Kunst am und im Wiener Gemeindebau der 1920/30er Jahre

Eine geschlechterperspektivische Analyse


Bachelorarbeit, 2015

50 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Plagiatserklärung

2. Vorwort

3. Einleitung

4. Das Rote Wien
4.1. Politische Ziele und Forderungen, soziale und gesellschaftliche Konzepte
4.2. Der soziale Wohnbau

5. Architektur und Kunst in Wien nach dem Ersten Weltkrieg
5.1. Architektur
5.2. Kunst
5.3. Stilistische Elemente der Gemeindebau-Kunst in Wien XII

6. Geschlechterrollen und -verhältnisse

7. Gemeindebauten in Wien XII
7.1. Benannte Gemeindebauten mit Kunstwerken
7.2. Unbenannte Gemeindebauten mit Kunstwerken

8. Analyse der Kunstobjekte der Gemeindebauten in Wien XII
8.1. Fuchsenfeld-Hof (1925)
8.2. Reismannhof (1925)
8.3. Bebel-Hof (1926)
8.4. Am Wienerberg (1927)
8.5. Fröhlich-Hof (1929)
8.6. Lorens-Hof (1929)
8.7. George-Washington-Hof (1930)
8.8. Rotenmühlgasse 64 („Indianerhof“) (1930)
8.9. Fockygasse 53 (1932)

9. Zusammenfassung

10. Abbildungsverzeichnis

11. Literaturverzeichnis

12. Anhang
12.1. Benannte Gemeindebauten ohne Kunstwerke
12.2. Unbenannte Gemeindebauten ohne Kunstwerke

1. Plagiatserklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende schriftliche Arbeit selbstständig verfertigt habe und dass die verwendete Literatur bzw. die verwendeten Quellen von mir korrekt und in nachprüfbarer Weise zitiert worden sind. Mir ist bewusst, dass ich bei einem Verstoß gegen diese Regeln mit Konsequenzen zu rechnen habe.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2. Vorwort

Die harte Zeit zwischen den beiden großen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts war in Wien auch ein Zeitraum der großen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. Der Niedergang der Monarchie, die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges sowie die aufstrebende Arbeiterklasse stellten die Politik vor große Herausforderungen. Der Wahlsieg der sozialdemokratischen Partei bei den Wiener Gemeinderatswahlen 1919 läutete in vielerlei Hinsicht eine neue Ära in der ehemaligen Reichshaupt- und Residenzstadt ein. Das „Neue Wien“, oder das „Rote Wien“, wie es später genannt wurde, steht für die großen Reformen im Wohnbau, Gesundheits- und Fürsorgewesen, in der Bildung, im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht, in Architektur, Kunst und Kultur. Proletariat und Frauen erhoben und formierten sich, ein neues Verständnis von Familie, Geschlecht, Mode und Körperkult(ur) entstand. Drei dieser Aspekte, der kommunale Wohnbau, die Kunst und die Geschlechterrollen bzw. -verhältnisse, bilden den groben Rahmen dieser Arbeit. Das Interesse an den Kunstobjekten der Wiener Gemeindebauten war bereits seit Längerem vorhanden. Dieses Proseminar ermöglichte tiefere Einblicke in das politische und gesellschaftliche Umfeld zur Zeit des Roten Wien. Weiters ergab sich dadurch die Möglichkeit, Zeit- und Kunstgeschichte zu verknüpfen und mit einem geschlechterhistorischen Aspekt anzureichern. Erweckten die trotzigen, wehrhaften Gemeindebauten zuvor einen unbekannten und abweisenden Eindruck, entstand während der Besuche in den Höfen ein immer größeres Interesse, das sich mit zunehmendem theoretischen Wissen und zahlreichen Hintergrundinformationen steigerte. Die Rundgänge durch die Wohnhausanlagen des XII. Wiener Gemeindebezirkes (Meidling) machten den Blick frei für bisher Unentdecktes und waren eine gute Möglichkeit das Leben im Gemeindebau der näheren Umgebung kennen zu lernen. Die Einschränkungen des Untersuchungsbereiches waren aufgrund des hier vorliegenden Rahmens erforderlich. Die nachstehenden Ausführungen geben aber allemal einen etwas anderen Blick auf vermeintlich ausreichend Beforschtes frei und sollen mit neuartigen Fragestellungen und geänderter Fokussierung zu weiteren Forschungen anregen. Sofern nicht explizit angeführt, verstehen sich alle Aussagen geschlechtsneutral.

