Auseinandersetzung mit dem Begriff der Weisheit in Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“


Hausarbeit, 2013

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung.

2. Annährung an den philosophischen Begriff der Weisheit

3. Nathans Klugheit
3.1 Der reiche Kaufmann.
3.2 Umsichtiges Handeln.

4. Wissen und Wahrheit
4.1 Gelehrsamkeit und Erfahrungswissen.
4.2 Bewusstes Nichtwissen.

5. Nathan und das Göttliche.
5.1 Ergebenheit in Gott
5.2 Praktische Vernunft statt religiöse Schwärmerei
5.3 Menschlichkeit und Religion.
5.4 Zwischen Judentum und Vernunftreligion.

6. Fazit

Literaturverzeichnis.

1. Einleitung

Das Drama „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), das zu Zeiten der europäischen Aufklärung 1779 veröffentlicht und 1783 in Berlin uraufgeführt wurde, thematisiert die Forderung nach Humanität und die Idee der Toleranz. Ganz im Sinne der Aufklärung macht Lessing die Autonomie des Subjekts und die Idee der aufklärerischen Rationalität zum Gegenstand dieses Stücks. Hintergrund des Dramas stellt der so genannte Fragmentenstreit dar, einen Konflikt Lessings mit dem Theologen Johann Melchior Goeze, wegen welchem gegen Lessing ein Teilpublikationsverbot verhängt wurde. Diese Auseinandersetzung, welche als die wichtigste theologische Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts betrachtet wird, stellte eine Kontroverse zwischen der orthodoxen lutherschen Kirche und den Anhängern der europäischen Aufklärung dar. Als Reaktion auf die Teilzensur integrierte Lessing seine Ansichten bezüglich dieser Kontoverse in das literarische Stück „Nathan der Weise“. Sowohl unmittelbar vor als auch unmittelbar nach dessen Fertigstellung arbeitete Lessing an seinem philosophischen Hauptwerk „Die Erziehung des Menschgeschlechts“, welches in einer engen Verbindung zum Drama steht, wie im Laufe dieser Arbeit noch gezeigt werden soll.

Schon im Titel des Dramas „Nathan der Weise“ wird dem Protagonisten Weisheit zugesprochen. Doch was ist das überhaupt, Weisheit? Und wie erlangt man diese? Ist Nathan tatsächlich weise? Und wenn ja, was macht ihn zu einem Weisen und wie äußert sich die Weisheit in seinem Handeln? Schlägt man den Begriff Weisheit in einem handelsüblichen Wörterbuch nach, findet man als Bedeutung meist nur Stichworte wie Reife, Gelehrsamkeit oder Klugheit, die einer weiteren Bestimmung bedürfen und den Begriff nicht in seiner ganzen Fülle erfassen. Mit einem Blick auf den philosophischen Begriff der Weisheit wird sich zeigen, dass die Bedeutung des Begriffs nicht leicht zu fassen ist, und dennoch sollen Fragen nach der Form und der Funktion der Weisheit Nathans beantwortet werden. Da schon im Titel die Weisheit Nathans benannt wird, ist zu untersuchen, ob sich die Wahl des Titels durch die inhaltliche Bestimmung des Weisheitsbegriffs besser verstehen und rechtfertigen lässt. Wie groß ist die Bedeutung der Weisheit für die Charakterisierung des Protagonisten und in welchem Verhältnis steht sie zum Handlungsverlauf und zum Thema des Dramas? Diesen Fragen und dem Zusammenhang zwischen Nathans Weisheit und den Ansichten Lessings über Wahrheit, Vernunft und Glaube soll im Laufe dieser Arbeit, nach einer philosophisch-historischen Bestimmung des Weisheitsbegriffs, Beachtung geschenkt werden.

