Das Konzept der neuen Kriege. Eine kritische Betrachtung des nigerianischen Bürgerkrieges


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

28 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kaldors und Münklers zentrale Thesen

3. Konzeptualisierung der Thesen von Kaldor und Münkler

4. Fallstudie am Beispiel des Nigerianischen Bürgerkrieges
4.1 Entstaatlichung und Privatisierung der Gewaltakteure
4.2 Asymmetrische Kriegsführung
4.3 Enthemmung der Gewalt
4.4 Kommerzialisierung und ökonomische Gewaltmotive

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Immer mehr stehen reguläre Armeen vor der Herausforderung, Strategien gegen irreguläre Streitkräfte zu entwickeln, um die Kriegsführung gegen Guerilla-Kämpfer, Partisanen oder Terroristen erfolgreich zu gestalten – so lautet zumindest eine These des Konzeptes der „neuen Kriege“, das zur Jahrtausendwende endgültigen Einzug in die wissenschaftliche Debatte erhielt. Im gleichen Zeitraum haben beispielweise Deutschland oder die USA zahlreiche sicherheitspolitische Umstrukturierungen vorgenommen, wobei insbesondere die Problematik der asymmetrischen Kriege bei diesen Überlegungen eine übergeordnete Rolle einnahm. Dabei bezeichnet Herfried Münkler (2002: 7), einer der populärsten Vertreter dieses Theorems im deutschsprachigen Raum, den Krieg zwischen Staaten als „Auslaufmodell“.

Die vorgebrachte These ist neben der Verquickung mit militärstrategischen Veränderungen vor allem mit einer wissenschaftlichen Debatte verknüpft, die sich mit dem Paradigma der „neuen Kriege“ beschäftigt. Allerdings steht hinter dieser Auseinandersetzung deutlich mehr als das Konzept der asymmetrischen Kriegsführung. Eine zunehmende Entstaatlichung, eine enthemmte Kriegsführung oder sich herausbildende Kriegsökonomien sind nur einige weitere Charakteristika, die den Diskurs bestimmen. Diese Ausweitung hat einerseits dazu geführt, dass die Auseinandersetzung mit den „neuen Kriegen“ eine populistische Dimension angenommen hat, die oft wissenschaftliche Präzision vermissen lässt. Andererseits konnte sie eine Attraktivität für die nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit generieren, was Eppler (2002) und vor allem Münkler zu gefragten Gästen in den Medien werden ließ, obwohl sie nicht als Entdecker der „neuen“ Beobachtungen gelten (vgl. Brzoska 2004: 107f.; Daase 2011: 21f.; Langewiesche 2009: 289; Winter 2011: 510).

Schon zuvor sind Daase (1999), Duffield (2001), Elwert (1997), Kaldor (2000) oder van Creveld (1991a,b) zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Dabei nahm insbesondere Mary Kaldor eine Vorreiterrolle ein, da sie den Begriff der „new wars“ etablierte. Gleichzeitig haben sich im Diskurs auch zahlreiche Kritiker der neuen Thesen positioniert. Hierbei wären stellvertretend Chojnacki (2004), Gantzel (2002), Kalyvas (2001), Newman (2004) oder Schlichte (2002, 2006) zu nennen. Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt ist das Fehlen einer Analyse, die den Ansprüchen einer historisch differenzierten Analyse genügt. Stellvertretend bemängeln Kahl/Teusch (2004: 400): „Ebenso wenig wird die [...] Frage untersucht, ob die Kriterien, die für die ‚neuen Kriege‘ als maßgeblich erachtet werden, sich möglicherweise bereits in den ‚alten‘ Bürgerkriegen nachweisen lassen.“ An diesem Punkt will die Arbeit mit einer Fallstudie über den Nigerianischen Bürgerkrieg (1966-1970) einen Beitrag leisten, der bisher trotz zahlreicher Publikationen über mehrere Jahre (siehe u.a. Bühler 1968; Rajih 1971; Madiebo 1980; Ekwe-Ekwe 1990; Osaghae et al. 2002; Ugochukwu 2010) im Zusammenhang mit den „neuen“ Thesen kaum erforscht wurde (vgl. Newman 2004: 184f.). Daher erfolgte eine offene Auswahl, welche die Thesen von vornherein weder komplett bestätigte noch widerlegte. Auf den zahlreichen Pro- und Contra-Argumenten für bzw. gegen die Bezeichnung „neue Kriege“ liegt dabei nicht das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit, wenngleich an prägnanten Stellen auf bestehende Kontroversen kurz eingegangen wird.