Robert Stieber

Wien-Meidling, im Februar 2015

3. Einleitung

Wie bereits im Vorwort andeutet, stellt der soziale Wohnbau im Roten Wien der 1920/30er Jahre den zeitlichen Rahmen für diese Untersuchung dar. Die Arbeit ist zeit-, kunst- sowie geschlechterhistorisch ausgelegt. Der Untersuchungsgegenstand kann mit der Kunst am und im Gemeindebau umrissen werden. Es soll weder allein der enge künstlerische noch der rein architektonische Aspekt der Gebäude an sich betrachtet werden, sondern ganz konkret jene Kunstobjekte, die an den Fassaden der Wohnhausanlagen appliziert sind oder die sich in den charakteristischen Innenhöfen oder auf (Vor-)Plätzen befinden. Da Architektur und Kunst eine Einheit bilden, ist eine Basisinformation zur jeweiligen Architektur notwendig. Als Kunst(werke) in dieser Arbeit werden Malereien, Sgraffiti, Skulpturen und Plastiken (jeglichen Materials), Mosaike und Architekturelemente dekorativen Charakters, wie zB Keramikreliefs, verstanden. Für diese Arbeit werden nur jene Objekte als relevant eingestuft, die sich auf figurale, menschliche (bzw. menschenähnliche, wie Putti) Darstellungen beziehen. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die dargestellten Männer, Frauen und Kinder in einen geschlechterhistorischen Kontext einbezogen werden, der nur anhand von menschlichen Darstellungen erfolgen soll. Florale, abstrakte und tierische Motive sollen nur als Attribute der Hauptdarstellungen fungieren. Bei der Analyse der einzelnen Kunstwerke sollen folgende Fragestellungen erörtert werden:

- Repräsentiert die Kunst am/im Wiener Gemeindebau der 1920/30er Jahre die politischen Ziele/Konzepte und die sozialen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen der sozialdemokratischen Stadtpolitik?
- Auf welche künstlerische Art und Weise wird das neu propagierte sozial-demokratische Idealbild von Männlichkeit, Weiblichkeit, ArbeiterIn und Familie dargestellt?
- Wie sahen die Auftragsvergabe und der Auswahlprozess der Künstler aus? Welche Vorgaben gab es und wie groß war der künstlerische Schaffensfreiraum?