2. Annährung an den philosophischen Begriff der Weisheit

Der Begriff Weisheit (griech. sophia) ist für die Philosophie von zentraler Bedeutung. Derjenige, der sich einen Philosophen nennt, behauptet von sich des Wortes nach, ein Freund der Weisheit zu sein, und so hat jeder Philosoph auch ein Interesse an der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs. Es gibt keine einvernehmliche Definition von Weisheit in der Philosophie, sondern verschiedenste Bestimmungen und Akzentuierungen, die nur teilweise miteinander vereinbar sind. Es lassen sich jedoch Überlegungen finden, welche von der Antike bis hin zur Neuzeit immer wieder auftauchten und so zum Verständnis des Begriffs beitragen.

Ursprünglich bezeichnet das griechische Wort sophia, das Wissen und die Fertigkeit einer Person, durch welche diese sich von anderen abhebt. Auf diese ursprüngliche Bedeutung des Begriffs stützt sich die Annahme Heraklits, dass die weisheitsliebenden Männer Vieles wissen müssen.[1] Platon hingegen nimmt mit Blick auf seinen Lehrer Sokrates, der die Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt seiner Weisheitslehre rückt, eine kritische Position gegenüber der Weisheit ein, indem er sagt, dass die Weisheit des Philosophen in seiner bewussten Unwissenheit liegt.[2] Der Weise ist demnach der, der erkennt, dass er nichts weiß, und so eine demütige Haltung einnimmt, welche sich auf Selbstreflektion stützt. Für Platon vereint sich in der menschlichen Weisheit das theoretische und praktische Wissen unter dem Vorbehalt der Endlichkeit, denn nur die Götter seien im eigentlichen Sinne weise. So nehme der Philosoph, als Freund der Weisheit eine Position zwischen den Göttern und den Unverständigen ein. Diese Position sei bestimmt durch die Spannung zwischen Weisheitssuche, die an ständige Selbstprüfung gebunden ist, und der Erkenntnis über dessen Nichterfüllung, durch die Endlichkeit und Leibgebundenheit des menschlichen Lebens.[3] Aristoteles bestimmt Weisheit als das allen anderen Wissenschaften übergeordnete und gebietende Wissen, von den ersten Ursachen und Prinzipien, das bloß um seiner selbst willen gesucht wird und für den Menschen am schwersten zu erkennen ist. Weisheit ist nach Aristoteles im zweifachen Sinne göttlich. Zum einen sei das Wissen über den Ursprung Wissen über das Göttliche, da die Ursache von allem Gott sei, und zum anderen sei Weisheit das, was Gott am meisten besitze.[4] Eine ähnliche Bestimmung des Begriffs findet man bei Seneca und Cicero, die der Weisheit das Wissen von den menschlichen und göttlichen Dingen zueignen.[5] Montaigne hebt besonders den Nutzen der Weisheit hervor, indem er sagt, dass Weisheit, die immer mit Klugheit einhergehe, dem Weisen nützen müsse. Auch Epikur und Marc Aurel betonen die Auswirkungen der Weisheit auf das Leben desjenigen, der sie besitzt. Der Weise führe immer ein angenehmes Leben und umgekehrt seien die Nichtweisen immer unglücklich. Aurel betont in diesem Zusammenhang besonders die Rolle der Vernunft und auch Proklos schreibt der Vernunft einen hohen Stellenwert zu, indem er diese in Bezug zum Göttlichen setzt und sagt, dass das religiöse Erleben des Weisen als gesteigertes Erleben des eigenen Vernunftvermögens erfahren wird. Zur Selbsterkenntnis, in der sich die Weisheit zeige, gelange der Mensch mittels seiner Vernunft und göttlicher Hilfe durch die Offenbarung.[6] Averroes hebt Weisheit (hikma) auf dieselbe Wahrheitsstufe wie das religiöse Gesetz. Philosophie und Religion stünden nicht im Widerspruch zueinander, denn mögliche Widersprüche ließen sich durch die richtige Interpretation auflösen. Auch Moses Maimonides sieht keinen Widerspruch zwischen Religion und Philosophie, denn er nennt denjenigen einen Weisen, der sowohl die Gesetze aus der Überlieferung kennt, als diese auch durch seine Vernunft darlegen und durch einen guten Lebenswandel bezeugen kann.[7] Bei Marsilio Ficino verschmelzen die Begriffe Philosophie und Religion nahezu, wenn er sagt: „Wenn nämlich die Philosophie [...] von allen als Liebe zur Wahrheit und Weisheit definiert wird, Gott aber die Wahrheit und Weisheit selbst ist, so folgt daraus, dass die rechte Philosophie nichts anderes ist als die wahre Religion.‘“[8] Mit Blick auf Augustinus, der Weisheit als Gottesdienst bestimmt, nennt Francesco Petrarca den wahren Philosophen einen Liebhaber Gottes, dessen Weisheitsdienst sich in tätiger Demut zeige.[9] Durch diese Betrachtung der Weisheit als eine Tätigkeit in Demut zeigt sich ihr praxisbezogener Charakter, der auch bei Cardano vorzufinden ist. Dieser behandelt Weisheit als moralische Tugend, die lehrt, das Rechte zu wissen und das Gute zu tun. Und auch Pierre Charron sieht Weisheit nicht als ein spekulatives Wissen, sondern als eine auf menschliche Weise erworbene Vollkommenheit und Formung des ganzen Menschen.[10] Zusammenfassend lässt sich erkennen, dass Weisheit in der Philosophiegeschichte nicht als enorme Ansammlung von theoretischem Wissen verstanden wird, sondern als eine Charaktertugend, die sich auf Vernunftbegabung und Selbsterkenntnis stützt und in einem engen Verhältnis zum Göttlichen steht.