Vielmehr erscheint es zunächst aufgrund der breiten wissenschaftlichen Diskussion, in der viele neue Aspekte hinzugekommen und viele alte in Vergessenheit geraten sind, notwendig in einem ersten Schritt die ursprünglichen Kennzeichen zu erarbeiten, um eine Operationalisierung der „neuen“ Thesen zu ermöglichen. Daher werden die zentralen Werke von Kaldor (2000) und Münkler (2002) dekonstruiert und auf der nächsten Stufe konzeptualisiert, um im abschließenden Kapitel eine fundierte historische Analyse anhand des Fallbeispiels zu ermöglichen.

2. Kaldors und Münklers zentrale Thesen

Um ihre „Entdeckungen“ von früheren Kriegskonzeptionen abzugrenzen, bedienen sich Kaldor und Münkler dem Begriff des „neuen Krieges“. Andere im wissenschaftlichen Diskurs verwendete Bezeichnungen, wie „Wilde Kriege“ (vgl. Sofsky 2002: 147-183), „postmodern“ (siehe Duffield 1998; Ignatieff 1998), „low intensity conflicts“ (siehe van Creveld 1991), „Kleine Kriege“ (siehe Daase 1999) oder „Bürgerkrieg“ (vgl. u.a. Schnur 1983: 120-145; Waldmann 1997: 480-500) verstehen sie als andere Phänomene, die nicht den Kern ihrer neuen Erkenntnisse[1] träfen (vgl. Kaldor 2000: 8f.; Münkler 2002: 43-48).

Neben dieser Abgrenzung, die auf die Etablierung des eigenen Begriffes in der Forschungslandschaft abzielt, lehnen beide insbesondere das Clausewitzsche Kriegskonzept[2] des „klassischen“ Staatenkrieges als veraltet ab (Kaldor 2000: 26-50; Münkler 2002: 59-75).[3] Den zeitlichen Rahmen der „alten Kriege“ schließen beide mit dem Ende des Kalten Krieges im Jahre 1990 (vgl. Kaldor 2000: 11; Münkler 2002: 7). Während Kaldor (2000: 26f.) den Start ungenau auf die Bruchstelle zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert datiert, beginnt Münkler (2002: 75) eindeutig mit dem Jahr 1648. Der Dreißigjährige Krieg, der zum Großteil auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation stattfand, fungiert dabei Münkler (2002: 75) „als Analyserahmen und Vergleichsfolie der neuen Kriege“.[4]

So räumen selbst Kaldor (2000: 50, 146) und Münkler (2002: 44, 145) ein, dass viele Beobachtungen nicht wirklich neu seien. Für Münkler (2002: 75-88) stellen die „neuen Kriege“ lediglich eine Rückkehr in die staatenlose Zeit vor 1648 dar.[5] Der entscheidende Unterschied bestehe laut Münkler (2002: 43) darin, „[...] dass das, was immer schon und auch in den Staatenkriegen eine mehr oder wenige ausgeprägte Begleiterscheinung des Krieges war, in vielen der neuen Kriege in den Mittelpunkt getreten und zum eigentlichen Zweck geworden ist.“ Auch Kaldor (2000: 160) sieht dies vor allem hinsichtlich der Gewaltdiffusion ähnlich. Durch den Zeitrahmen und dem Clausewitzschen Konzept ergeben sich für die beiden Autoren mehrere Kennzeichen der „alten Kriege“ (vgl. Kaldor 2000: 31, 37, 144; Münkler 2002: 59-89, 144-153):

a) der Krieg als Mittel zur Verfolgung von Staatsinteressen;
b) die Regulierung der Gewalt durch verschiedene Konventionen;
c) die herrschende Dreiteilung Armee, Volk, Gesellschaft;
d) das Vorherrschen von Staatenkriegen;
e) die Geopolitik als Hauptziel des Krieges.

