Heideggerische Furcht und sokratisches Begehren. Polare Modi der phänomenologischen Befindlichkeit


Hausarbeit, 2015

16 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung und Fragestellung

2. Furcht als Modi der Befindlichkeit in Sein und Zeit
2.1 Befindlichkeit in Sein und Zeit
2.2 Furcht als Modi der Befindlichkeit
2.3 Die Affektlehre des Aristoteles als Hintergrund der heideggerischen Befindlichkeitstheorie

3. Begehren bei Sokrates als Modi der Befindlichkeit
3.1 Begehren bei Sokrates
3.2 Begehren als zur Furcht polarer Modi der Befindlichkeit

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur

1. Einführung und Fragestellung

In seinem 1927 erschienen Hauptwerk Sein und Zeit beschreibt Martin Heidegger (1889 – 1976) das Da-Sein als räumlich-zeitliches In-Der-Welt-sein. Dabei wird die gegenwärtige Welt durch Befindlichkeit erschloßen – wo und wie man sich befindet. Erfahren wird die Befindlichkeit nach Heidegger als Stimmung („Modus der Befindlichkeit“, §30), beispielsweise als Furcht oder Langeweile. Durch diese vermittelt geht die Welt das Da-Sein „etwas an“, wird ein Bezug zwischen Welt und Da-Sein hergestellt. Dabei werden Stimmungen vom Da-Sein vorgefunden, sie gehören zum Was-es-ist der Geworfenheit und sind nicht direkt willentlich steuerbar.

Inspirationsquelle für Heideggers Entwurf der Befindlichkeit ist die Rhetorik des Aristoteles, welche Heidegger als erste phänomenologische Beschreibung des alltäglichen Da-Seins las. Im zweiten Buch führt Aristoteles die Zusammenhänge zwischen einer Situation bzw. ihrer Darstellung und den dabei zu erwartenden Affekten aus. Dabei werden Affekte als vorreflexive Urteile über eine Situation interpretiert. Heidegger fasst dies in Sein und Zeit so auf, dass ein Affekt erst durch eine ihn disponierende Stimmung möglich wird.

Die in Sein und Zeit exemplarisch für eine Stimmung gegebene, kurze phänomenologische Charakterisierung der Furcht ist in weiten Teilen von Aristoteles übernommen. Dabei ist die Auswahl der Furcht als Beispiel nicht zufällig: Als „Sprungbrett“ zur zentralen Befindlichkeit der Angst gibt die Furcht die Richtung des Werkes vor. So zeigt Yfantis in seiner Analyse der für Sein und Zeit konstitutiven Vorlesungen, dass die augustinische Unterscheidung zwischen timor castus (Furcht vor Gott, bei Heidegger: Angst) und timor servilis (weltliche Furcht, bei Heidegger: Furcht) einer der Grundideen des Werkes ist. Dabei führt bei Heidegger, wie bei Augustinus, der timor castus zu einer Abwendung von der Welt und einer Zuwendung zum „eigentlichen“ Leben.

Diesem, auf timor basierenden Aufruf zum authentischen Da-Sein wird in dieser Arbeit das Begehren bei Sokrates gegenübergestellt. Zentral für die sokratische Lehre ist dabei der eros (Begehren), welches nach Sokrates auf die eudaimonia (Glückseligkeit) ausgerichtet und die wesentliche Triebfeder für das Streben nach dem Guten ist. Dabei wird anhand des eros -Begriffs der klassischen griechischen Kultur sowie der Bestimmungen des eros in den Reden des Sokrates und des Alkibiades in Platons Symposion herausgearbeitet, dass sich das Begehren nicht nur als heideggerische Stimmung beschreiben läßt, sondern auch als ein zur Furcht polarer Modi der Befindlichkeit. Das soll heißen: Der wesentliche Unterschied zwischen Furcht und Begehren liegt im Vorzeichen der Wirkrichtung. So wie magnetische Gegenstände von dem einen Pol eines Magneten angezogen und von dem anderen abgestoßen werden, führt Begehren zum Wunsch nach Annährung und Besitz des Zuträglichen (positiv), Furcht aber hält dazu an, dass Furchtbare zu vermeiden, weil es abträglich (negativ) ist .

