Versuchsschulen in NRW und Hessen sowie Bildungsthesen nach Klafki, Meyer-Drawe und Dewey

Thesenpapier zum Abschlusskolloquium in Erziehungswissenschaften (1. Staatsprüfung)


Zusammenfassung, 2015

33 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhalt

Versuchsschulen des Landes NRW und Hessen
Bielefelder Laborschule
Helene Lange Schule Wiesbaden

Klafki: Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme

Meyer-Drawe „Lernen“

John Dewey – laboratory school in Chicago

Versuchsschulen des Landes NRW und Hessen

Bielefelder Laborschule

Die Schule soll den Kindern dabei helfen, erwachsen zu werden (Die Menschen stärken, die Sachen klären).

Die Laborschule folgt dabei folgenden pädagogischen Prinzipien:

- Schule soll Lebens- und Erfahrungsraum sein
- Schule soll eine Brücke zwischen der Familie und der Gesellschaft sein
- Schule soll sich in (4) Stufen vollziehen
- Schule soll zur geistigen und moralischen Selbständigkeit und Solidarität erziehen
- Schule soll zur Demokratie befähigen – durch die polis im Kleinen
- Schule soll ihre Umwelt mit einbeziehen und eine embryonic society sein
- Schule soll die Schüler ein Stück der besseren Welt erfahren lassen
- Schule soll durch anschauliche, bedeutende und lehrbare Beispiele den Zugang zur Kultur eröffnen und den Lehrern dafür die nötige Zeit geben
- Schule soll durch Handlung zur Erkenntnis führen und aufklären
- Schule soll keine einheitliche, starre Didaktik festlegen, sondern bestimmten didaktischen Grundprinzipien folgen

Didaktische Grundprinzipien:

- Soviel Belehrung wie möglich durch Erfahrung ersetzen
- Erfahrung ins Bewusstsein heben
- Verstehen ist ein Aneignungsprozess
- Ganzheitliches Vorgehen
- Gleichwertiges Nebeneinander von mündlichem, schriftlichem und handelndem Unterricht
- Lehrerteams schaffen Kontinuität
- Geistige, seelisch-soziale und körperliche Entwicklung erhalten mehr Aufmerksamkeit
- Lebensprobleme der Schüler ernst nehmen
- Die Gegenstände sind gemeinsam, Verfahren und Zugänge können unterschiedlich sein
- Keine äußere Differenzierung
- Keine Benotung bis zur 10. Klasse, sondern differenziertes Feedback/Beurteilung

Erziehung zur Demokratiefähigkeit

- Das erste Ziel der Laborschule ist die Erziehung zum Bürger
- Daher ist die Schule als polis zu organisieren, um dieses Ziel zu erreichen (wichtigste Hypothese)
- Die Schule als polis ist das Modell einer politischen, sich selbst regulierenden Lebens-und Lerngemeinschaft – in ihr soll die Belehrung durch Beteiligung abgelöst werden und den Menschen zur Selbstbestimmung inmitten zunehmender Systemzwänge befähigen
- Die polis ist das Bewusstsein von Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit > für dieses Bewusstsein braucht es gemeinsame Aufgaben, Aufgaben, die man mit anderen gemeinsam bewältigt
- Dieses Zusammenwirken will geregelt sein
- Unsere Gesellschaft hat sich für eine Regelung durch die Beteiligten, für die schwierige Demokratie entschieden
- Wenn die ersten Gemeinschaften demokratische, sondern autokratisch geprägt sind, werden sie später kein Zutrauen in die große Demokratie haben
- Notwendige Grunderfahrungen in der polis sind: „die Gemeinschaft ist wohlwollend, freundlich, erfreulich, verständlich; in der Gemeinschaft gelingt mir vieles, was mir alleine nicht vermag; die Gemeinschaft ist durch mich veränderbar, es lohnt daher die Grundregeln einzuhalten“
- Warum brauchen wir eine Schule, die als polis organisiert ist?