Nach der Dekonstruktion des Argumentationsmusters von Kaldor und Münkler lässt sich feststellen, dass beiden die These der Entstaatlichung des Krieges als ein Hauptmerkmal der „neuen Kriege“ und Startpunkt ihrer Beweisführung dient. Erst auf dieser Grundlage lassen sich die Gedankengänge der beiden Autoren verstehen. Die Entstaatlichungs-These bringt Münkler (2002: 7) bündig mit der Aussage, der „Staat hat als Monopolist des Krieges abgedankt“ auf den Punkt. Für diesen Umstand macht Kaldor (2000: 12-14) zwei Faktoren verantwortlich: Während es von „oben“ zu einer zunehmenden Transnationalisierung des Militärs und dem Ausbau internationaler Normen komme, spiele von „unten“ die steigende Privatisierung der Gewalt eine einschneidende Rolle. Vor allem bei Kaldor (2000: 10-14) kommt dem Globalisierungsprozess bei der Aushöhlung des Staates eine zentrale Bedeutung zu.

Aufgrund dieser Beobachtung ergeben sich für die beiden Wissenschaftler zahlreiche Konsequenzen für das Kriegsgeschehen. Der deutlichste Ausdruck zeige sich im steigenden Auftreten von paramilitärischen und privaten Akteuren, wie etwa Warlords, Söldnern, privaten Sicherheitsfirmen oder Terroristen und gleichzeitigem Abnehmen regulärer Streitkräfte (vgl. Kaldor 2000: 147; Münkler 2002: 7, 11, 33). Dabei träten insbesondere Söldner, wie die afghanischen Mudschahedin, als neue Protagonisten hervor (vgl. Kaldor 2000: 151; Münkler 2002: 40-43). In jedem Fall führe diese Entwicklung zu einer Asymmetrisierung[6], in der sich reguläre Streitkräfte nicht mehr gleichartigen Gegnern gegenüber stünden und sogar ein Kampf mit Bildern geführt werde (vgl. Münkler 2002: 11, 52).

Diese Tendenz wird laut Kaldor (2000: 153) und Münkler (2002: 10, 20, 39) durch die simple Zugänglichkeit zu leichten Waffen und die damit einhergehenden geringen Kriegsführungskosten verstärkt.[7] Als Paradebeispiel hierfür dient Münkler (2002: 19f.) die Geschichte des äthiopischen Militärregimes unter General Mengistu, das von der Sowjetunion stark unterstützt worden sei. Darüber hinaus sei das zunehmende Auftreten von Kindersoldaten eine weitere Folge aus der unkomplizierten Handhabung leichter Waffen (vgl. Kaldor 2000: 147-154; Münkler 2002: 36-40).[8]

Durch das Auftreten neuer, nicht-staatlicher Akteure kommt es ferner in den Augen Münklers (2002: 33) zu einer „Kommerzialisierung der kriegerischen Gewalt“. Dabei spiele potenzieller Reichtum eine wichtigere Rolle als erlebte Armut (vgl. Münkler 2002: 17). Ein weiteres hervortretendes Merkmal bei der Kommerzialisierung sei die verstärkte Herausbildung von Kriegsökonomien, was vielfältige Ursachen habe.[9]

In der Ansicht der beiden Autoren gibt es eine Kriegsführung zum Zwecke der Selbsterhaltung. Es müsse Krieg geführt werden, um weiter Krieg zu führen oder in den Worten des Römers Cato des Älteren: bellum se ipsum alit (vgl. Kaldor 2000: 20; Lautenbach 2002: 101; Münkler 2002: 20).[10] Deutlich erläutert diesen Umstand Münkler (2002: 29): „Der Krieg wird zur Lebensform: Seine Akteure sichern ihre Subsistenz durch ihn und nicht selten gelangen sie dabei zu beträchtlichen Vermögen.“[11] Auch Kaldor (2000: 174) vertritt die gleiche Sichtweise: „Um ihre Machtposition wie ihren Zugriff auf Ressourcen zu festigen, sind die Kriegsgegner auf einen mehr oder weniger permanenten Konflikt angewiesen.“