3. Nathans Klugheit

3.1 Der reiche Kaufmann

Nathan in ist ein jüdischer Kaufmann in Jerusalem, der durch seinen Reichtum einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt hat und hohes Ansehen beim Volk erntet, das ihn den Weisen und auch den Reichen nennt. Diese beiden Betitelungen, die zunächst völlig verschieden scheinen, bringen den Tempelherrn in einem Gespräch mit Daja zu der Überlegung, dass dem Volk die Eigenschaften weise und reich möglicherweise gleichbedeutend sind[11], und auch Al-Hafi macht durch den Ausspruch „Nun ist´s der Reiche wieder: / So wird´s auch wohl der Weise wieder sein.“[12], deutlich, dass für ihn Reichtum und Weisheit in einer unmittelbaren Verbindung, ja sogar in einer Wechselwirkung stehen. Als Saladin Nathan mit der Betitelung „der Weise“ konfrontiert, zeigt sich Nathan skeptisch und stellt die Überlegung an, dass die Begriffe weise und klug vom Volk möglicherweise synonym verwendet werden, und klug vielleicht nur bedeute, dass sich jemand gut auf seinen Vorteil verstehe, also eigennützig handele. So fühlt er sich durch die Betitelung „Der Weise“ nicht geehrt, sondern tritt der Attributzuschreibung des Volks mit Vorsicht und Bescheidenheit gegenüber. Nathan, der sich selbst keinen Weisen nennt, sieht seinen Reichtum verursacht durch Natur und Glück[13], was als ein Indiz für seine Bescheidenheit verstanden werden kann. Seine Erfolge weisen jedoch weniger auf Glück als auf kaufmännisches Geschick hin, denn seine Klugheit zeigt sich nicht bloß im Erlangen von Reichtum, sondern auch im Umgang mit diesem. Im Gespräch mit Al-Hafi lässt sich erkennen, dass er sein Geld mit Sparsamkeit zu verwalten versteht, was auch an der Anzahl seiner Bediensteten erkennbar wird, die nicht seiner faktischen sozialen Stellung entsprechen.[14] Er setzt seinen Reichtum nicht verschwenderisch, sondern taktisch klug ein und so macht er sich bereits im ersten Auftritt seinen Reichtum zu Nutze, indem er die Gesellschafterin seiner Tochter zu bestechen versucht. Daja, die zu diesem Zeitpunkt neben Nathan als einzige, Rechas wahre Identität als geborene Christin kennt, plagt ihr Gewissen, weil sie es als falsch ansieht, wenn ein Jude eine Christin erzieht. Diesen Kummer versucht sie gegenüber Nathan zu artikulieren, der jedoch nicht auf ihre Äußerungen eingeht. Stattdessen zeigt er sich als kluger Kaufmann, indem er das Gespräch auf die Reichtümer lenkt, die er auf der Reise erworben hat. Diese bietet er Daja als Preis für ihre Verschwiegenheit an. So entscheidet sich Daja trotz ihres sie plagenden Gewissens für die wertvollen Geschenke und willigt ein zu schweigen. Auch im Gespräch mit dem Klosterbruder, in welchem Nathan diesen bittet, ihm das Büchlein, das ihm mehr über Rechas Verwandtschaftsverhältnisse verraten soll, zu bringen, macht er sich seinen Reichtum erneut zu Nutze. Er bietet dem Klosterbruder an, das Buch mit Gold zu bezahlen und versucht so, die Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen nach seinen Vorstellungen zu prägen.