Um dieses zu zeigen, werden die heideggerische Furcht und das sokratische Begehren detailliert beschrieben und anschließend der Nachweis erbracht, dass die in Sein und Zeit gegebene Charakterisierung der Furcht – mit Ausnahme der o.g. Wirkrichtung – auch auf die Darstellung des eros bei Sokrates zutrifft. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass Sokrates selbst keine Schriften hinterlassen hat. Nach den Auffassungen von Maier und Böhme kann die sokratische Lehre aber aus den Schriften Platons rekonstruiert werden, die Arbeit folgt daher den Überlegungen der beiden Autoren. In der zentralen Schrift über den eros, dem Symposion, finden sich dabei sowohl platonische als auch sokratische Gedanken. Insbesondere die Rede des Alkibiades und das dort thematisisierte erasteseromenos Verhältnis gelten aber als typisch sokratisch. Für die Einordnung der eros -Darstellung des Symposion in den Hintergrund der griechischen Kultur waren die Ausführungen von Hunter sehr hilfreich.

2. Furcht als Modi der Befindlichkeit in Sein und Zeit

2.1 Befindlichkeit in Sein und Zeit

In Sein und Zeit konzipiert Heidegger das Da-Sein als zeitliches und räumliches In-der-Welt-sein. Dabei wird die Welt durch „die beiden gleichursprünglichen, konstitutiven Weisen, das Da zu sein“ erschlossen: Befindlichkeit und Verstehen. Auf Grund der Durchführung dieser Operationen existieren die Welt wie auch das Da. Das In-der-Welt-sein ist daher Daseins-immanent.

Befindlichkeit versteht Heidegger räumlich (wo befindet man sich) wie auch affektiv (wie einem ist). Dabei sind der affektive und der räumlichen Aspekt verschränkt: „Nur was in der Befindlichkeit des Fürchtens [...] ist, kann umweltlich Zuhandenes als Bedrohliches entdecken“. Auch wäre das innnerweltlich Vorhandene ohne Stimmungen gleichgültig: „Ein reines Anschauen [...] vermöchte nie so etwas zu entdecken wie Bedrohliches“.

Befindlichkeit zeigt dem Da-Sein sein In-der-Welt-sein, sein „daß es ist“. Dieses „daß es ist“ nennt Heidegger „die Geworfenheit des Seienden in sein Da“, verstanden als „Faktizität der Überantwortung“ der Welt an das Da-Sein. Das Da-Sein findet sich in einer Welt vor, und dieses Sich-Vorfinden ist durch Befindlichkeit vermittelt: „Die Befindlichkeit erschließt das Dasein in seiner Geworfenheit [...].“

Befindlichkeit zeigt jedoch nicht das „Woher und Wohin“, sie ist rein gegenwärtig. Es Bedarf der zweiten konstituiven Daseinsweise, des Verstehens, um die Zeitlichkeit des Da-Seins, d.h. um das Da als Gewordenes und zu Entwerfendes erfassen zu können.

2.2 Furcht als Modi der Befindlichkeit

Die konkrete Befindlichkeit des Da-Seins wird nach Heidegger durch Stimmungen vermittelt. Um das zu zeigen, nimmt er daher in §30 von Sein und Zeit eine phänomenologische Analyse der Furcht vor. Dabei untersucht er das „Wovor der Furcht“ (das Furchtbare), das „Fürchten“ und das „Worum der Furcht“.

Der Bezugspunkt der Furcht ist ein anderes Sein, dass in der Welt vorhanden ist: „Das Wovor der Furcht, das »Furchtbare«, ist jeweils ein innerweltlich Begegnendes [...].“ Das Furchtbare hat den Charakter der Bedrohlichkeit, und zu diesem gehört nach Heidegger:

„[...] 1. das Begegnende hat die Bewandtnisart der Abträglichkeit. [...] 2. Diese Abträglichkeit zielt auf einen bestimmten Umkreis des von ihr Betreffbaren. Sie kommt [...] aus einer bestimmten Gegend. 3. Die Gegend selbst und das aus ihr Herkommende ist als solches bekannt [...]. 4. Das Abträgliche [...] naht. In solchem Herannahen strahlt die Abträglichkeit aus und hat darin den Charakter des Drohens. 5. Dieses Herannahen ist ein solches innerhalb der Nähe. Was zwar im höchsten Grade abträglich sein kann und sogar ständig näher kommt aber in der Ferne, bleibt in seiner Furchtbarkeit verhüllt.“

Das Furchtbare ist also abträglich, begrenzt, lokalisierbar, nahe und nahend, aber noch nicht eingetroffen und daher letzlich ungewiß.

