Eskalierte Elternkonflikte bei der Scheidung

Wie kann eine psycho-soziale Interventionspraxis im Kontext hochkonflikthafter Trennungen gelingen?


Bachelorarbeit, 2015

60 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hochkonflikthafte Trennungsfamilien – Theoriebildung, Merkmalsbestimmung und diagnostische Verfahren
2.1 Definitionsansätze und Merkmale von Hochkonflikt-Systemen
2.1.1 Individuelle Merkmale
2.1.2 Merkmale der Beziehungsdynamik
2.1.3 Soziodemographische Merkmale und hilfebezogene Kriterien
2.2 Das dreistufige Modell zur Einschätzung hochstrittiger Elternkonflikte nach Alberstötter
2.3 Situation und mögliche Reaktionen der Kinder im Hochkonflikt
2.3.1 Verminderte Erziehungsfähigkeit
2.3.2 Die Dynamik des Elternkonfliktes in seiner unmittelbaren Wirkung auf das Kind
2.3.3 Mögliche Reaktionen des Kindes auf die elterliche Konfliktdynamik
2.4 Diskussion der Theoriebildung und der diagnostischen Methoden zur Einschätzung des Konfliktniveaus
2.4.1 Diskussion weiterführender, qualitativer Diagnostik
2.4.2 Ein erstes Fazit und Überleitung zum Interventionsteil

3. Hochkonflikthafte Familien im familiengerichtlichen Verfahren
3.1 Das FamFG
3.2 Die Rolle des Jugendamtes und seine Interventionsmöglichkeiten im familiengerichtlichen Verfahren
3.3 Das Wohl des Kindes: Diskussion des familiengerichtlichen Verfahrens aus der Perspektive psychosozialer Praxis

4. Kriterien für eine gelingende Interventionspraxis bei hochkonflikthaften Trennungsfamilien
4.1 Beratungsarbeit mit HC-Eltern auf der Basis von Haltungen
4.2 Der Blick auf die Situation der Kinder und ihre Einbeziehung
4.3 Die Kooperation der professionellen Akteure mit dem Fokus Interdisziplinarität
4.4 Die Rahmenbedingungen der Beratungsarbeit

5. Schlussbetrachtungen

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Für die hier vorliegende Abschlussarbeit im Studiengang Soziale Arbeit (BA) habe ich das Thema „Eskalierte Elternkonflikte“ gewählt. Während meines Praktikums bei der Erziehungs- und Familienberatung in Berlin-Lichtenberg hatte ich in der Rolle des Co-Beraters die Gelegenheit, einige solcher Fälle mit zu begleiten. Hieraus sind spezifische Fragestellungen und die Motivation zu einer theoretischen und fachwissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas entstanden.

Seit der Kindschaftsrechtsreform von 1998 nahm die Zahl der hochstrittigen Scheidungs- und Trennungsfamilien rasant zu, sie macht in den Beratungsstellen inzwischen einen beträchtlichen Anteil des Hilfebedarfs aus. Hierbei stoßen die Beratenden auf besonders schwierige und wenig erfolgversprechende Bedingungen, die sie vor Herausforderungen stellen, auf die es nach wie vor keine standardisierten Konzepte oder stimmige Beratungsansätze gibt. Andererseits ist aber gerade bei eskalierten und in der Regel lang andauernden Trennungskonflikten die teilweise wissenschaftlich belegte Gefahr gegeben, dass die Belastungen für beteiligte Kinder sehr hoch sind und nicht selten in den Bereich einer Kindeswohlgefährdung hineinreichen. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich ein dringender Handlungsbedarf für die vielen beteiligten, professionell Helfenden und die Frage nach den Kriterien, Leitlinien und Rahmenbedingungen für die Konzeption einer gelingenden Interventionspraxis und sozialpädagogisch ausgerichteten Hilfe. Dies ist auch die zentrale Fragestellung der hier vorliegenden Bachelor-Arbeit:

Nach welchen Kriterien lässt sich eine effektive, psychosoziale Interventionspraxis in Fällen einer hochkonflikthaften, elterlichen Trennung und Scheidung ausgestalten?

Ausgangspunkt für mein Vorgehen wird in Kapitel 2 die Darstellung einer in Ansätzen vorhandenen Theoriebildung und darauf aufbauenden Diagnostik des Phänomens Hochkonflikt bei Trennungsfamilien sein. Dem liegt die These zugrunde: Aus einem theoriebasierten und wissenschaftlich fundierten Verständnisrahmen lässt sich ein diagnostisches Instrumentarium entwickeln, das, angelegt an den konkreten (System-) Fall, zu einer passgenauen Konzeption und Auswahl an Interventionen in der Praxis führt.