1. Wir müssen es mit den Lebensproblemen der Schüler aufnehmen, bevor wir ihre Lernprobleme lösen können. Dies ist nur durch eine Schule als Lebens- und Erfahrungsraum möglich.
2. Die Schule muss auch zu einem Lebensort für die Schüler werden, die wichtigsten Lebenserfahrungen müssen hier gemacht werden können.
3. Nur wenn wir im kleinen, überschaubaren Gemeinwesen dessen Grundgesetze erlebt und verstanden haben, werden wir sie in der großen polis wahrnehmen und zuversichtlich befolgen.

Die 4 Stufen an der Bielefelder Laborschule

Die Schule und somit die Steigerung vollzieht sich in 4 Stufen. Der Lernweg eines Schülers an der Laborschule ist kein Fließband, sondern eher eine Treppe mit 4 Stufen.

I. Stufe: (Jahrgang 0-2)

Es ist eine irrtümliche Vorstellung, dass die Gruppen groß sein können, wenn die Kinder klein sind und klein wenn sie groß sind. An der Laborschule ist dies umgekehrt.

Die erste Stufe ist durch die Kleinheit der Gruppe und dem Altersunterschied ihrer Mitglieder familienähnlich (Brücke).

Die Tätigkeiten haben keine neuen Namen und keine unbekannten Zwecke. Es gibt keine festgelegten Stunden, sondern eher einen Tageslauf, ein mit Bedacht gewählter Zeitrhythmus.

Integriertes Vorschuljahr: Die Aufnahme der Kinder im Vorschulalter ermöglicht ihnen einen "sanften" Übergang vom Leben in der Familie und in der Kindertagesstätte zum Leben und Lernen in der Schule.

Offener Unterricht in altersgemischten Gruppen: In den ersten drei Jahren leben und lernen die 5- bis 8jährigen zusammen. Die Kleineren lernen von den Größeren und nicht nur von den Erwachsenen. Jedes Kind lernt nach seinem eigenen Arbeitsrhythmus, ohne Zeit-, Leistungs- und Zensurendruck.

Ganzheitliches Leben und Lernen "am Tag entlang": Für die Kinder dieser Altersstufe gibt es keinen Stundenplan. Der Unterricht ist ungefächert. Der Tageslauf folgt einem Rhythmus, der den Bedürfnissen der Kinder Rechnung trägt. Spielen und Nach-draußen-Gehen kommen darin ebenso vor wie Lernen und Üben. Ruhe und Bewegung, Konzentration und Entspannung stehen in einem ausgewogenen Verhältnis. An drei Tagen in der Woche lernen und spielen alle Kinder einer Gruppe gemeinsam bis in den Nachmittag hinein. Eine Lehrerin/ein Lehrer und eine Sozialpädagogische Mitarbeiterin/ein sozialpädagogischer Mitarbeiter bilden ein Tandem, das die Gruppe über die ganze Woche hinweg betreut. Den Dienstag- und den Freitagnachmittag können die Kinder der Eingangsstufe auf Wunsch besuchen.

Spielerisches Lernen der ersten Fremdsprache: Alle Kinder lernen vom Vorschuljahr an Englisch in altersgemäßer Form: spielend, agierend, kommunizierend.

II. Stufe: (Jahrgang 3,4,5)

Umzug ins neue Haus und neue Zusammensetzung der Stammgruppen (20 Kinder je Stammgruppe > hier erfolgt eine Altershomogenisierung)

Ein Lehrer aus Haus 1 kommt mit und hinzu kommt max. ein weiterer Fachlehrer.

Offener Unterricht in jahrgangsübergreifenden Gruppen: Beim Lernen und Üben der Kulturtechniken werden den Kindern Angebote und Hilfen entsprechend ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen geboten.