Daneben spielt laut Kaldor (2000: 20) auch die Unterstützung von außen durch „Zuwendungen der Diaspora, die ‚Besteuerung‘ von humanitären Hilfslieferungen, Unterstützung durch Nachbarstaaten sowie illegalen Handel mit Waffen, Drogen oder wertvollen Rohstoffen, etwa Öl oder Diamanten“ eine wichtige Rolle, die sich aber ebenfalls nur durch eine Fortsetzung der Gewalt aufrecht erhalten lasse. Des Weiteren habe an dieser Entwicklung der Prozess der Globalisierung entscheidenden Anteil.[12] So ist Kaldor (2000: 161) der Meinung, dass „die wirtschaftliche Situation in den Gebieten, in denen sich die neuen Kriege abspielen, in extremer Form unter der Globalisierung [leidet].“ Durch die heutige internationale Vernetzung sei es problemlos möglich, dass die verschiedenen Kriegsunternehmer mit Unterstützern jeglicher Form in Kontakt treten können und Schattenwirtschaften entstehen (vgl. Kaldor 2000: 19f., 163f.; Münkler 2002: 20, 29). Ein weiterer Beleg sind für Kaldor (2000: 162f.) die „zahllosen Kontrollpunkte, mittels deren die Versorgung mit Nahrung und lebenswichtigen Gütern gesteuert wird. Belagerungen und Blockaden sowie Gebietsaufteilungen zwischen verschiedenen paramilitärischen Gruppen erlauben es den Kampfeinheiten, die Marktpreise zu bestimmen.“

Die Symbiose aus der Erscheinung von parastaatlichen Akteuren und der Kriegsführung zur Sicherung des Lebensunterhaltes hat laut den beiden Forschern eine schwerwiegende Konsequenz: die Enthemmung der Gewalt oder in den Worten Münklers (2002: 33) die „Diffusion von Gewaltanwendung“. Der Grund dafür liege vornehmlich darin, dass sich die neuen Akteure einer an ihre Vordenker Mao Zedong und Che Guevara angelehnten Guerilla-Taktik bedienten, die sich der Taktik des ständigen Rückzuges[13] und der Umgehung einer Entscheidungsschlacht bedient, aber sich zugleich eines anderen Mittels zum Zweck zu eigen macht: Statt die Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen, verfolgen die „neuen“ Kriegsakteure eine Politik der Furcht und des Hasses (vgl. Kaldor 2000: 154-157; Münkler 2002: 33-36). Eine „Organisation von Angst“ nehme nach Münkler (2002: 29) eine zentrale Stellung ein.

Die Folgen dieser Politik von „Furcht und Hass“ sind in den Augen der Autoren desaströs und resultieren insbesondere aus der fehlenden Gebundenheit der Warlords und Söldner an bestehendes kodifiziertes Kriegsrecht. Neben dem Fehlen einer formalen Kriegserklärung, sei auch das ius in bello ohne Bedeutung (vgl. Kaldor 2000: 160; Münkler 2002: 56f.). Zum einen führe dies laut Münkler (2002: 11) zu einer Autonomisierung der Akteure. Zum anderen könne der Krieg nicht länger durch ein Friedensabkommen beendet werden, was eine Erklärung für die längere Dauer innergesellschaftlicher Konflikte sei (vgl. Münkler 2002: 24f.). Die „neuen Kriege“ haben in den Worten Münklers (2002: 27) „weder einen identifizierbaren Anfang noch einen markierbaren Schluss“. Hinzu komme, dass sich viele Akteure Maos Konzept der „strategischen Defensive“ bedienten. Dazu Münkler (2002: 26): „Sie gebrauchen die militärische Gewalt im Wesentlichen zum Zwecke der Selbsterhaltung, ohne je ernsthaft eine militärische Entscheidung zur Beendigung [...] anzustreben. Wird der Krieg von beiden Seiten mit dieser Absicht geführt, so ist klar, dass er, wenn hinreichend interne oder externe Ressourcen zur Verfügung stehen, im Prinzip endlos dauern kann. Dabei ist er oft als Krieg gar nicht mehr identifizierbar [...].“[14]