Das Fürchten beschreibt Heidegger als „schlummernde Möglichkeit des befindlichen In-der-Welt-seins“, welche die Welt daraufhin erschließt, „daß aus ihr so etwas wie Furchtbares nahen kann“. Fürchten ist also keine Folge des Feststellens einer Bedrohung, sondern macht die Entdeckung von etwas Furchtbarem erst möglich. Die Stimmung des Fürchtens kann daher als Disposition zum affektiven Sich-vor-etwas-fürchten ausgelegt werden.

Das Worum der Furcht ist „das sich fürchtende Seiende selbst [...].“ Da es dem Da-Sein „in seinem Sein um dieses selbst geht, kann [es] sich fürchten.“ Die Abträglichkeit des Furchtbaren bezieht sich daher auf das jeweils eigene Sein, und nur mittelbar auf andere Menschen oder Dinge: „Fürchten für ... ist eine Weise der Mitbefindlichkeit mit den Anderen, aber nicht notwendig ein Sich-mitfürchten [...]. [...] »Befürchtet« ist dabei das Mitsein mit dem Anderen, der einem entrissen werden könnte.“

2.3 Die Affektlehre des Aristoteles als Hintergrund der heideggerischen Befindlichkeitstheorie

Die in Sein und Zeit recht knappe Beschreibung von Befindlichkeit, Stimmung und Furcht wird verständlicher, wenn man den Hinweisen zu den Inspirationsquellen von Heideggers Befindlichkeitstheorie folgt. Die Fußnote zur Überschrift von §30 („Vgl. Aristoteles, Rhetorik B 5, 1382 a 20-1383 b 11.“) sowie der kurze geschichtliche Abriss zur philosophischen Behandlung der Affekte weisen den Weg zur Rhetorik des Aristoteles. „Aristoteles untersucht die πάθη [páthe, Affekte] im zweiten Buch seiner »Rhetorik«. Diese muß – entgegen der traditionellen Orientierung des Begriffes der Rhetorik an so etwas wie einem »Lehrfach« – als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt werden. [...] [Der Redner] bedarf des Verständnisses der Möglichkeiten der Stimmung, um sie in der rechten Weise zu wecken und zu lenken.“

In der Rhetorik beschreibt Aristoteles Affekte nach dem Schema „wem gegenüber man zu diesem Affekt neigt; aus welchen Anlässen; und in welcher Verfassung“. Affekte entstehen bei Aristoteles also auf Grundlage konkreter Situationen, sie sind vorreflexive Urteile über diese. Wenn ein Redner bestimmte Affekte beim Publikum herbeiführen will, um es für seine Sache zu gewinnen, muss er die besprochene Situation und die in ihr vorkommenden Phänomene in einem für ihn günstigen Licht erscheinen lassen.

In dem dazu notwendigen Wissen über den Zusammenhang von Stimmungen und Situationen, also zwischen Befindlichkeit und In-der-Welt-sein, sieht Heidegger den Kern der aristotelischen Rhetorik. Er schließt mit seiner Darstellung der Befindlichkeit an diese Konstitutionalität des Weltbezuges für die Affekte an. „Diese πάθη, »Affekte«, sind nicht Zustände des Seelischen, es handelt sich um eine Befindlichkeit des Lebenden in seiner Welt, in der Weise wie er gestellt ist zu etwas, wie er eine Sache sich angehen läßt“. Das heißt aber auch: Erst durch einen Affekt, in einer Stimmung, ist das Da-Sein „zu etwas gestellt“, „geht eine Sache etwas an“.