In die Theoriebildung und die Formulierung der Kriterien fließt auch die wissenschaftliche Auswertung der bisher gewonnenen Erfahrungen der Praktikerinnen und Praktiker in diesem Feld ein. Aus dieser Perspektive lautet die Fragestellung: Was hat sich hierzulande in der bisher etwa 15-jährigen Praxiserfahrung aus der Anwendung des Interventionsspektrums auf eskalierte Elternkonflikte bewährt? (Kapitel 2 und insbesondere Kapitel 4)

Die Konfliktdynamik der Trennungsfamilien ist in den meisten Fällen in das reformierte, familiengerichtliche Verfahren eingebunden, das vor allem strittige Fragen um Sorge und Lebensmittelpunkt des Kindes, sowie den Umgang des Kindes mit dem getrennt lebenden Elternteil regeln soll. Wie die juristische Grundlage beschaffen ist, welche Anteile sie an einer Konflikteskalation haben kann und welche Potentiale sie bietet für eine einvernehmliche Lösung zum Wohl des Kindes, beinhalten die Erörterungen des 3. Kapitels. Hier wird auch die Wechselwirkung zwischen familiengerichtlichen Verfahren und psychosozialer Interventionspraxis und die Rückwirkung dergleichen auf das Verfahren am Beispiel der Rolle und Einflussmöglichkeiten des Jugendamtes aufgezeigt. Die Diskussion des Begriffes ‚Kindeswohl‘ führt in diesem Kapitel schließlich zu einer aus sozialpädagogischer Sicht kritischen Betrachtung der Verfahrenspraxis.

Im 4. Kapitel fließen schließlich Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus den vorangegangenen Themenkomplexen und Diskussionen in wesentliche Kriterien und Bausteine für die Konzeption einer gelingenden (Beratungs-) Interventionspraxis ein.

2. Hochkonflikthafte Trennungsfamilien – Theoriebildung, Merkmalsbestimmung und diagnostische Verfahren

Für jede Familie ist1 die Zeit von Trennung und Scheidung eine Zäsur mit besonderen Belastungen: Ein Lebensentwurf hat sich zerschlagen und die Zukunft ist meist voller Ungewissheiten. Insbesondere minderjährige Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung stabile Verhältnisse, die in der Nachtrennungsphase noch gefunden werden müssen. Der überwiegende Teil der Trennungspaare erweist sich dabei als kompetent, trotz Trennungsschmerz und Organisationsstress die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht aus den Augen zu verlieren. Sie finden relativ schnell und ohne institutionelle Hilfe zu einer praktikablen Umgangsregelung. Ein anderer Teil sucht zur Unterstützung in der schwierigen und konflikthaften Lebensphase eine Erziehungs- und Familienberatung auf und kann schließlich die gemeinsame elterliche Verantwortung im Umgang mit den Kindern einvernehmlich wahrnehmen. Doch es gibt auch die Trennungsfälle, die ihre Konflikte über Monate und Jahre in Umgangs- und Sorgerechtsauseinandersetzungen auf einem stets hohen Eskalationsniveau führen. Durch das in hohem Maße dauerhaft belastete Familienklima wird die emotionale und gleichermaßen auch die kognitive Entwicklung der betroffenen Kinder nachhaltig gestört und gerät in vielen Fällen in den Bereich der Kindeswohlgefährdung (Paul, 2008, S. 2). Zudem binden die nach eher zurückhaltenden Schätzungen 5% Hochstrittigen hierzulande bis zu 95% der Kapazitäten der professionellen Helfer2 mit oftmals erheblichen Kosten sowohl für die Justizkasse im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahrens als auch im Zuge abgerufener Leistungen der Jugendhilfe für Umgangsbegleitungen und Therapien (Dietrich & Paul, 2006, S. 13). In den USA schätzt man die Zahl der „high-conflict cases“3 auf etwa 10% (Paul & Dietrich, 2007, S. 8). Bröning geht sogar von 10-25% Trennungsfamilien aus, die noch über lange Zeit konfliktbelastet bleiben (Bröning, 2009, S. 13). Eine genauere Zahl zu bestimmen ist aus unterschiedlichen Gründen schwierig. Nur wenige Studien wurden in Deutschland zum Thema hochkonflikthafte Trennungsfamilien durchgeführt, gar nicht zu reden von einer einheitlichen Definition oder gar verlässlichen statistischen Erhebungen4. Daher ist die Schätzung der hoch belasteten Kinder noch wesentlich ungenauer. Fichtner geht in seiner Expertise zum nachfolgend beschriebenen Forschungsprojekt von 10-15.000 Kindern und Jugendlichen jährlich aus. Die Zahl kumuliert auf 50.000 bei einem in der Regel über Jahre andauerndem Streit (Fichtner, 2007, S. 7).