Projekte: Ein großer Teil der Schulzeit dient dem ganzheitlichen, praktischen Lernen in Form von Gruppen- oder Jahrgangsprojekten, deren Ergebnisse öffentlich vorgestellt werden (Beispiele: Zirkusaufführung, öffentliche Lesung selbstgeschriebener Märchen und Geschichten, Theaterrevue, Film, Produktvorführung ...).

Vertiefendes Lernen der ersten Fremdsprache: Alle Kinder lernen ab dem 3. Schuljahr Englisch weiterhin in altersgemäßer Form: spielend, agierend, kommunizierend ... jetzt drei Stunden in jeder Woche.

III. Stufe: (Jahrgang 5-7)

Der bisherige Lebensbereich gliedert sich nun in 5 Erfahrungsbereiche. Die Zahl der Lehrer vermehrt sich. Die Kinder suchen nun auch häufiger Fachräume auf. Sie lernen, dass sich ihre Fähigkeiten mehr und mehr nach dem Gesetz der Sache richten.

Anders als Regelschulen gibt es an der Laborschule keinen vorgeplanten Lernweg dem je nach Schulform eine bestimmte Zukunft und Chance vorgeschrieben ist. Konkurrenzkämpfe werden verhindert. Der Ansatz in der Pädagogik geht vom einzelnen Kind aus. Trotzdem gibt es Lernziele und ein festes Pensum.

Lernen in Erfahrungsbereichen: Der Unterricht ist noch nicht in Fächer gegliedert, sondern in größere Einheiten, aus denen diese später hervorgehen:

- Umgang von Menschen mit Menschen (Sozialwissenschaft);
- Umgang mit Sachen: erfindend, gestaltend, spielend (Künste);
- Umgang mit Sachen: beobachtend, messend, experimentierend (Naturwissenschaft);
- Umgang mit Gedachtem, Gesprochenem und Geschriebenem (Sprache/n, Mathematik);
- Umgang mit dem eigenen Körper (Sport und Spiel)

Angebotsdifferenzierung: An die Stelle von Leistungsdifferenzierung tritt an der Laborschule die der Angebote. Vom 5. Schuljahr an können die Kinder Französisch oder Latein als 2. Fremdsprache lernen. Parallel zur 2. Fremdsprache werden Kurse in praktischem Lernen angeboten. Alle SchülerInnen können in "Wahlgrundkursen" ihre besonderen Fähigkeiten und Neigungen erproben und ausbilden. Zweimal im Jahr dürfen sie einen 3-stündigen Wahlkurs aus einem Angebot von 12 wählen > auf dem Wahlkursmarkt

Projekte und Reisen: Der Unterricht in Erfahrungsbereichen und Fächern ist zum großen Teil zu übergreifenden, mehrwöchigen Einheiten zusammengefasst, die oft Projektform haben. Im 7. Schuljahr machen alle SchülerInnen eine 2-wöchige Sportreise. Vorher haben sie in einem mehrstufigen Haushaltscurriculum die Grundlagen der Selbstversorgung gelernt. Projekte sind längere Unterrichtseinheiten und gemeinsame Unternehmen, an dem die einzelnen mit unterschiedlichen Aufgaben beteiligt sind und dessen Zweck die Herstellung eines Produkts ist. Dabei werden durch unterschiedliche Zugänge an einer Sache, Fragen und Erkenntnisschritte vollzogen, die verschiedene Fachgebiete abdecken. Darüber schreiben die Kinder zum Schluss eine Facharbeit.

An der Laborschule gibt es statt Hausaufgaben, Einzelarbeit, um somit die Ungerechtigkeit, dass manche Kinder zu Hause Hilfe bekommen, aufzuheben. Im Unterricht selbst ist das schriftliche Üben bereits integriert: die Unterrichtsstunde dauert daher auch 60 Minuten statt 45 Minuten. Außerdem dient die Eigenarbeit-/Freiarbeitsstunde dazu, ausstehende Arbeiten zu erledigen (Auf Stufe III 1 h, auf Stufe IV 2 h).