Folgende Hypothesen können hierzu aufgestellt werden: Die Wiener Gemeindepolitik verwirklichte in den Wohnbauprogrammen zwischen 1919 und 1934 ihre fortschrittliche Sozialpolitik und obwohl unzählige, freie Architekten im Einsatz waren, lässt sich dennoch eine ähnliche Linie und Formensprache in verschiedenen Aspekten erkennen. Hieraus wird abgeleitet, dass Vorgaben bzw. bestimmte Auswahlkriterien seitens der Politik/Stadtverwaltung insbesondere im Bezug auf die Kunstwerke anzunehmen sind, um dadurch die politischen und sozialen Werte und Konzepte auch an den Kunstobjekten des kommunalen Wohnbaus anschaulich zu machen und leicht verständlich vermitteln zu können. Aufgrund der Fülle an möglichen Untersuchungsobjekten in ganz Wien, wird eine geographische Einschränkung für diese Arbeit notwendig. In beinahe allen Wiener Gemeindebezirken wurden soziale Wohnbauten errichtet, einerseits bedingt durch verfügbares, erschwingliches Bauland, aber auch vor dem Hintergedanken, keine reinen „Arbeiterghettos“ oder Satellitenstädte zu schaffen. Für die vorliegende Untersuchung wurde der XII. Wiener Gemeindebezirk (Meidling) herangezogen. Dieser weist für den Untersuchungszeitraum mit 31 errichteten Bauten eine hinreichende Anzahl auf. Der Bezirk stellt sich heute noch wie in den 1920/30er Jahren dar, d.h. war nicht wie andere Bezirke von Flächenänderungen betroffen. Zusätzlich ist die Auswahl geprägt von der Spannweite zwischen den repräsentativen Bauten am Margaretengürtel (zB Reumannhof), der sog. „Ringstraße des Proletariats“[1] einerseits, und den eher bürgerlich bewohnten Gebieten gegen Westen (Hetzendorf, Hietzing, Schönbrunn) andererseits. Diese Auswahl ermöglicht eine homogene und umfassende Untersuchung. Andere Arbeiten zum Gemeindebau treffen oft eine selektive Auswahl von Gebäuden, die entsprechende repräsentative Höfe mit relevanten architektonischen und künstlerischen Elementen bevorzugen, übersehen aber dabei oft scheinbar unwesentliche und weniger interessante Details. Hier wurden alle Gemeindebauten berücksichtigt und im Feld in Augenschein genommen. Weiters sei an dieser Stelle nochmals der Hinweis angebracht, dass ausschließlich Gebäude und Kunstobjekte untersucht werden, die von der Wiener Stadtverwaltung zwischen 1919 und 1934 beauftragt, ausgeführt und ihrer Bestimmung übergeben wurden. Betrachtet wird der aktuelle Bestand, d.h. Veränderungen im Laufe der Zeit werden nicht berücksichtigt. Die Anzahl der Gebäude ist beinahe unverändert, jedoch hat sich das Erscheinungsbild durch Beschädigungen im Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg sowie durch Sanierungsmaßnahmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Bereichen verändert, die aber für den vorliegenden Zweck nicht maßgeblich sind. Hinsichtlich der Kunstobjekte wird ebenfalls der vorliegende Bestand und Zustand berücksichtigt, Veränderungen im Vergleich zur Eröffnung der Gemeindebauten wurden nicht untersucht. Weiters sei darauf hingewiesen, dass keinesfalls alle einbezogenen Wohnbauten über Kunstwerke, sei es im oben definierten Sinne oder generell verfügen, was die zu analysierenden Objekte weiter reduziert, dadurch die Relevanz der Residualgröße aber keineswegs schmälert.

Neben Analyse und Einbeziehung der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur aus den Bereichen Zeit-, Kunst-, Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie Architektur, Politik und Soziologie liegt der Fokus in der Methodik auf einer historischen, kunst- und geschlechtergeschichtlichen Analyse. Vom Autor selbst angefertigte Fotografien, die im Zuge der Rundgänge durch die definierten Untersuchungsobjekte erstellt wurden, stellen die Basis für die Analyse. Diese Fotografien werden im historischen Kontext beschrieben, kunsthistorisch eingeordnet und aus der Geschlechterperspektive analysiert. Die kunstgeschichtliche Beschreibung konzentriert sich auf Angaben zu Künstlern, Typus, Form, Stil und Aussage. Eine Einbettung in den historischen Kontext kann weitere Einzelheiten zu Anbringungsort, Künstler und Architektur liefern. Eine Verknüpfung der Kunstobjekte mit dem sozialpolitischen Konzept des Roten Wien (Fürsorge, neues Menschenbild, ArbeiterInnenkultur, Frauen, Familie, Körperkultur) und die Betrachtung aus einer geschlechterhistorischen Perspektive soll die vorhin aufgeworfenen Fragestellungen erörtern.