Zentrale Aufgabenstellung des von 2007-2010 durchgeführten Forschungsprojekts „Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft“5 war die differenzierte Erfassung und Beschreibung von Hochkonflikt-Familien und ihrer Kinder an sieben Standorten in der Bundesrepublik sowie die Bewertung unterschiedlicher Interventionsformen (Fichtner et al., 2010, S. 7-31). Die daraus entstandenen Expertisen und Veröffentlichungen sind die Hauptbezugsquelle der hier vorliegenden Arbeit. Zur Einschätzung des Konfliktniveaus wurden Messinstrumente und Ergebnisse der anderen bis dahin im deutschen Sprachraum durchgeführten Studien von Stupka (2002), Winkelmann (2005) und Bröning (2009) integriert und vergleichend herangezogen (Fichtner et al., 2010, S. 40). Da seither kein umfangreicheres und differenzierteres Forschungsprojekt zum Thema stattfand, werde ich mich auf die Erkenntnisse des Forschungsprojekts als aktuellen Stand der Forschung beziehen.

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels zeige ich Definitionsversuche von Hochkonflikthaftigkeit und Unterscheidungsmerkmale in Abgrenzung zu nicht-hochkonflikthaften Systemen auf. Ein dreistufiges Konflikteskalationsmodell hat sich – mangels wissenschaftsbasierter Diagnosekriterien – bei Praktizierenden bereits etabliert. Doch ist es auch als diagnostisches Schema verlässlich? Auch der Blick auf die Situation der Kinder und ihre Belastungen verraten viele Aspekte der Konfliktdynamik der Eltern. Der Suche nach Indikatoren zur frühen Erkennung des Konfliktpotentials und einer fundierten Einschätzung des Konfliktniveaus in diesem Kapitel liegt die These zu Grunde: Nur durch eine präzise Diagnostik lassen sich Kriterien für eine der Bedürfnislage der Familien angemessene und wirkungsvolle Interventionspraxis aufstellen.

2.1 Definitionsansätze und Merkmale von Hochkonflikt-Systemen

Viele Praktiker identifizieren den Hochkonflikt in der Trennungsfamilie am formalen Kriterium des „Geschickt-Werdens“ durch Familiengericht oder Jugendamt (Bröning, 2011, S. 21), und stellen im Verlauf der Beratung weitere, zunächst einmal allgemein gefasste Charakteristika fest: das ausgeprägte „Verletzt-Sein“ zumindest eines Partners; das „Opfer-Sein“ und eine eindeutige Schuldzuweisung an den Anderen; eine auch in den Sitzungen stattfindende, „explosive“ Konfliktdynamik, die den Beratern alles abverlangt und nicht selten zum Abbruch der Beratung führt.

Aus der Trennungs- und Scheidungsforschung ist hinreichend bekannt, dass wohl die allermeisten Trennungen mit Gefühlen von Schmerz, Angst, Wut und Ohnmacht und daraus resultierenden Konflikten einhergehen (Dietrich & Paul, 2006, S. 16). Daher stellt sich die Frage nach den spezifischen Merkmalen von Hochkonflikt-Familien in Abgrenzung zu Trennungen, die ein Hochkonfliktniveau nicht erreichen.

Obwohl in den USA bereits seit über zwanzig Jahren zu den „high conflict devorces“ geforscht wird, woraus einige Interventionsprogramme6 hervorgegangen sind, gibt es nach wie vor kein einheitliches Verständnis und keine einheitliche Definition des Phänomens (Dietrich et al., 2010, S. 10). Das liegt wohl auch daran, dass HC-Familien7 in ihrer Gesamtheit eine sehr heterogene Gruppe darstellen, deren Auftreten und Intensität typischer Merkmale sehr stark variieren (ebd.).

Zur theoretischen Beschreibung und anschließenden empirischen Überprüfung von Hochkonflikthaftigkeit schlagen die Autoren des Projektes die folgende Begriffsbestimmung vor:

„Als hochkonflikthaft werden in dieser Studie jene Scheidungs- und Trennungsfamilien bezeichnet, in denen ein so hohes Konfliktniveau vorliegt, dass erhebliche:

- Beeinträchtigungen auf den Ebenen des Verhaltens und/oder der Persönlichkeit mindestens eines Elternteils;
- Beeinträchtigungen der Beziehung zwischen den Eltern untereinander und zwischen ihnen und dem Kind sowie;
- Beeinträchtigungen der Nutzung von institutioneller Hilfe zur Klärung der Konfliktsituation vorhanden sind.