Aus dieser Perspektive erscheint es nicht überraschend, weshalb Völkermord, Vergewaltigungen, Flüchtlingsströme, Hungertote oder die Taktik der verbrannten Erde zu einem zentralen Kennzeichen geworden sind (vgl. Kaldor 2000: 155-158; Münkler 2002: 28-31). Verbunden mit den Charakteristika der Guerilla-Taktik diene nicht länger eine Entscheidungsschlacht, sondern ein Massaker als Mittel im Krieg (vgl. Münkler 2002: 146). Unter dieser Prämisse steigt zwangsläufig die Anzahl der Zivilisten[15] unter den Opfern. Nicht ohne Grund habe sich das Verhältnis der Gefallenen von Kombattanten zu Nicht-Kombattanten, das Anfang des 20. Jahrhunderts noch bei 9:1 Prozent lag, mittlerweile fast umgekehrt (vgl. Kaldor 2000: 160; Münkler 2002: 28)[16]. Auch die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen sei laut Kaldor (2000: 160) zwischen 1975 und 1995 von 2,4 auf 14,4 Millionen gestiegen. Somit ergäben die fehlende Regulierung und das Auftreten nach Anerkennung, Macht und Ruhm strebender, oft jugendlicher Protagonisten eine gefährliche Mischung, in der sich nach Münkler (2002: 139) „die erfahrene Demütigung in Verbindung mit der schlagartigen erlangten Macht, die keinen militärischen Disziplinierungsprozess durchlaufen hat, zu Gewaltexzessen [führt], in denen sich aufgestauter Hass und hemmungslos ausgelebte Allmachtsphantasien miteinander verbinden.“[17]

Kaldor (2000: 15) unterschied die „neuen Kriege“ „eindeutig hinsichtlich ihrer Ziele, der Art der Kriegführung und ihrer Finanzierung“. Während die beiden letzten Punkte bereits ausführlich erörtert wurden, gilt es noch die Ziele genauer herauszuarbeiten.

In kriegstechnischer Hinsicht wäre eine neue Logik in der Kriegsführung zu nennen, in der laut Kaldor (2000: 160) „Kriegsziele zweckrational verfolgt und normative Beschränkungen abgelehnt werden.“ Ein weiterer Aspekt ist in Bezug auf die ökonomische Komponente der „neuen Kriege“ zu nennen. Dabei macht Münkler (2002: 43) drei Ziele der Bereicherung aus, die auf die längere Dauer innerstaatlicher Kriege und den entstehenden Nach- statt Vorteil durch einen dauerhaften Kriegsverzichtes begründet seien. Diese Bereicherung reicht von der Sicherung des unmittelbaren Lebensunterhaltes, über die Erzielung beträchtlicher Gewinne, die es erlauben, gewisse „Träume“ auszuleben, bis hin zu unvorstellbaren Vermögen.

Auch politische Pläne als dritte Dimension haben sich in den „neuen Kriegen“ verändert, wenngleich sich Kaldor und Münkler hier ausnahmsweise stark widersprechen. Während für Münkler (2002: 34) politische Ziele von Warlords nur Mittel zum Zweck des „Beutemachens mit anderen Mitteln“ seien, widerspricht Kaldor. Obwohl Kaldor (2000: 65) wie auch Münkler (2002: 18-22) Staatszerfalls- statt Staatsbildungskriegen präferiert, verfolgt sie diesen Strang nicht so deutlich wie Münkler.[18] Sie ist der Meinung, dass die „neuen Kriege“ politische Zielsetzungen haben und zum Zwecke staatlicher Macht geführt würden.[19] Die Argumentation Münklers, dass der Krieg entpolitisiert und grundsätzlich aus ökonomischen Gründen geführt werde, ist problematisch (vgl. Schlichte 2006: 117-120). Auch Matthies (2005: 186f.) zeigt auf, dass Gewalt nicht die Errichtung eines Staates als Ziel haben muss und dennoch Parallelgesellschaften und Formen politischer Autorität, Legitimität und Machtausübung herausbilden kann. Daher wird an dieser Stelle Kaldors Sichtweise, dass auch „neue Kriege“ politische Zielsetzungen aufweisen, gefolgt.

3. Konzeptualisierung der Thesen von Kaldor und Münkler

Die dargelegte Ausarbeitung der verschiedenen Thesen von Kaldor und Münkler ermöglicht im folgenden Schritt eine Konzeptualisierung, die im abschließenden Kapitel dieser Arbeit als Grundlage der historischen Analyse des Fallbeispiels dient.