Johann Georg Hamann spricht in Bezug auf die Verträglichkeit von Geld und Gesinnung davon, dass „Kleinigkeiten“ wie Geld den „Gesichtskreis der Seele“ einschränken.[15] Er geht davon aus, dass Reichtum eine ethisch gute Gesinnung des Menschen verhindert. Al-Hafi jedoch, wie Sittah behauptet, habe von Nathan gesagt, dass ihm „sein Gott von allen Gütern dieser Welt / Das Kleinst´ und das Größte so in vollem Maß / Erteilet habe.“[16], nämlich „Das Kleinste: Reichtum. Und / Das Größte: Weisheit“[17]. So wird Hamanns These bezüglich der Vereinbarkeit von Reichtum und hoher Gesinnung durch die Figur Nathan widerlegt.[18] Im Gespräch mit dem Tempelherrn, in dem dieser versucht, den Dank Nathans bezüglich Rechas Rettung abzuwehren, macht Nathan ihn darauf aufmerksam, dass er ein reicher Mann ist.[19] Er erwähnt seine finanziellen Umstände, um das weitere Gespräch mit dem Tempelherrn zu lenken, doch er handelt in guter Absicht, wenn er versucht seinem Dankbarkeitsgefühl Ausdruck zu verleihen. Das Gutsein braucht sich bei Nathan seiner materiellen Grundlage nicht zu schämen, denn Nathans Klugheit verhindert eine Verwechslung von Kaufmann und Mensch, wie im Gespräch mit Al-Hafi verdeutlicht wird.[20] Hier trifft Nathan eine Unterscheidung zwischen dem Menschen Al-Hafi und dem Al-Hafi als Derwisch. Dieser spricht Nathan darauf mit den Worten „dass ihr doch immer / So gut als klug, so klug als weise seid!“[21] eine Balance zwischen menschlich-gutem Handeln und kaufmännisch-gutem Handeln zu. Das merkantile Prinzip ist für Nathan kein Selbstzweck, sondern nur das Mittel seines sozial-ethischen Ziels. So zeigt sich in der Figur Nathan eine Harmonie zwischen Geld, Menschlichkeit und Weisheit unter Anerkennung eines vernunftgeleiteten und begrenzten ökonomischen Egoismus.[22] Versteht man Weisheit im Sinne Montaignes als etwas, das immer auch mit Klugheit einhergeht und dem nützen muss, der sie besitzt, so kann Nathans Reichtum und sein Umgang mit diesem durchaus als ein Indiz für seine Weisheit verstanden werden.