Auch Heideggers Bestimmung der Furcht ist der aristotelischen Rhetorik entnommen: „Es sei also die Furcht eine gewisse Empfindung von Unlust und ein beunruhigendes Gefühl, hervorgegangen aus der Vorstellung eines bevorstehendes Übels, [...] und zwar, wenn diese nicht fern, sondern in der Nähe erscheinen. [...] Dieses nämlich ist Gefahr: Die Annäherung von Furchtbarem. [...] Folglich müssen nun notwendig die Furcht empfinden, die glauben, etwas zu erleiden, und zwar von bestimmten Personen eine bestimmte Sache zu einem bestimmten Zeitpunkt. [...] Es muss vielmehr eine gewissen Hoffnung auf Rettung vor dem, wovor wir Angst empfinden, vorhanden sein.“

3. Begehren bei Sokrates als Modi der Befindlichkeit

3.1 Begehren bei Sokrates

Sokrates lebte von 469 bis 399 vor Christus in Athen. Er hinterließ keine Schriften, aber seine im persönlichen Dialog entwickelte Lehre war der Ausgangspunkt für die antiken philosophischen Schulen von Aristipp (Kyrenaiker), Platon (Akademie), Eukleides (Megariker) und Antisthenes (Kyniker), die wiederum nachfolgende Denker wie Aristoteles, Epikur und Zenon (Stoa) stark beeinflußten. Im Gegensatz zu den Vorsokratikern, für die Philosophie Nachdenken über die Natur und das Wesen des Kosmos bedeutete, stellte Sokrates das persönliche Handeln und die Frage nach dem Guten in den Mittelpunkt seines Denkens. Seine Verurteilung zum Tode wegen verderblichen Einfluß auf die Jugend und Missachtung der Götter trug nicht unerheblich zu seinem Nachruhm bei.

Die Sokrates zugeschriebene Aussage, „ich weiß, dass ich nichts weiß“, geht auf Cicero zurück, der damit eine wesentliche Selbstcharakterisierung des Sokrates in seiner Verteidigungsrede vor dem athenischen Strafgerichtshof zusammenfasste. In der Rede beschreibt Sokrates, wie er den Spruch des Orakels von Delphi, dass niemand klüger sei als Sokrates, zu wiederlegen versucht, dabei aber immer wieder feststellt, dass seine Mitbürger ihr eigenes Wissen weit überschätzen: „Dieser meint irgendetwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß, aber ich, wie ich es nun nicht weiß, glaube es auch nicht.“ Und insofern sei er klüger als alle anderen.

Allerdings gab es eine Lücke im sokratischen Nichtwissen: „Nichts anderes behaupte ich zu verstehen als die Erotika.“

Diese Aussage ist vordergründig ein Verweis auf Sokrates (reflektierte) Hingezogenheit zu jungen Männern. Vermutlich war er homosexuell und bestens vertraut mit der archaischen Tradition der paidasteria, bei der ein reifer Mann (erastes, Liebhaber) einem Jüngling (eromenos, Liebgehabte) nachstellte und ihn mit Geschenken und Schmeicheleien umwarb, damit dieser sich ihm gefällig zeige (charizesthai). Auch damals war die sexuelle Beziehung eines erwachsenen Mannes zu einem adoleszenten Jüngling heikel, nur nach sorgfältiger Prüfung und aus ideellen Motiven war es dem e romenes erlaubt, auf das Werben des erastes einzugehen.

Sokrates hatte in diesem Spiel schlechte Karten. Er war häßlich, kam aus einfachen Verhältnissen und hatte wenig Prestige vorzuweisen. Daher drehte er den Spieß um: Anstatt sein Begehren und seine Bewunderung gegenüber den Jünglingen zum Ausdruck zu bringen, beeindruckte er diese mit seinem rhetorischen Können und zeigte ihnen mittels der sokratischen Dialektik, dass es ihnen an Wissen zur Realisierung ihrer Wünsche nach Ruhm und Macht mangele und sie daher dringend seiner Unterrichtung bedürften. Da er, im Gegensatz zu den Sophisten, kein Geld nahm und auch sonst keine großen Wünsche hatte, war das einzige, was die Jünglinge ihn für seine Unterrichtung anbieten konnten, die Hingabe ihrer Schönheit. Mit dieser „Masche“ drehte Sokrates das Verhältnis von Liebhaber und Liebgehabten um und wurde selbst zum Geliebten, der vom Liebhaber umworben wird. In der Rede des Alkibiades am Ende von Platons Symposion wird diese Situation aus Sicht des Jünglings beispielhaft dargestellt.