4. Das Rote Wien

Die nachfolgenden Absätze widmen sich den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen, die das Wien der Zwischenkriegszeit bis zum Februar 1934 prägten. Es werden nur jene Aspekte thematisiert, die einen direkten Bezug zum Untersuchungsgegenstand und den Forschungsfragen aufweisen. Für einen Überblick zur sozialdemokratischen Regierungszeit im Wien der 1920/30er Jahre sei auf die einschlägige Literatur, wie zB Frei (1984), Öhlinger (1993) oder Weihsmann (2002) verwiesen.

4.1. Politische Ziele und Forderungen, soziale und gesellschaftliche Konzepte

Nachdem die Sozialdemokraten im Mai 1919 die stärkste Fraktion im Wiener Gemeinderat wurden, war die Schaffung billiger, gesunder und hygienischer Wohnungen einer der dringendsten Angelegenheiten. Somit wurden die Wohnbaupolitik und die Kommunalisierung des Wohnbaus eines der wichtigsten politischen Aufgabengebiete. Mit der Trennung Wiens von Niederösterreich und durch die damit ermöglichte eigene Steuerpolitik konnte das kommunale Wohnbauprogramm finanziert werden. 1923 wurde die zweckgebundene Wohnbausteuer eingeführt, die ausschließlich für die Errichtung neuer Wohnbauten verwendet wurde.[2]

Die Sozial- und Gesundheitspolitik des Roten Wien sollte die Armut eindämmen und die Lebensqualität und -chancen der Menschen steigern. Julius Tandler setzte sich für ein System einer „umfassenden Sozialhygiene“ ein, das aus einem dichten und in sich geschlossenen Netz aus Totalversorgung und Kontrolle bestand. Arme und Kranke sollten einen fixen Anspruch auf Sozialleistungen haben.[3]

Ein weiterer Schwerpunkt der Wiener Sozialdemokratie war das Fürsorgewesen und das neue Familienverständnis. Mit Julius Tandler wurde 1919 eine neue Ära der Wohlfahrtspolitik mit Fokus auf dem Ausbau der Kinder- und Jugendfürsorge eingeleitet.[4] Oftmals wurden auch entsprechende Beratungsstellen oder Kindergärten in die Wohnbauten integriert. Die neue Bedeutung und ehrgeizige Programmatik lässt sich auch an vielen Kunstwerken am/im Gemeindebau erkennen, welche die Thematik der Fürsorge bzw. das Kindeswohl aufgreifen. Die realpolitischen Zielsetzungen der Reformer standen jedoch oft in einem ideologisch-theoretischen Konflikt zu deren realpolitischer Ausrichtung. Die Theorie des Austromarxismus zielte weniger auf eine längerfristig orientierte schrittweise Reformpolitik ab, als auf einer am Leitbild des „neuen Menschen“ ausgerichteten revolutionären Umbildung des Klassengefüges. Die sozialdemokratischen Konzeptionen sind daher im Spannungsfeld zwischen den dringenden gesellschaftlichen Problemen wie Wohnungsnot, Verarmung, Arbeitslosigkeit, schlechte Gesundheitsversorgung und Säuglingssterblichkeit und der ideologischen Ausrichtung auf eine zukünftige klassenlose Gesellschaft zu sehen.[5] Mit dem Bau der Kinderübernahmsstelle hat sich die Gemeinde Wien ein zentrales Denkmal gesetzt und wurde zum Symbol der Mütterlichkeit erhoben. Die Gemeinde Wien wurde zur „Magna Mater“ stilisiert, die in der Lage ist, Standards familialer Reproduktion zu gewährleisten und ihre Kinder vor der sozialen Gefahr zu bewahren. Sie symbolisierte selbst jenes Modell von Familie und Mütterlichkeit, das im Fürsorgeprogramm auf die Arbeiterschaft übertragen werden sollte. Die biologische Mutter sollte zum Mutterberuf herangezogen werden und wurde das Pendant zur Fürsorgerin; die „Volksmutter“ hingegen stand für professionelle, objektive und kollektive Mütterlichkeit. Trotz der Konzentration der Fürsorge auf die Familieneinheit glänzte der Arbeiter als Vater in dieser Konzeption durch Abwesenheit.[6]