Eine Reduktion der Konflikte und Klärung von Alltagsfragen erscheint auch mit rechtlichen und/oder beraterischen Hilfen deutlich erschwert. Eine Belastung der Kinder ist wahrscheinlich.“ (Dietrich et al., 2010, S. 12)

Diese Begriffsbestimmung knüpft eng an eine bereits 2004 von Homrich, Muenzenmeyer-Glover & Blackwell-White vorgenommene an. Der zufolge besteht Hochkonflikthaftigkeit dann,

„wenn bei wiederholter Gerichtspräsenz der Eltern:

- deren emotionale Probleme ursächlich erscheinen;
- die ehemaligen Partner unfähig oder nicht willens sind, solche Konflikte ohne Hilfe des Gerichts zu lösen, die andere Scheidungspaare autonom regeln;
- die Eltern ihre Kinder in die Paarkonflikte einbeziehen, die Beziehung zum anderen Elternteil belasten und Kinder potenziell emotionale und physische Schäden davon tragen;
- mehrere Versuche gescheitert sind, den Konflikt mit herkömmlichen außergerichtlichen Interventionen (Mediation) zu beenden.“ (zit. nach Dietrich et al., 2010, S. 12)

Vergleicht man die beiden Definitionsansätze, so unterscheiden sie gleichermaßen vier Merkmalsebenen von Hochkonflikthaftigkeit: individuelle Merkmale, Merkmale der Beziehungsdynamik, soziodemographische und hilfebezogene Merkmale. Substantielle Unterschiede sehe ich jedoch in Folge der Ausformulierung und im Sublimationskern gegeben. Wenn von „emotionalen Problemen“, die „ursächlich scheinen“ bei Homrich et al. die Rede ist, so lassen sich diese empirisch weniger gut erfassen und in Stellungnahmen für das Gericht auch nur vage beschreiben. Zudem birgt der interpretatorische Spielraum die Gefahr einer Vorverurteilung durch Zuschreibung von ursächlichen Emotionen. Bei Dietrich und Kollegen lassen sich dagegen „Beeinträchtigungen“ auf der Verhaltens- und Beziehungsebene leichter objektivieren, auch wenn es einer qualitativen Beschreibung und Kategorisierung bedarf, um sie als „erheblich“ einstufen zu können. Wesentlicher erscheint mir allerdings, dass die „wiederholte Gerichtspräsenz“ (bei Homrich et al.) als Prämisse für alle anderen Merkmale angesehen wird. Auch wenn die Praxis die verlässliche Relation von gerichtlicher Auseinandersetzung und Hochkonflikt zu bestätigen scheint, so wären alle Eltern vor Eskalation ihrer Konflikte bewahrt, die diese nicht zum wiederholten Mal vor Gericht austragen. Denkbar ist aber auch, dass aufgrund einer solchen Definition bestimmte Formen und Ausprägungen von Trennungskonflikten erst gar nicht erfasst werden, obwohl sie viele Faktoren von Hochkonflikthaftigkeit aufweisen.

Dagegen steht im Kern der Definition von Dietrich et al. das Konfliktniveau, in Abhängigkeit dessen es zu „erheblichen Beeinträchtigungen“ auf den verschiedenen Merkmalsebenen kommt. Demzufolge treten die charakteristischen Beeinträchtigungen erst ab einer bestimmten Eskalationsstufe des Elternkonflikts auf – unabhängig von einem formalen Kriterium wie der wiederholten Gerichtspräsenz. Im theoretischen Teil muss die Variable Konfliktniveau auch gar nicht weiter formal bestimmt werden. In der empirischen Forschung kann sie als Gradmesser eingesetzt werden, dessen Eichung auch wiederum durch empirisch gewonnene Erkenntnisse vorgenommen wird. Für die Untersuchung hat das Team einen Kurzfragebogen8 zur Einschätzung des Konfliktniveaus entwickelt, der sich gut bewährt hat und nun auch den Praktikerinnen zur Verfügung steht.

Die Begriffsbestimmung von Dietrich und Kollegen hat den Vorteil, mehrere Kriterien zu berücksichtigen und somit die Bandbreite hochkonflikthafter Familien empirisch zu erfassen. Und sie schließt auch weitere Faktoren, wie Gewalt, psychische Erkrankungen oder Substanzmissbrauch nicht aus, die eine zusätzliche Belastung der Kinder ausmachen können (ebd., S. 11).