Man kann Sokrates Aussage, dass er sich auf die „Erotika“ verstand (epistasthei), daher so verstehen, dass er Wissen (episteme) erlangt hatte, welches aus ihm einen guten (agathon, Adjektiv zu areté) Verführer machte. In Bezug auf die Verführung besaß er also areté (Vortrefflichkeit, Tüchtigkeit, Tugend).

Man greift allerdings zu kurz, wenn man „die Erotika“ bzw. den eros (Begehren) mit dem Streben nach körperlicher Befriedigung gleichsetzt: „Eros in archaic poetry may, in the broadest terms, be thought of as an invasive force or emotion which drives one to wish to satisfy a felt need.“ „Erotisch“ ist also alles, was begehrt wird, seien es nun Nahrungsmittel, Partner, Macht oder Gesundheit. Dabei wird das Begehren durch einen empfundenen Mangel ausgelöst, der nach Abhilfe durch den (wie auch immer gearteten) Besitz des Begehrten verlangt: „Also auch dieser und jeder andere Begehrende begehrt [...] was er nicht hat und nicht selbst ist und wessen er bedürftig ist;“ „ Eros [...] is a desire to possess, wether sexually or otherwise“.

Zum Wesen des Begehrens gehört auch das Irrationale: „ Eros, moreover, regulary forces people to do things which they, in more considered moments, know to be wrong or socially disapproved.“ Die Vortrefflichkeit in Bezug auf die Erlangung eines begehrten Gutes ist daher noch nicht ausreichend, um ein Leben in Glückseligkeit (eudaimonia) zu führen. Hinzukommen müssen Reflektion und Bewertung der Ziele des Begehrens selbst. Ohne ein Wissen um das warhaft Gute ist Streben an sich sinnlos bzw. gefährlich. Wenn Sokrates daher sagt, er verstehe sich auf die „Erotika“, dann ist das auch so zu verstehen, dass er über das wahrhaft Gute Bescheid weiß.

Zusammengefaßt: „Philosophieren ist dem Sokrates: in sich selbst und in anderen das »Wissen« zu erzeugen, dass den Zugang zum vollkommenen Leben und damit zum Glück eröffnet.“ Für Sokrates ist Wissen aus instrumentellen und teleologisch-ethischen Gründen der Weg zur areté und damit das eine, eigentlich zu begehrende und anzustrebende Gute.

3.2 Begehren als zur Furcht polarer Modi der Befindlichkeit

Begehren ist ein Modi der Befindlichkeit, weil es affektiv und irrational, daher nicht auf Verstehen gegründet und gleichzeitig welterschließend ist. Analog zur Stimmung der Furcht, in der das Dasein das Furchtbare entdeckt und fürchtet, erschließt sich in der Stimmung des Begehrens das Begehrenswerte und wird begehrt. Dabei gehört das Begehren zum „Was-es-ist“ der Geworfenheit. Auch wenn das Verstehen Ursachen für das Begehren feststellen und Pläne zur Erlangung des Begehrten bzw. zur Negierung des Begehrens ersinnen kann, so ist doch das Begehren an sich eine Stimmung, die im hier und jetzt vorgefunden wird: „As eros is an invasive force from outside [...] eros forces us to confront our lack and need [...]“. Dabei übernimmt nach antikem Verständnis der Gott Eros die Macht über den einzelnen Menschen und bestimmt seine Handlungen, für diese ist der Betroffene nicht mehr verantwortlich.