4.2. Der soziale Wohnbau

Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in Wien eklatanter Wohnungsmangel. Obwohl die Einwohnerzahl[7] zwischen 1919 und 1923 um 168.000 Personen sank, gab es trotzdem um 40.000 Haushalte mehr, was unter anderem mit den Migrationsströmen nach dem Auseinanderfallen des habsburgischen Vielvölkerstaates zu tun hatte. Weiters stieg nach dem Krieg die Zahl der Eheschließungen wieder an. Der private Wohnbausektor lag brach, sodass weder Quantität noch Qualität mit dem Bedarf Schritt halten konnten. Der 1917 eingeführte Mieterschutz erforderte ein grundsätzliches Umdenken, weg vom profitorientierten, privaten oder genossenschaftlichen Wohnbau. Er ließ auch die Ansprüche an Wohnraum steigen, weil nun besser leistbar. Bestehende Mieter größerer Wohneinheiten konnte diese nun ohne Untervermietung (Bettgeher) erhalten und ihren eigenen Lebensunterhalt problemloser bestreiten. Weiters trugen die hohen Baukosten zur Unattraktivität bzw. Unrentabilität kapitalistischen Wohnungsbaus bei. Die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Gleichgewichts, die Balance zwischen Preisen und Löhnen, wurde in den 1920er Jahren durch gleichbleibende Mieten ermöglicht und entzog somit wirtschaftlich untragbaren Lohnforderungen Raum. Diese scheinbare Zwangssituation wurde von der Wiener Sozialdemokratie gekonnt ausgenützt und begründete auf Basis des parteipolitischen Forderungsprogramms die Aktivität der Gemeinde im Wohnungsbau. Obwohl bereits 1919 mit kommunalen Wohnbauten begonnen wurde, stieg bis 1924 die Zahl der vorgemerkten Wohnungswerber auf ca. 20.800 an. Wenngleich parteipolitisch mit extremen Standpunkten diskutiert und von der Opposition mit unterschiedlichsten Argumenten torpediert, wurden bis 1923 ca. 4.000 Wohnungen, überwiegend aus den Erlösen von Inlandsanleihen finanziert. Mit der 1923 eingeführten Wohnbausteuer und dem Beschluss des ersten kommunalen Wohnbauprogramms sollten dann aber innerhalb von fünf Jahren 25.000 Wohnungen errichtet werden. Nach deren frühzeitiger Fertigstellung, und einem Zwischenprogramm für 5.000 Wohnungen 1926, wurden im zweiten Wiener Wohnbauprogramm (1927) weitere 30.000 Wohneinheiten beschlossen und errichtet. Mit einem durchschnittlichen jährlichen Bauvolumen von ca. 6.000 Wohnungen und geänderten Baugewohnheiten grenzte sich die Bautätigkeit des Roten Wien klar von jener der Vorkriegszeit ab. Statt der bisher zugelassenen Verbauungsdichte von bis zu 85% der Grundfläche, wurden dann nur mehr 40-60% verbaut. Bei der Randverbauung, die auch bei den Superblocks üblich war, entstanden große Innenhöfe, die ein neues Lebensgefühl und eine neue Wohnqualität boten, Spielplätze, Kindergärten, Fürsorge- und Gesundheitseinrichtungen integrierten. Der hohe Bedarf an Wohnraum und das Erfordernis eines effizienten Kapitaleinsatzes führte zunächst zur Errichtung von Kleinwohnungen (38 bzw. 48 m²), ab 1927 kamen 57 m² große Mittelstandswohnungen hinzu. Bei der Beurteilung der Wohnungsgröße ist jedoch die Relation zu den Vorkriegsverhältnissen, insbesondere jene der Arbeiterschicht zu berücksichtigen. Qualitativ unterschieden sich die neuen Wohnungen durch den Einbau sanitärer Anlagen, Wasser- und Energieanschlüssen, einem Vorraum, direkt belichteter und entlüftbarer Küche und gelten als Fortschritt zu den berüchtigten Bassenawohnungen mit langen Verbindungsgängen, engen Lichthöfen, Gangküchen und Stockwerksaborten. Ein Vergleich mit den technischen Möglichkeiten und den in anderen Ländern bereits üblichen weiteren Annehmlichkeiten wie Aufzügen, eingebauten Badezimmern, Lärmschutz und Zentralheizung bot den Nährboden für Kritiker. Ab Anfang der 1930er Jahre geriet das Wohnbauprogramm ins Stocken, bedingt durch eine immer schwieriger werdende Finanzierbarkeit, was vordergründig an der laufenden Reduktion des städtischen Anteils an Bundessteuern lag. Im Hintergrund sägte die christlich soziale Bundesregierung am Stuhl der sozialistischen Stadtregierung. Mit Hilfe von Notverordnungen kam es zu einer politisch motivierten weitreichenden Aushöhlung des kommunalen Budgets, was die Stadtverwaltung zu einer drastischen Reduktion des Wohnbaubudgets zwang.[8] Trotz dieses Niedergangs wurden innerhalb von zehn Jahren knapp 400 Wohnanlagen errichtet, viele von gigantischer Dimension. Sie waren das symbolische wie reale Kernstück des Roten Wien, eine gebaute Utopie deren architektonische Inszenierung nach außen Stolz und Macht signalisierte. Dem bürgerlichen Zentrum war eine neue Stadt gegenübergestellt, die sich inselhaft über alle Bezirke verteilte. Diese homogenen, proletarisch besiedelten Wohnanlagen demonstrierten jedenfalls den territorialen Sieg.[9]