IV. Stufe (Jahrgang 8-10)

Hier gliedern sich die Erfahrungsbereiche nun in Fächer. Die Schüler erfinden die wissenschaftlichen Disziplinen gleichsam aus der Logik der Erkenntnisprozesse.

Die Wahlbereiche erweitern sich in Leistungskurse. Ca. 1/3 der Unterrichtszeit verbringen die Schüler in gewählten Kursen. Sie nehmen ihr Lernschicksal immer mehr selbst in die Hand.

Individuelle Abschlussprofile: Die Angebotsdifferenzierung in Wahl- und Leistungskursen erlaubt den Jugendlichen unterschiedliche Profilierungen. Als gleichrangige Angebote gibt es neben den klassischen "Hauptfächern" auch Technik, Sport, Kunst, Theater.

Einblicke in Arbeitswelt und Wirtschaftsstruktur: LaborschülerInnen machen im 8. - 10. Schuljahr drei Praktika: Im 8. Schuljahr sind sie zwei Wochen in einem Produktionsbetrieb, im 9. Schuljahr für drei Wochen in einem Dienstleistungsbetrieb, im 10. zwei Wochen in einem Betrieb eigener Wahl und eine Woche in der Schule, die sie später besuchen werden.

Jahresarbeiten: LaborschülerInnen fertigen in den oberen Jahrgängen insgesamt drei größere theoretische oder praktische Arbeiten an. Die Wahl des Themas und eines betreuenden Erwachsenen sowie die eigenständige Ausführung gehören zu dieser Aufgabe.

Learning for Europe: LaborschülerInnen verbringen im 9. Schuljahr drei Wochen in einem europäischen Land; dabei ist Englisch die gemeinsame Verständigungsbasis. Für weitere drei Wochen sind ihre PartnerInnen in der Laborschule. Die Schulen sind im Rahmen der Comenius-Stiftung miteinander vernetzt. Sie führen beispielsweise während des Austauschs gemeinsame Projekte miteinander durch. Darüber hinaus können LaborschülerInnen auf freiwilliger Basis weitere Lernerfahrungen im Ausland machen (Arbeit mit polnischen Jugendlichen an einem gemeinsamen Ökologie- Projekt, Austausch mit einer Schule in Italien und der romanischen Schweiz).

Das „Herz“ der Pädagogik der Bielefelder Laborschule: gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen, die nicht verschult sind!

Hartmut von Hentigs 4 Grundgedanken der Pädagogik:

- Entschulung der Schule (Ivan Illich): Illich: Die Schule lehrt in erster Linie die Unentbehrlichkeit von Schule > der Verabsolutierung der Schule muss entgegengewirkt werden Hentig: Schule muss entschult werden: Das Kind muss erfahren: „Lernen ist meine Sache, ich lerne und das bekommt mir. In der Schule wird mir dabei geholfen, vor allem durch die Gegenstände und Gelegenheiten, die sie bereitstellt. Ich werde immer unabhängiger von Beleherung, Lehrern und Lehrplänen.“

Mit der fortschreitenden Unabhängigkeit und Selbstbestimmung nimmt die Freude, Freiheit und Selbstverantwortung zu.

- Schule als Erfahrungsraum – embryonic society (John Dewey)

Dewey: Die Schule muss eine embryonic society sein, eine Gesellschaft im Kleinen und im Werden

Warum?

1. Die moderne demokratische, durch Mobilität und kulturelle wie ethnische Vielfalt ausgezeichnete, pluralistische Gesellschaft verlangt eine andere Vorbereitung als die Familie und ein an den Berufsgruppen orientierten Bildungswegen sie geben können.
2. Der Mensch lernt vornehmlich an der Bewältigung von Aufgaben by doing. In der arbeitsteiligen wissenschaftlichen und technischen Zivilisation sind fast alle wichtigen Aufgaben Gemeinschaftsaufgaben > sie verlangen nach Kooperation. In der embryonic society fallen solche Aufgaben von alleine an.