3.2 Umsichtiges Handeln

Nicht nur im Umgang mit seinem Reichtum zeigt sich Nathans taktisches Vorgehen, sondern all sein Handeln ist geprägt von Klugheit und List. In der ersten Begegnung mit Saladin zeigt sich Nathans Kompetenz, seine Affekte zu kontrollieren und nüchtern und mit Bedacht zu agieren. Unter dem Aspekt der Falle kann das Zusammentreffen der beiden als eine von Saladin inszenierte Begegnung verstanden werden.[23] Durch die Worte „Tritt näher Jude! [...] Nur ohne Furcht!“[24] versucht Saladin, sich in der Rolle des distanzierten und furchteinflößenden, aber doch gnädigen Herrschers darzustellen, um dann, ganz wie es einem großen Herrscher gemäß ist, Nathan gnädig heranzuwinken. Nathan jedoch, der sich geängstigt fühlen sollte, antwortet nüchtern und selbstsicher. Somit scheitert der erste Versuch Saladins, die Atmosphäre des Gesprächs zu bestimmen. Der Sultan, der eine Rechtfertigung dafür braucht, warum er ausgerechnet Nathan die Frage nach dem rechten Glauben stellt, versucht durch die Frage „Du nennst dich Nathan? [...] Den weisen Nathan?“[25] erneut das Gespräch zu lenken. Doch auch dieser zweite Versuch misslingt durch die Verneinung der Frage von Seiten Nathans und durch seine Geringschätzung darüber, dass das Volk ihn einen Weisen nennt. Durch diese kritische Haltung macht Nathan es Saladin schwer, das Gespräch taktisch zu leiten. So lassen sich die Worte Saladins „Nun der Bescheidenheit genug!“[26] als ein Ausdruck seines Ärgers über das Scheitern seiner Manipulationsversuche verstehen. Nun muss der Sultan Nathan selbst Weisheit zusprechen, damit seine Frage nach dem rechten Glauben nicht zusammenhanglos und verdächtig erscheint. Als Saladin Nathan schließlich seine Frage stellt, ist Nathan überrascht, weil er erwartet hatte, dass Saladin ihn bloß um ein Darlehen bittet. Der Sultan verlässt den Raum mit den Worten: „Denk nach! / Geschwind denk nach!“[27] Durch diese Worte lässt sich Nathan, der sich der Schwierigkeit der Situation bewusst ist, nicht drängen, sondern geht mit Bedacht vor. In dem folgenden Monolog im siebten Auftritt des dritten Aufzugs, der im Ganzen Nathans Kompetenz zur Problembewältigung zeigt, führt sich Nathan zunächst das Problem vor Augen. Entgegen seiner Erwartung, dass Saladin ein Darlehen bei ihm erbitten würde, wird er stattdessen nach der rechten Religion gefragt. Er sieht sich außerstande, die ihm gestellte Frage zu beantworten, weil er nicht im Besitz der von Saladin geforderten Wahrheit ist. Obwohl Nathans Verwunderung und Empörung über die für ihn unzulässige Frage nach der Wahrheit erkennbar ist, kann er seine Gefühle zurückstellen und sachlich-kluge Überlegungen anstellen. So analysiert er im Folgenden die Umstände der Situation und erkennt die Möglichkeit einer ihm gestellten Falle, was seine Klugheit und Erfahrenheit unterstreicht, und beschließt daraufhin, behutsam vorzugehen. Schließlich sucht er eine Lösung, die ihn aus der Situation befreit. Seine nüchternen Überlegungen sind nun eher Fragen der Taktik und weniger welche der Ethik und Wahrheit. Er wägt seine Antwort weniger mit Leidenschaft und Überzeugung, als eher mit Vernunft und Raffinesse ab und beschließt so, Saladin ein Märchen zu erzählen. Als ihm die Idee des Märchens in den Kopf kommt, sagt er: „Das kann / mich retten! - Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab.“[28] Besonders an dem Wort „abspeisen“ wird deutlich, dass die Entscheidung Nathans, Saladin ein Märchen zu erzählen, nicht in der Absicht begründet ist Saladin von seinen ethischen Ansichten zu überzeugen, sondern bloß in seinem Wunsch, sich aus der prekären Situation zu befreien. Der Einsatz der Ringparabel ist so weniger ein Lösungsversuch Nathans als eine kluge List.[29] Diese Szene ist bloß ein Exempel für Nathans umsichtiges Handeln. Nathan bedient sich seiner Vernunft, welche sein Handeln bestimmt, und so werden seine Affekte kanalisiert. Durch sein Erfahrungswissen und seine vernunftgeleitete kritische Distanz ist er meist der Überlegene im Gespräch. Dieses praktische Wissen ist im Sinne Platons ein Aspekt von Weisheit und auch nach Montaigne, der dem Weisen immer auch Klugheit zuspricht, ist Nathans taktisches und vernünftiges Handeln als Indiz für Weisheit zu verstehen.