Weiterhin ist Begehren immer Begehren von etwas, Begehren ist intentional. So stellt Sokrates im Gespräch mit Agathon fest: „Wenn ich nun fragte: Wie, ein Bruder, ist der auch das, was er ist, ein Bruder, von jemand oder nicht? - Allerdings, habe er gesagt. [...] Versuche denn dasselbe auch von der Liebe [ erota ] zu sagen, ist sie Liebe [ eros ] von nichts oder etwas? - Freilich von etwas.“ Das begehrenswerte Etwas ist dabei typischerweise nahe, es muss sich zeigen um begehrt zu werden: „ Eros is often a response to visual beauty [...]“, beispielsweise die von Charmides im gleichnamigen Dialog Platons. Auch die sokratischen Dialoge sind eine Art des Zeigens des Guten und lösen ein Begehren nach Weisheit aus. Alkibiades vergleicht ihn daher mit den Sirenen der Odysee: „Denn er [Sokrates] nötigte mich einzugestehen, daß mir selbst noch gar viel mangelt und ich doch, mich vernachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge. Mit Gewalt also, wie vor den Sirenen die Ohren verstopfend, fliehe ich aufs eiligste, um nur nicht immer sitzen zu bleiben und neben diesem alt zu werden.“ Begehren sichert also das Interesse an Innerweltlich-Begegnendem, durch Begehren geht die Welt – oder zumindest Teile davon – das Da-Sein etwas an. Der Grund dafür ist, dass sich das Begehren auf das Gute ausrichtet, welches Glückseligkeit (eudaimonia) verspricht: „Sprich, Sokrates, wer das Gute begehrt, was begehrt der? - Daß es ihm zuteil werde, sagte ich. - Und was geschieht jenem, dem das Gute zuteil wird? - Das kann ich schon leichter beantworten, sagte ich, er wird glückselig.“

Nicht zuletzt ist die Erlangung des Begehrten ungewiß. So scheitert Alkibiades mit seinem Versuch, Sokrates zu verführen: „Da ich nun glaubte, daß er sich ernstlich Mühe gäbe um meine Schönheit, hielt ich das für einen herrlichen Fund und für ein überaus glückliches Ereignis, weil es nun in meiner Gewalt stände, wenn ich mich dem Sokrates gefällig erwiese, alles zu hören, was er wüßte.“ Sokrates aber vollzieht weder den angebotenen Beischlaf, noch weiht er Alkibiades in die sokratischen Weisheiten ein. Dieser ist dadurch zutiefst gekränkt: „denn am Herzen oder an der Seele oder wie man es nennen soll, bin ich verwundet“.

Begehren ist bei Sokrates also eine unwillentliche, intentionale, welterschließende und rein gegenwärtige Stimmung - also ein Modus der Befindlichkeit - die darauf abziehlt, an etwas bestimmten Innerweltlichem um der Glückseligkeit willen teilzuhaben, wobei ungewiß ist, ob das Begehrte letztendlich erlangt werden kann. Im Unterschied zur Furcht geht es dem Begehren um das Gute bzw. Zuträgliche. Während in der Stimmung der Furcht das Da-Sein sich vor dem Abträglichen um das, was es bereits ist, fürchtet, begehrt das Da-Sein in der Stimmung des Begehrens das Zuträgliche um zu werden, was es noch nicht ist. Dementsprechend ist Begehren nicht auf Vermeidung, sondern auf Verfolgung und Erlangung von Begehrenswertem ausgerichtet.

4. Fazit

Es wurde gezeigt, dass die Stimmungen Furcht und Begehren nach den Charakterisierungen von Heidegger und Sokrates zueinander polare Modi der Befindlichkeit sind, weil sie strukturell gleich, Furcht aber auf Vermeidung des Abträglichen, Begehren auf die Erlangung des Begehrenswerten ausgerichtet ist. Das Ergebnis ist insofern einzuschränken, als dass die Frage, ob die gegebenen Charakterisierungen beispielsweise auch psychologisch zutreffend sind, nicht gestellt wurde. Auch wurde nicht untersucht, ob die Charakterisierung nicht auch auf andere Stimmungen zutrifft.

Offen bleiben muss auch die Frage nach der Besonderheit der beiden Stimmungen. Die Dichotomie von Anziehung und Abstoßung lädt zur metaphysischen Spekulation ein. Beispielsweise bestimmt der Vorsokratiker Empedokles eine anziehend-vereinigende (philotés, Liebe, Freundschaft) und abstoßend-trennende Kraft (neíkos, Streit) als Ursache aller Vorgänge im Universum. Aber auch in den Naturwissenschaften spielen anziehend und abstoßend wirkende Kräfte eine zentrale Rolle. Folgt man dieser Idee, stellt sich die Frage, ob eine Philosophie, welche nur eine von beiden Stimmungen berücksichtigt, nicht zwangsläufig einseitig bzw. unvollständig ist.