Dieser weit gefassten Definition von HC-Familien möchte ich mich in dieser Arbeit aus zwei Gründen anschließen. Zum einen lassen sich HC-Eltern nur durch die Erfassung des Konfliktniveaus im Vorfeld einigermaßen identifizieren. Zum anderen konnte die Studie signifikante Korrelationen zwischen der unabhängigen Variable Konfliktniveau und weiteren Merkmalen aufzeigen (Fichtner et al., 2010, S. 43-49).

Die Merkmale wurden in die Kategorien „Individuelle Merkmale“, „Merkmale der Beziehungsdynamik“ und „Soziodemographische Merkmale und hilfebezogene Kriterien“ eingeteilt. In den nun folgenden drei Abschnitten fasse ich diese Kategorien auf Grundlage der Ergebnisse der empirischen Untersuchung aus dem Abschlussbericht (Fichtner et al., 2010, S. 32-49) und der dazu verfassten Handreichung für die Praxis (Dietrich et al., 2010, S. 13-18) zusammen.

2.1.1 Individuelle Merkmale

Mittels des Fünf-Faktoren-Modells (Big Five)9 aus der Persönlichkeitspsychologie wurde bei den HC-Eltern sehr deutlich eine reduzierte Offenheit für neue Erfahrungen und reduzierte Verträglichkeit (Dietrich et al., 2010, S. 13) festgestellt. Diese Eltern haben ein schwaches Interesse an neuen Erfahrungen, Erlebnissen und Eindrücken und eher traditionell-konservative Haltungen. Sie neigen eher zu Misstrauen und kühlen, kritischen Haltungen. Dagegen sind vertrauensbasierte Kooperation und Nachgiebigkeit seltener festzustellen.

Hinzu kommen unflexible Denkstrukturen (ebd.), die für ein rigides Denken und Handeln in Konfliktsituationen stehen und überwiegend bei Vätern festgestellt wurden. Die Fixierung auf eigene Ansichten und Feindbilder bewirkt Unverständnis für Reaktionen der Ex-Partnerin und ein Mangel in Bezug auf die Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse.

Ausschlaggebend ist auch die a ls gering erlebte Selbstwirksamkeit in der Elternbeziehung 10 (ebd.). Je geringer der laut persönlicher Überzeugung selbst eingeschätzte Handlungsspielraum in eskalierenden Konflikten, desto mehr fühlen sich die Eltern der Konfliktdynamik und dem ehemaligen Partner ausgeliefert und erleben sich tendenziell als hilflos und ihre Handlungsmöglichkeiten als eingeschränkt.

Wahrnehmungsverzerrungen (ebd., S. 14) im Sinne eines stark ausgeprägten „Schwarz-Weiß“-Wahrnehmungsmusters, bei dem der andere Elternteil als „böse“ oder „unfähig“ bewertet wird und man sich selbst als fähiger oder besser wahrnimmt, führen in eine Opfer-Haltung und deuten das Verhalten des Gegenübers als permanente Sabotage.

Ein weiteres typisches Merkmal ist die Eingeschränkte Emotionsregulation (ebd.) im Besonderen der trennungsbedingten Emotionen. Aufgrund eines Mangels an Bewältigungsstrategien im Umgang mit negativen Gefühlen werden Wut, Enttäuschung, Trauer und Hass weiterhin im Konflikt ausgetragen.

Weitere individuelle Besonderheiten: Depressionen und soziale Erwünschtheit (ebd.) Als Reaktion auf die Trennung ist depressives Verhalten neben anderen individuellen Besonderheiten, wie das Bemühen um eine positive Selbstdarstellung in der Beratung keine seltene Reaktionsweise der Hochkonflikthaften.

Neben den Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen hochkonflikthafter Eltern wurden auch elterliche Kompetenzen (ebd.) untersucht und den individuellen Merkmalen zugeordnet. Für diese Eltern ist es besonders schwierig, zwischen der Paar- und Elternebene zu unterscheiden. Ausdruck dessen ist das Unvermögen, negative Gefühle für den ehemaligen Partner zurückzustellen, um zugunsten der gemeinsamen Kinder zu kooperieren. Eine negative und emotional aufgeladene Wahrnehmung des Anderen als Person lässt seine/ihre elterlichen Kompetenzen zweifelhaft erscheinen. Wenn sich degradierende Äußerungen und Haltungen über den anderen Elternteil auch dem Kind auf direkte oder indirekte Weise mitteilen, ist bereits eine Art der Instrumentalisierung des Kindes vorhanden, die den bei Trennungen üblichen Loyalitätskonflikt11 der Kinder verschärft.