Hentig: Schule ist eine embryonic society, wenn sie als Erfahrungsraum gestaltet und organisiert ist.

- Notwendigkeit ersetzt Zwang zum Lernen (Jean Jacques Rousseau)

Rousseau: Gegen die Natur zu erziehen kann folgenreiche Schäden haben.

Hentig: Erziehung aufgrund von Beobachtung, Lieber weniger tun als zu viel und Notwendigkeit ersetzt Zwang > der Lehrer drückt nicht von oben die Gegenstände auf die Schüler als Lerngegenstände auf, sondern diese werden von den Schülern als notwendig auf dem Weg zur Autonomie und Selbstbestimmung erfahren und somit gerne gelernt!

- Bildung als ständige und selbständige Suche nach Wahrheit (Sokrates)

Der so aufwachsende Mensch wird vor allem gelernt haben, sich nichts vorzumachen. Nur dieser ist wirklich erwachsen. Er kann eher als andere erkennen, dass es im eigenen Interesse ist, sich vernünftig zu verhalten, und wird es darum auch dann tun, wenn er nicht beaufsichtigt wird.

Er hat nun zusammen mit anderen Erwachsenen über dem Gemeinwohl zu wachen.

Platons Sokrates: Der Mensch darf nicht aufhören, sich und seine Mitmenschen zu prüfen, der Frage nachzugehen, was das gute Leben sein, so, dass er und die anderen es hier und jetzt leben können.

Hentig: Bildung muss ständige und selbständige Suche nach Wahrheit und das Aushalten-können der Vorläufigkeit auch der gewissesten Erkenntnis sein.

Was sind die Probleme ?

- Mangelhafte Schulleistungen, ungleiche Erfolgschancen, Risikogruppe unter den 15-jährigen
- Hohes Maß an Gewaltdelikten in Schulen und außerhalb, Mobbing
- Multikulturelle Gesellschaft - Parallelkulturen
- Rassismus – Terrorismus
- Starker Zulauf zu Sekten aller Art – Flucht aus der Aufklärung
- Frühe Vereinnahmung durch Fernsehen
- Exzessiver Hang zu Computerspielen, Internet, Handy-Dauerkommunikation
- Computer-Kriminalität
- Mangel an physischer Arbeit und Bewegung, falsche Ernährung
- Überforderung der Lehrer

Schlechte Nachrichten

1. Gewalt unter Jugendlichen – „Zeitkrankheit“

Gewalt unter Jugendlichen, Kindermord durch Kinder, kaltblütige Strangulierungen, Folterungen, Erpressungen Schwächerer durch Stärkere, einzelner durch Banden, barbarische Zerstörungsakte, Waffenbesitz, Vergewaltigungen, Raub, Drogen, Alkohol in Schulen. Fernsehen etc. berichten davon – sie sind nicht der Auslöser des Alptraums, vielmehr bestätigen sie, was bekannt ist. Kampfplatz Schule

2. Ausschreitungen gegen Minderheiten

Neben dem Kampfplatz Schule alarmieren vor allem die Ausschreitungen gegen Ausländer, Behinderte, Obdachlose, Homosexuelle – erkennbare und wehrlose Minderheiten, zu denen auch deutsche Juden gehören > Schändung ihrer Friedhöfe oder Anschläge auf Gedenkstätten.

Brennende Asylantenheime, dabei getötete oder verletzte Menschen, Steinwürfe auf Busse mit einreisenden Polen, Drohungen gegen jüdische Mitbürger > Diese Taten werden von 12-18jährigen Jugendlichen begangen, die stolz mit Nazi-Emblem und –Parolen auftreten. Dies verstört die Öffentlichkeit tiefer und nachhaltiger, weil es nicht zum Bild von sorgloser, positiver Jugend passt. Die Öffentlichkeit weiß nicht, was es tun soll und ahnt gleichzeitig, dass es sich um die „psychosozialen Kosten“ einer von uns gewollten und jedenfalls zu verantwortenden Lebensweise handelt. Wir müssten unser Leben ändern.