Bemerkenswert ist, dass beide Stimmungen in ihrem Kontext der Auftakt zu einer Beschreibung des Weges zu einem authentischen, von den Vielen abgegrenzten Leben sind, wobei die jeweilige Stimmung erst in eine welt-abgewandte Form transformiert werden muss: Bei Heidegger ersetzt die welt-entfernende Angst um das eigene Sein die Furcht vor weltlichen Begegnendem, bei Sokrates das Begehren des Wissens zum Zwecke der Selbstsorge das Streben nach weltlichen Gütern.

Insofern kann man die Frage stellen, was denn nun zum „Eigentlichen Leben“ führt: Angst oder Begehren? Timor oder eros ? Möglicherweise lautet die Antwort ja: Beides.

5. Literaturverzeichnis

5.1 Primärliteratur

Aristoteles: Rhetorik. Übers., mit einer Bibliogr., Erl. und einem Nachw. von Franz G. Sieveke, 4., unveränd. Aufl., München: Fink, 1993.

Heidegger, Martin: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Vorlesung aus dem Sommer-Semester 1924, Marburg/L., Vorlesung vom 3. 6. 1924.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen: Max Niemeyer, 2006.

Platon: Des Sokrates Apologie. In Eigler, Gunther (Hrsg.): Platon. Werke in 8 Bänden, Sonderausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990.

Platon: Symposion. In Eigler, Gunther (Hrsg.): Platon. Werke in 8 Bänden, Sonderausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990.

5.2 Sekundärliteratur

Böhme, Gernot: Der Typ Sokrates, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.

Brickhouse, Thomas C. & Smith, Nicholas D.: The Philosophy of Socrates, Colorado/Oxford: Westview Press, 2000.

Dilcher, Roman: Die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins, In: Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Heidegger über Rhetorik, München: Fink, 2009.

Hunter, Richard: Plato's Symposium, New York: Oxford University Press, 2004.

Kniest, Christoph: Sokrates zu Einführung, Hamburg: Junius, 2003.

Maier, Heinrich: Sokrates. Sein Werk und seine geschichtliche Stellung, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1913.

Pocai, Romano: Heideggers Theorie der Befindlichkeit. Sein Denken zwischen 1927 und 1933, Freiburg / München: Alber, 1996.

Ries, Webrecht: Platon für Anfänger. Symposion, München: dtv, 2003.

Szlezák, Thomas A.: Das zweifache Bild des Dialektikers im Symposion. Oder was heißt epistasthei ta erotika ? In: Havlíček, Aleš & Cajthaml, Martin (Hrsg.): Plato's Symposium. Proceedings of the Fifth Symposium Platonicum Pragense, Prag: OIKOYMENH, 2007.

Yfantis, Dimitrios: Die Auseinandersetzung des frühen Heideggers mit Aristoteles. Ihre Entstehung und Entfaltung sowie ihre Bedeutung für die Entwicklung der frühen Philosophie Martin Heideggers (1919 – 1927), Berlin: Duncker & Humblot, 2009.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Heideggerische Furcht und sokratisches Begehren. Polare Modi der phänomenologischen Befindlichkeit
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für Philosophie)
Note
2,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
16
Katalognummer
V308749
ISBN (eBook)
9783668073739
ISBN (Buch)
9783668073746
Dateigröße
467 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heidegger, Furcht, Angst, Befindlichkeit, Stimmung, Erschlossenheit, In-der-Welt-sein, Sokrates, Alkibiades, Symposion, Eros, Platon, Aristoteles, Rhetorik, Eudaimonia, Phänomenologie, Begehren, Timor, Augustinus
Arbeit zitieren
Leonhard Holz (Autor:in), 2015, Heideggerische Furcht und sokratisches Begehren. Polare Modi der phänomenologischen Befindlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308749

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