2.1.2 Merkmale der Beziehungsdynamik

Der Kommunikationsstil (ebd., S. 15) der Hochstrittigen in der aufeinander bezogenen Kommunikation ist oftmals gekennzeichnet durch emotionale Beteiligung und Feindseligkeit. Obwohl ein Bewusstsein für eine streitfreie, sachliche Kommunikation durchaus bestehen kann, so dominiert doch der Beziehungsaspekt. Wenn sich der eine Elternteil bei Differenzen zurückzieht, wird dies vom Anderen als Ignoranz oder Boykott wahrgenommen. Dialogbereitschaft hingegen wird nicht selten vom Anderen strategisch genutzt, um die eigene Position durchzusetzen. Eine Kommunikation, die den Bedürfnissen der Kinder dienlich wäre, können die Konfliktpartner tendenziell nicht aufrechterhalten. Stattdessen zeigt sich die Ambivalenz, einerseits den/die Ex-Partner/in aus dem eigenen Leben zu eliminieren und andererseits ihn/sie an sich zu binden.

Typische Konfliktthemen (ebd., S.16), gleichzeitig bzw. wechselweise ausgetragen, lassen sich in der Häufung in einer Rangfolge festlegen. In Bezug auf die gemeinsamen Kinder sind dies das Aufenthaltsbestimmungsrecht und der Umgang des Kindes mit seinem getrennt wohnenden Elternteil, dann erst folgen finanzielle Fragen. Die elterliche Beziehung betreffend kommen dann als Konfliktthemen das „Scheitern“ und der „Wunsch nach Klärung“. Dieselben Themen kehren immer wieder, aber dabei seltener in direkter Konfrontation des Konfliktpartners als bei den Nicht-Hochkonflikthaften. Stattdessen spielen sie sich auf der Ebene von Vorwürfen ab, ohne dass dabei tiefer liegende Konflikte thematisiert werden.

Als typisch gelten bei eskalierten Trennungen die folgenden gegenseitigen Vorwürfe: „• der andere Elternteil hetze das Kind gegen die ehemalige Partnerin/ den ehemaligen Partner auf; • der andere Elternteil sei nicht erziehungsfähig; • der andere Elternteil leide an einer Suchterkrankung; • der andere Elternteil vernachlässige das Kind; • das Interesse der ehemaligen Partnerin/ des ehemaligen Partners am Kind sei lediglich finanziell bedingt.“ (Dietrich et al., 2010, S. 16)12 Gewaltvorwürfe und Näherungsverbote zeigten sich bei der Untersuchung nicht als typische Charakteristika der HC-Eltern, genausowenig ließen sich die Vorwürfe geschlechtsspezifisch13 zuordnen.

2.1.3 Soziodemographische Merkmale und hilfebezogene Kriterien

Bei dem Forschungsprojekt „Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft“ konnte nicht ein einziges soziodemographisches Merkmal als typisch, weil signifikant häufiger vorkommend, bei HC-Eltern ausgemacht werden.

Besonders deutliche Unterschiede zu NHC-Eltern (Nicht-Hochkonflikt-Eltern) zeigten sich bei den hilfebezogenen Kriterien. Hierzu zählt die Gerichtsanhängigkeit: Der Regelungsbedarf durch aktuelle und abgeschlossene familiengerichtliche Verfahren in Sorge- und Umgangsfragen ist besonders hoch und subjektiv, aus Sicht der Streitenden, notwendig. Dabei schaffen sie es nicht, Neuregelungen autonom, ohne professionelle Hilfe zu erzielen. Hingegen hat sich die Empfehlung oder auch Auflage zur Beratung, vom Gericht oder Jugendamt veranlasst, nicht als typisch für HC-Eltern herausgestellt – dies gilt auch für bisherige und aktuelle Inanspruchnahme von Beratung. Die anwaltliche Vertretung, sowie der teils häufige Wechsel der Rechtsanwältinnen sind ebenfalls Indizien für einen Hochkonflikt. Ob nun die streitbaren Anwälte, die den Konflikt antreiben oder die steigende Konflikthaftigkeit zur Inanspruchnahme einer Vielzahl von Anwältinnen führen ist hierbei nicht bestimmbar. Möglich erscheint jedoch, dass mit steigender Konflikthaftigkeit „härtere“ anwaltliche Vertretungen engagiert werden.