Es konnten vier argumentative Hauptstränge in den Werken der Autoren identifiziert werden, die teilweise nur schwer voneinander trennbar sind, jedoch alle aussagekräftig für sich alleine stehen: Die Entstaatlichung der Gewalt und die Privatisierung der Gewaltakteure; die asymmetrische Kriegsführung; die Enthemmung der Gewalt sowie die Kommerzialisierung und ökonomische Gewaltmotive (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Merkmale der „neuen Kriege“ nach Kaldor und Münkler

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Darstellung.

[...]


[1] Während Kaldor ihre Erkenntnisse hauptsächlich aus ihrer Fallstudie zu Bosnien-Herzegowina zieht, beschäftigt sich Münkler vor allem mit Staaten des afrikanischen Kontinents.

[2] Der Bezug erfolgt insbesondere auf das bekannte Werk „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz, das unvollendet im Jahr 1832 im Original herausgegeben wurde.

[3] Trotzdem sind „neue Kriege“ in ihrer Gestalt am ehesten mit den „alten Bürgerkriegen“ zu vergleichen (vgl. Zangl/Zürn 2003: 182-187; Kahl/Teusch 2004: 385; Heupel/Zangl 2004: 349f.). Diese Überlegung war ebenfalls ein wichtiger Grund für die Auswahl des Nigerianischen Bürgerkrieges.

[4] Obgleich die Eingrenzung hilfreich ist, wird durch das Vakuum vor 1648 deutlich, dass „neue“ Merkmale schon früher Gegenstand kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen sein können. Somit wird auch an dieser Stelle die Notwendigkeit einer fundierten historischen Analyse deutlich.

[5] Die europäische Staatenbildung lässt sich allerdings nicht exakt auf das Jahr 1648 datieren. In Deutschland erfolgte sie beispielsweise erst im Jahr 1871 nach dem Sieg im deutsch-französischen Krieg unter der Führung Preußens. Auch in Italien gelang dies erst 1860 durch Garibaldi und Cavour.

[6] Einen wichtigen Beitrag zur Bedeutung des Asymmetrie-Begriffes liefert Winter (2011: 510) mit dem Fazit seiner kritischen Diskursanalyse: „The asymmetric war discourse offers an umbrella for a diverse assortment of contemporary conflict constellations and a framework for interpreting and reinterpreting past and present conflicts. Yet the language of asymmetry […] also introduces a normative schema that moralizes and depoliticizes the difference between states and non-state actors and between regular and irregular forces. The discourse of asymmetry allows states to moralize their vulnerability to certain kinds of tactics; to selectively rationalize brutal tactics against non-state actors; to justify collective punishments of entire populations; and to defend maneuvers that cause high casualties among civilians.“.

[7] Einen interessanten Einblick über den Einfluss von Kleinwaffen in „alten“ und „neuen“ Krieg bietet Schmidt (2002). In dieser PROKLA-Ausgabe befinden sich weitere spannende Analysen zum Thema.

[8] Neben der Unverantwortlichkeit des Einsatzes von Minderjährigen in Kriegen, berge die Erscheinung der jugendlichen Soldaten laut Münkler (2002: 142-153) ebenfalls enormes (negatives) Potenzial bezüglich der Sexualisierung von Gewalt.

[9] Andere Autoren, wie Collier (2005) oder Elwert (1997), konzentrieren sich deutlich stärker bzw. fast ausschließlich auf ökonomische Kriegsgründe.

[10] Duffield (1994: 50) bezeichnet diese paradoxe Situation als „Transfer von Vermögenswerten“, wobei eine Umverteilung der Vermögen für die Kampfeinheiten eintritt.

[11] Münkler (2002: 49) sagt weiter: „Jedenfalls bilden sich Kriegsökonomien aus, die kurzfristig durch Raub und Plünderungen, mittelfristig durch unterschiedliche Formen von Sklavenarbeit und längerfristig durch die Entstehung von Schattenökonomien gekennzeichnet sind, in denen Tausch und Gewaltanwendung eine untrennbare Verbindung eingehen.“

[12] Umfassend wird der Globalisierungseinfluss bei Ehrke (2002) erörtert.

