.

37 Ebd.

38 Ebd.

39 Edmund Husserl (1859 - 1938) sieht in diesem Gedankengang „[d]ie große Bedeutung der Diltheyschen Ausführungen“. (ders., Phänomenologische Psychologie (Husserliana, Band IX), hrsg. v. Walter Biemel, Den Haag 1968, Seite 10.)

40 Dilthey, Wilhelm, Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), in: ders., Gesammelte Schriften Band V, hrsg. v. Georg Misch, (8. Auflage) Stuttgart 1990, Seite 241 - 316, Seite 249.

41 Vgl. Dilthey, Wilhelm, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890), in: a. a. O., Seite 110: „Diese Vorgänge lassen sich als Analogieschlüsse darstellen, sind sonach in ihrem Ergebnis solchen Schlüssen äquivalent, gleichviel welches im einzelnen Falle ihre psychologische Beschaffenheit ist.“ Vgl. auch: ders., Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in: a. a. O., Seite 198: „Wir fassen das Innere derselben [scil. der fremden Person] auf. Dies geschieht durch einen geistigen Vorgang, welcher einem Schlusse der Analogie äquivalent ist. Die Mängel dieses Vorgangs sind dadurch bedingt, daß wir nur durch Übertragung unseres eigenen Seelenlebens ihn vollziehen.“ Vgl. auch: ders., Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), in: a. a. O., Seite 277: „Wir können zunächst das Verstehen eines fremden Zustandes als einen Analogieschluß auffassen, der von einem äußeren physischen Vorgang vermittels seiner Ähnlichkeit mit solchen Vorgängen, die wir mit bestimmten inneren Zuständen verbunden fanden, auf einen diesen ähnlichen inneren Zustand hingeht. […] Und die Grenze unseres Verständnisses liegt immer da, wo wir nicht mehr aus dem Zusammenhange heraus nachbilden können. Aber die Glieder des Nachbildungsvorgangs sind gar nicht bloß durch logische Operationen, etwa durch einen Analogieschluß, miteinander verbunden. Nachbilden ist eben ein Nachleben.“ Vgl. dazu ferner: Droysen, Johann Gustav, a. a. O., Seite 10: „Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induction wie Deduction.“

42 Dilthey, Wilhelm, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in: a. a. O., Seite 151.

43 Vgl. Dilthey, Wilhelm, Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), in: a. a. O., Seite 264.

44 Dilthey, Wilhelm, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in: a. a. O., Seite 229.

45 Ebd.

46 Ebd., Seite 172

47 Vgl. Kap. 2.2.

48 Dilthey, Wilhelm, Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), in: a. a. O., Seite 277.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Autismus und das Verstehen des Anderen. Theoretisch-konzeptionelle Betrachtungen zum Autismus im Anschluss an W. Dilthey und M. Scheler
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Philosophie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
81
Katalognummer
V309266
ISBN (eBook)
9783668075979
ISBN (Buch)
9783668075986
Dateigröße
768 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
autismus, verstehen, anderen, theoretisch-konzeptionelle, betrachtungen, dilthey, scheler
Arbeit zitieren
André Kühn (Autor:in), 2015, Autismus und das Verstehen des Anderen. Theoretisch-konzeptionelle Betrachtungen zum Autismus im Anschluss an W. Dilthey und M. Scheler, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309266

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