2.2 Das dreistufige Modell zur Einschätzung hochstrittiger Elternkonflikte nach Alberstötter

Neben den typischen Merkmalen zur Erkennung von Hochstrittigkeit - die allerdings in einigen Fällen alle gemeinsam auftreten, in anderen wiederum nur vereinzelt und zudem noch unterschiedlich gewichtet – hat sich ein weiteres Instrument etabliert. Aus Sicht der Praktikerinnen erscheint es sinnvoll, die Konfliktentwicklung zu strukturieren und zu fraktionieren. Wenn man von der These ausgeht, dass mit steigendem Konfliktniveau die oben aufgeführten Merkmale sich häufen und in ihrer Intensität steigern, lassen sich durch voneinander unterscheidbare Eskalationsstufen, unterschiedliche Interventionen besser zuordnen, sind Konfliktniveaus besser voneinander abgrenzbar und Abbruchkriterien beim Hinwirken auf Einvernehmen14 besser zu definieren (Dettenborn, 2013, S. 231).

Inspiriert von dem 9-stufigen Phasenmodell der Konflikteskalation von Friedrich Glasl hat Uli Alberstötter dieses zu einem 3-Stufen-Modell zusammengefasst. Das hat sich als brauchbares diagnostisches Schema zur Einschätzung von hoch strittigen Elternkonflikten erwiesen (Alberstötter, 2006, S. 32) und wird inzwischen von professionellen Akteuren häufig antizipiert, um sich ein Bild über das Konfliktpotential, Intensität und personale Ausweitung zu einem komplexen Problemsystem zu machen.

Auf der ersten Stufe („Zeitweiliges gegeneinander gerichtetes Reden und Tun“) (ebd.) der Konfliktdynamik kommt es zu einer zeitweiligen Verhärtung der Positionen und vorübergehender Polarisation im Denken (Schwarz-Weiß-Denken). In den akuten Spannungszeiten kann es zwar zu verbalen Attacken und Schuldzuweisungen kommen und der Dialog ist vielleicht von quasi-rationalem Argumentieren bestimmt. Doch im Erleben, Denken, Reden und Handeln der Eltern dominieren deeskalierend wirkende Schutzfaktoren: Das Wohl des Kindes ist ein großer gemeinsamer Nenner, sie „wissen“, dass die beidseitige Elternbeziehung zum Kind wichtig ist und sie können die Paar- und Elternebene kognitiv noch gut trennen. Daher kehrt die Dialogbereitschaft nach einem „heißen Aussetzer“ (ebd., S. 33) relativ schnell wieder zurück. Zudem wirkt in diesen Fällen das soziale Umfeld mit Vernunftappellen eher mäßigend auf den Konflikt, und die (Beratungs-)Arbeit mit diesen Eltern ist aufgrund ihrer vielfältigen inneren und äußeren Ressourcen im präventiven Bereich angesiedelt.

Auf der zweiten Stufe („Verletzendes Agieren und Ausweitung des Konfliktfeldes“) weitet sich der Konflikt energetisch und im Hinblick auf die Zahl der „infizierten“ Personen aus (ebd.). Durch eine dekontextualisierte Mythenbildung wird die Immoralität und Bösartigkeit des Gegners teilweise sogar pathologisierend im Kontrast zum eigenen guten und vom anderen ausgebeuteten Ich dargestellt. Das andere wesentliche Merkmal dieser zweiten Stufe ist, dass andere Personen aktiv in den Konflikt einbezogen werden. Über die Herstellung von Öffentlichkeit soll der Gegner teilweise über „Degradierungszeremonien“ (ebd.) bloßgestellt werden. Versuche, Dritte nicht nur als moralische Richter mit einzubeziehen, sondern auch als Handelnde für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, schaden insbesondere Kindern aufgrund ihrer starken Loyalitätsbindung und laden zur Parteinahme bei professionellen Helfern ein. Wenn Freunde und die eigene Herkunftsfamilie zum solidarischen Agieren „verpflichtet“ werden, um den „bösen“ Teil aus dem Familien- und Freundeskreis zu verbannen, erschwert das zusätzlich die konstruktive Selbstorganisation des Streitpaares. Professionelle haben es hier bereits vielmehr mit zwei „komplexen Kraftfelder“ als mit „individuellen Spielern“ zu tun (ebd., S. 34). Der Konflikt droht zum chronischen Dauerzustand zu werden.

[...]


1 Der Begriff „Trennungsfamilie“ bezeichnet sowohl verheiratete als auch nicht verheiratete Ex-Paare.

2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit auf die alle Gender inkludierende Form (beispielsweise Helfer_innen) verzichtet – sollte beim Lesen aber, im Sinne des Autors immer mitgedacht werden! Ich werde nach Möglichkeit alternierende Geschlechterformen nutzen.