5. Architektur und Kunst in Wien nach dem Ersten Weltkrieg

Nach einem Überblick zur Wiener Architektur und Kunst werden jene stilistischen Elemente analysiert, die insbesondere in Bezug auf die Meidlinger Gemeindebauten von Interesse sind.

5.1. Architektur

Bedeutend für die Architektur der Ersten Republik war, dass die meisten Architekten noch in den Schulen der Monarchie ausgebildet wurden und den Stilpluralismus der Jahrhundertwende repräsentierten. Sie hatten eine solide Ausbildung und ein Rollenverständnis als Künstlerarchitekten, das für die neuen sozialen Bauaufgaben ein begrenztes Lösungsspektrum anzubieten hatte. Dominierend war die Otto-Wagner-Schule mit einer positivistisch-rationalistischen Einstellung gegenüber technischem und gesellschaftlichem Fortschritt und ästhetischem Engagement neuen Inhalten gegenüber. Weiters waren die romantische Schule Friedrich Ohmanns, noch stark historistische aber auch avantgardistische Strömungen vorhanden. In Wien gab es keinen Nationalstil, es herrschte ein Stilpluralismus vor. Dieser ermöglichte aber auch eine Mehrdimensionalität in der Entwicklung. In Wien war die architektonische Revolution bereits vor den großen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen abgeschlossen, sodass diese nach dem Krieg bereits an Schwung verloren hatte, was aber wieder zu einem für Wien charakteristischen Kompromiss zwischen Klassizismus und Moderne führte. Puristische Architekturkonzepte fanden keinen günstigen Nährboden und der Generationenkonflikt der genannten Schulen resultierte in einer deutsch-nationalen Haltung der Wiener Wagner Schüler. Die Vertreter der einst progressiven Schule Otto Wagners wurden in den zwanziger Jahren Architekten mit einer bürgerlich-romantischen bis restaurativen Tendenz, die aber auch die reformsozialitischen Konzepte des Wiener kommunalen Wohnbaus beeinflussten. Die Wiener Architektur der Nachkriegszeit zeigt ein starkes Moment der Adaption an die neuen Verhältnisse, die sich von der einfachen Reduktion stilistischer Mittel bis hin zu Neuinterpretationen bewegte. Ein Großteil der Architekten war jedoch auf die neuen Probleme aber gar nicht vorbereitet.[10] Hauptbetätigungsfelder eröffneten sich nach dem Krieg in der Wiener Siedlungsbewegung, dem kommunalen „Volkswohnbau“[11] und den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konzeptionen naheliegenden Bauten für Gesundheit (Fürsorgeheime), Bildung (Bibliotheken), Freizeit (Freibäder) und Kultur (Theater, Veranstaltungssäle). Einerseits waren die Normen und Vorgaben stark typisiert (zB Fenster und Türen aufgrund der Massenproduktion oder arbeitsintensive