[...]


[1] Vgl. Speer, Andreas: Weisheit. In: Joachim Ritter / Karlfried Gründen / Gottfried Gabriel (Hrsg): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 2004. S. 371- 398, S. 371.

[2] Vgl. Platon: Apologie. In: Ernesto Grassi (Hrsg): Platon. Sämtliche Werke. Band 1. Reinbeck 1964, S. 14.

[3] Vgl. Speer: Weisheit, In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S.372.

[4] Vgl. Aristoteles: Metaphysik. In: Ursula Wolf (Hrsg): Aristoteles Metaphysik. Reinbeck 2010, S. 38-43.

[5] Vgl. Speer: Weisheit, In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 374.

[6] Vgl. ebenda, S. 373-375.

[7] Vgl. ebenda, S. 380-84.

[8] Ebenda, S. 385.

[9] Vgl. ebenda, S. 385.

[10] Vgl. ebenda, S. 388.

[11] Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim : Nathan der Weise. In: Paul Rilla (Hrsg): Gesammelte Werke in 10 Bänden. Band 2. Berlin und Weimar 1954, S. 355

[12] Ebenda, S. 368.

[13] Ebenda, S. 326.

[14] Vgl. Neuhaus-Koch, Ariane: G.E. Lessing. Die Sozialstrukturen in seinen Dramen, 1. Auflage. Bonn 1977 S.167.

[15] Vgl. König, Dominik von: Natürlichkeit und Wirklichkeit. Studien zu Lessings „Nathan der Weise“. Bonn 1976, S.100.

[16] Vgl. Lessing: Nathan der Weise, Gesammelte Werke in 10 Bänden. Band 2, S. 368.

[17] Ebenda, S. 368.

[18] Vgl. König: Natürlichkeit und Wirklichkeit, S.100.

[19] Vgl. Lessing: Nathan der Weise, Gesammelte Werke in 10 Bänden. Band 2, S. 376.

[20] Vgl. König: Natürlichkeit und Wirklichkeit, S. 97.

[21] Vgl. Lessing: Nathan der Weise, Gesammelte Werke in 10 Bänden. Band 2, S. 342.

[22] Vgl. Neuhaus-Koch: G.E. Lessing. Die Sozialstrukturen in seinen Dramen, S. 167-170.

[23] Vgl. König: Natürlichkeit und Wirklichkeit, S. 90-91.

[24] Lessing: Nathan der Weise, Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 2, S. 399.

[25] Ebenda, S.399.

[26] Ebenda, S. 400.

[27] Ebenda, S. 401.

[28] Ebenda, S. 402.

[29] Vgl. König: Natürlichkeit und Wirklichkeit, S. 110.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Auseinandersetzung mit dem Begriff der Weisheit in Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Institut für Germanistik und Komparatistil)
Veranstaltung
Aufklärung und Literatur
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
19
Katalognummer
V309235
ISBN (eBook)
9783668077607
ISBN (Buch)
9783668077614
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lessing, Nathan, Weisheit
Arbeit zitieren
Sabrina Hanke (Autor:in), 2013, Auseinandersetzung mit dem Begriff der Weisheit in Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309235

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