3. Eine gelähmte Bürgerschaft

In einer Demokratie wird die Gesittung durch das Verhalten und die Wachsamkeit der Mehrheit gesichert. Wenn diese nicht weiß, wie man das macht, wenn sie gelähmt abwartet, ob der Spuk nicht von allein vorübergehe, ist die Demokratie schon verloren.

Es scheinen sich immer mehr Menschen von den Mitteln und Möglichkeiten unserer polis abzuwenden. > Politikverdrossenheit ist eine Gefahr für die Demokratie.

4. Abkehr und Überforderung

Die Demokratie überfordert den Einzelnen in der heutigen Welt. Eben diese Überforderung vermag er nicht zum Gegenstand demokratischer Politik zu machen, was er jetzt doch tun müsste. Den Leuten ist der Glaube an die Politik ausgegangen und noch wahrscheinlicher ist dieser Glaube in den ersten zwei Jahrzehnten des Lebens, die entscheidend sind, nicht angelegt worden, da man nicht in der polis, sondern im Ghetto gelebt hat.

5. Versäumnisse in den neuen Bundesländern

Eine Gelegenheit zum Umdenken war in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung gegeben. Dort musste man von Grund auf neu über das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft nachdenken. Es war so sehr eine Chance wie eine Notwendigkeit. In den alten Bundesländern fehlte dazu der Anlass, Reformer waren unerwünscht, lästig.

Es fehlte auf einmal alles, worauf eine gute Schule angewiesen ist:

- Eine die Gesellschaft bestimmende und zusammenhaltende Idee
- Die Glaubwürdigkeit der Erwachsenen, die dem alten System gedient hatten und sich nun dem neuen andienten
- Die Überzeugung der Lehrer, dass sie gewollt und am richtigen Platz sind
- Die gewohnte Verknüpfung von Bildungswesen und Beschäftigungswesen

Die Chance umzudenken wurde nicht nur verpasst, sondern es hat sie nie ernsthaft gegeben: Man wollte einfach nur wissen, was man jetzt wie machen müsste, um den Anschluss nicht zu verpassen. Statt der Schule mit der Möglichkeit und dem Mut zur Erziehung hat man eine Karriereanstalt. Der Leistungsdruck wird erhöht, die Zeit ist zu knapp, Leistung wird gemessen, man objektiviert die Bewertungsmittel, standardisiert das Lernpensum und das Lehrverfahren.

6. Selbstzweifel der Pädagogen

Angesichts dieser schlechten Nachrichten befallen manche Pädagogen solche Zweifel an der Fähigkeit des öffentlichen Schulwesens, seinen Auftrag noch zu erfüllen, dass sie empfehlen, es solle sich auf die Vermittlung von Kulturtechniken und Basiswissen beschränken und nur noch einen Bruchteil der bisherigen Wochenstundenzahl damit füllen.

Aber: der Auftrag der öffentlichen Schule in einer Demokratie ist nicht die Ausbildung von Persönlichkeiten, Gelehrten, Facharbeitern und Kulturträgern, der Auftrag lautet vielmehr: Kinder und junge Menschen zu politikfähigen, politikbereiten und verantwortungsbewussten Bürgern zu machen und die Kultur weiterzugeben – zusammen. > d.h. der nächsten Generation zu helfen, in der Welt, in der sie leben, erwachsen zu werden.

Die meisten Dinge in der Schule können diesem Ziel dienen, wenn sie auch in der Absicht veranstaltet werden und auf die Erfüllung dieser Absicht überprüft werden. Das passiert so gut wie nie.