Zu den professionellen Helfern werden gezählt: Richter, Rechtsanwälte, Verfahrenspfleger, Gutachter, Sozialpädagogen und Psychologen.

3 Während in den USA der Begriff „high conflict“ verwendet wird, haben sich im deutschen Sprachraum die Begriffe „Hochstrittigkeit“ und „Hochkonflikthaftigkeit“ durchgesetzt. Beide Bezeichnungen werden im Rahmen dieser Arbeit verwendet.

4 Das Statistische Bundesamt führt nur Scheidungsraten und dazugehörige Zahlen der betroffenen minderjährigen Kinder auf. Daten zu nichtehelichen Trennungsfamilien werden nicht erhoben. Die im Zuge der Umsetzung des Kinderschutzgesetzes im Jahr 2012 eingeführte Statistik der Gefährdungseinschätzungen der Kinder- und Jugendhilfe lässt auch keine direkten Schlüsse auf Hochkonflikt-Kinder zu.

5 Das multiperspektivische (Verbund-) Forschungsprojekt und die daraus entstandene „Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien: Eine Handreichung für die Praxis“ wurden vorgelegt von: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke), Fürth; Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI), München; Institut für angewandte Familien-, Jugend- und Kindheitsforschung e.V. (IFK) an der Universität Potsdam.

6 Zum Forschungsstand und den Interventionsprogrammen in den USA siehe: (Paul & Dietrich, EXPERTISE A: Genese, Formen und Folgen „Hochstrittiger Elternschaft“: Nationaler und internationaler Forschungsstand, 2007); (Dietrich & Paul, Interventionsansätze bei hoch eskalierten Trennungskonflikten, 2006); (Walper & Krey, Elternkurse zur Förderung der Trennungsbewältigung und Prävention von Hochkonflikthaftigkeit: Das Beispiel "Kinder im Blick", 2011); unter anderen.

7 Abkürzung: HC-Familien, die ich alternierend mit den hier gleichwertigen Begriffen Hochkonflikt-Scheidungsfamilie und Hochkonflikt-Trennungsfamilie in dieser Arbeit verwenden werde.

8 Der Kurzfragebogen besteht aus acht Items, siehe (Fichtner et al., 2010, S. 38, 71f.) sowie seine Erörterung im Diskusionsteil 2.4.

9 Fünf wissenschaftlich gut belegte, stabile und weitgehend kulturunabhängige Faktoren zur Persönlichkeitsdiagnostik: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit. (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Big_Five_%28Psychologie%29 [12.05.2015])

10 Lediglich die Nachtrennungszeit korreliert mit dem Konfliktniveau mit der Spezifik, dass je weniger Belastet die Zeit vor der Trennung bewertet wurde und je geringer die eigene Trennungsinitiative ausfiel, desto höheres Konfliktniveau wurde erreicht – das hat sich auch mit umgekehrten Vorzeichen bestätigt (Fichtner et al., 2010, S. 44).

11 Hierzu mehr unter 2.3.2 und 2.3.3

12 Auf der Ebene der elterlichen Beziehung werden gehäuft Vorwürfe in Bezug auf verbale Aggressionen, starkes Rückzugsverhalten, zu geringes Einlenken bei Streitigkeiten sowie reduzierte Kompromissbereitschaft geäußert.

13 Die Studie wurde durchaus mit einem gendersensiblen Blick durchgeführt und sie dokumentiert im wissenschaftlichen Abschlussbericht auch einige genderspezifische Unterschiede, z.B. bei den soziodemografischen Merkmalen. Diese waren jedoch nicht signifikant und werden daher bei der allgemeinen Merkmalsbeschreibung nicht mit aufgeführt.

14 Siehe Kapitel 3.

Ende der Leseprobe aus 60 Seiten

Details

Titel
Eskalierte Elternkonflikte bei der Scheidung
Untertitel
Wie kann eine psycho-soziale Interventionspraxis im Kontext hochkonflikthafter Trennungen gelingen?
Hochschule
Alice-Salomon Hochschule Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
60
Katalognummer
V308215
ISBN (eBook)
9783668065512
ISBN (Buch)
9783668065529
Dateigröße
604 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
eskalierte, elternkonflikte, interventionspraxis, kontext, trennungen, scheidung
Arbeit zitieren
Marius Kolloch (Autor:in), 2015, Eskalierte Elternkonflikte bei der Scheidung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308215

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