[13] Zum Konzept des ständigen Rückzuges ein Zitat von Mao Zedong (zit. nach Kaldor 2000: 155): „Die Flucht ist das wichtigste Mittel, um die Passivität zu überwinden und die Initiative zu ergreifen.“

[14] Die These von der längeren Dauer von innerstaatlichen im Vergleich zu zwischenstaatlichen Kriegen ist in der Forschung am unumstrittensten (vgl. Chojnacki 2006: 47f., 61). Mit diesem Zitat lehnt sich Münkler stark an den Militärhistoriker van Creveld (1991a) an, der das Phänomen des plötzlichen Aufflackerns und Beruhigung des Konfliktes unter dem Begriff „low intensity wars“ beschreibt.

[15] Es ist zu beachten, welche Personengruppen als Zivilsten eingeordnet werden. Artikel 5 der 4. Genfer Konvention vom 12. August 1949 zeigt, dass es in der Beurteilung durchaus einen Ermessensspielraum gibt: „Wenn in einem besetzten Gebiet eine durch das Abkommen geschützte Einzelperson [...] unter dem gerechtfertigten Verdacht festgenommen wird, eine der Sicherheit der Besetzungsmacht abträgliche Tätigkeit zu entfalten, können ihr, falls dies aus Gründen militärischer Sicherheit unbedingt erforderlich ist, die in diesem Abkommen vorgesehenen Mitteilungsrechte entzogen werden.“

[16] Die Daten beruhen allerdings auf einer unklaren Grundlage, wie auch Münkler (2002: 247) zugibt (vgl. Chojnacki 2006: 50). Bemerkenswert ist, dass die einzige historisch-systematische Studie zu einem anderen Ergebnis kommt. Dabei habe der Anteil der zivilen kriegsbedingten Opfer seit dem 18. Jahrhundert relativ konstant bei ungefähr 50 Prozent gelegen (vgl. Eckhardt 1989: 90).

[17] Insbesondere unter dem Punkt der Enthemmung der Gewalt hat der Ansatz der „neuen Kriege“ Kritik erfahren (vgl. Kalyvas 2001: 113-116; Kahl/Teusch 2004: 392-394; Newman 2004: 181-183; De Nevers 2006: 374-387). Waldmann (1997: 483) verweist zu Recht darauf, dass schon immer besondere Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit ein Merkmal von Bürgerkriegen war.

[18] Herbst (1996: 121f.) hat in beiden Fällen einen berechtigten Einwand, indem er zu Recht anmerkt, „daß [sic] viele afrikanische Staaten nie über eine staatliche Souveränität im modernen Sinne verfügten.“ Daher stellt sich die berechtigte Frage, inwieweit von Staatszerfall zu sprechen ist, wenn der Staatsbildungsprozess bereits scheiterte (vgl. Kahl/Teusch 2004: 398f.).

[19] Sie argumentiert mit einer Politik der Identität und des Ausschlusses (vgl. Kaldor 2000: 22, 121, 174). Auch an dieser Stelle wird Kaldors (2000: 121-138) Rückgriff auf die Globalisierung deutlich, die sie als Interaktionsvariable für die beiden Quellen der „neuen“ Politik der Identität ansieht. Inwieweit diese Politik mit klaren Feindbildern wirklich „neu“ ist, bleibt allerdings äußerst diskutabel. Beispielsweise ist die Entmenschlichung des Feindes schon länger ein Forschungsthema (u.a. Fine 2010).

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Das Konzept der neuen Kriege. Eine kritische Betrachtung des nigerianischen Bürgerkrieges
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Gesellschaftswissenschaften)
Veranstaltung
Konzepte und Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
28
Katalognummer
V308577
ISBN (eBook)
9783668067325
ISBN (Buch)
9783668067332
Dateigröße
609 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neue Kriege, Nigeria, Bürgerkrieg, Nigerianischer Bürgerkrieg, Biafra, 1966, Münkler, Kaldor, Entstaatlichung, Asymmetrische Kriegsführung, Kriegsökonomie, Frieden, Konflikt
Arbeit zitieren
Christian Wölfelschneider (Autor:in), 2013, Das Konzept der neuen Kriege. Eine kritische Betrachtung des nigerianischen Bürgerkrieges, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308577

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