7. Lebenslügen

Gewalt unter Jugendlichen und an Schulen, Ausschreitungen von jungen Menschen gegen Ausländer und andere Minderheiten, die Lähmung der erwachsenen Bürger angesichts solcher Erscheinungen, die behauptete Politikverdrossenheit, die eine prinzipielle Überforderung der Menschen durch die Politik bezeichnet, und die Resignation der Schulleute, nicht vor dem täglichen „Überlebenskampf“, sondern vor der Unmöglichkeit, die Schule zu halten, die sie meinen > dies alles sind schwierige und ungewöhnliche Nachrichten. Diese sollen aber auch eine Wirkung haben: Sie mögen uns bereits machen zu einem neuen Verhältnis zwischen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft und zu einer anderen Vorstellung vom Auftrag der Schule.

Das Schlimmste ist die Leugnung dieser Probleme > Was man leugnet, kann man nicht bekämpfen, man kann es nicht einmal mit dem anderen bereden und bedenken. Diese Lebenslügen werden zu Selbsttäuschungen, je länger man sie begeht.

8. Megalopolis

Dies ist eine Geschichte, die erzählt wird, um das Gemeinte besser zu veranschaulichen. Episode aus dem Film „Grand Canyon“ > Megalopolis ist kein Ort, an dem wir leben wollen, aber wir sagen es nicht, weil es keine Alternative gibt, weil wir Megalopolis nicht verlassen können.

Die Stadt – die civitas, die polis – das heißt Sicherheit durch Vertrauen, Gemeinsamkeit durch Umgang miteinander, Freiheit durch Beschränkung – nicht nur durch das für alle geltende Recht, sondern durch Vernunft, bejahte Selbstbescheidung, Gemeinsinn, ein empfindliches Gewissen, eine der Öffentlichkeit geschuldete Scham. Sie sind uns in der Geschichte abhanden gekommen – unwiderruflich und auf ganzer Linie.

Vertrauen unter den Bürgern wird ersetzt durch Versicherungen, Haftpflicht, Entschädigungsgarantien, Beschreitungen des Rechtsweges.

Umgang miteinander wird ersetzt durch Fernsehen, Talkshows, Videospiele, MP3-Player etc.

Freiheit wird identifiziert mit Konsummöglichkeit.

Wir dürfen uns an die Lügen, an die Missstände nicht gewöhnen, denn so wird Realismus zu einem gefährlichen Prinzip (such is human nature, that‘s the system) > Pädagogik ist auf Idealismus angewiesen.

Es ist notwendig, die Schule neu zu denken ! Die neu gedachte Schule weist 6 Merkmale auf, die sich an allen Schulen zumindest teilweise realisieren lassen (minima paedagogica)

Erst Lebensraum und dann Gliederung in Erfahrungsraum! These 1 bezieht sich auf den Lebensraum, These 2 und 3 auf die Erfahrungen, die in diesem Lebensraum gemacht werden sollen (These 2: wir sind verschieden, wir wollen und dürfen es sein; These 3: Wir leben in Gemeinschaften, sind voneinander abhängig – das bedarf der Regelung). Thesen 4 bis 6 beziehen sich auf das Zusammenwirken von Erziehung und Unterricht in der Schule.

[...]

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Versuchsschulen in NRW und Hessen sowie Bildungsthesen nach Klafki, Meyer-Drawe und Dewey
Untertitel
Thesenpapier zum Abschlusskolloquium in Erziehungswissenschaften (1. Staatsprüfung)
Hochschule
Universität zu Köln  (Erziehungswissenschaftliches Seminar)
Veranstaltung
Abschlusskolloquium
Note
1.0
Autor
Jahr
2015
Seiten
33
Katalognummer
V307853
ISBN (eBook)
9783668079526
ISBN (Buch)
9783668079533
Dateigröße
719 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bielefelder Laborschule, Helene Lange Schule Wiesbaden, Reformpädagogik, Hartmut von Hentig, Enja Riegel, Klafki, Minima Paedagogica, laboratory school
Arbeit zitieren
Sina Klar (Autor:in), 2015, Versuchsschulen in NRW und Hessen sowie Bildungsthesen nach Klafki, Meyer-Drawe und Dewey, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/307853

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