Baumethoden wie Ziegel-/Putzbau zur Hebung der Beschäftigung), das Auftragsvergabesystem war andererseits jedoch relativ liberal, sodass Persönlichkeiten unterschiedlichster Schulen und Richtungen vertreten waren. Achleitner sieht damit den „Verdacht“ eines politisch-ästhetischen Konzepts der sozialdemokratischen Wiener Gemeindeverwalter als widerlegt[12], jedoch erscheint diese Argumentation als zu sehr eingeschränkt. Podbrecky (2003) vermutet ebenfalls, dass es für die Gestaltung der Bauten kein festgeschriebenes ästhetisches Programm im Sinne der proletarischen Ideologie gab. Die Grundsätze der Bebauung[13] waren zwar vorgegeben, die Vielzahl der Entwerfer sorgte aber für ein heterogenes Erscheinungsbild. Nach außen hin ist der Gemeindebau aber durch eine Reihe formaler Eigenheiten, wie die typisierten Fenster, Erker und Balkons leicht erkennbar, was aber in der bereits angeführten kostensenkenden Massenproduktion begründet zu sein scheint.[14] Jedenfalls wurde sehr viel gebaut und es gab nur ein beschränktes Angebot an Architekten, sodass hier auf die ansässigen und verfügbaren Personen und Büros zurückgegriffen werden musste. Natürlich gab es propagandistische Entscheidungen für besonders wichtige Aufträge (im Sinne der Sozialdemokratie).[15] Andererseits mussten aber auch die sonst arbeitslosen Architekten und Künstler beschäftigt werden, denn der private Bausektor lag zu dieser Zeit weitgehend brach.[16] Stammten die Entwürfe bis 1922 noch fast ausschließlich von im Stadtbauamt beschäftigten Architekten, wurden in der Folge zahlreiche freie ArchitektInnen zugezogen, die vom Stadtbauamt ausgewählt wurden.[17] In den seltensten Fällen wurden Wettbewerbe ausgeschrieben.[18] Der Einsatz von über 190 freien ArchitektInnen begründete einerseits den Stilpluralismus, aber auch die recht (klein)bürgerliche Vielfalt der Gemeindebauten. Ein wesentlicher Aspekt der architektonischen, aber auch politischen Auseinandersetzung dieser Jahre war die Diskussion um den Massen-/Blockbau und die Siedler-/Gartenstadtbewegung, die in Wien aber eindeutig zugunsten Erstgenannter ausging. Dies war primär durch die bereits vorhanden infrastrukturellen Angebote bedingt, welche die explodierende Donaumetropole nach der Jahrhundertwende rasch entwickelte. Nutzung innerstädtisch verfügbaren Baulandes und der Anspruch, eine effiziente und rasche Bekämpfung der Wohnungsnot zu gewährleisten, trugen das ihre dazu bei. Die Siedlerbewegung hatte aber prominente Vertreter wie Adolf Loos und Josef Frank[19], die mit dem englischen Arbeiterwohnbau und der Gartenstadtbewegung vertraut waren. Die Anwendung alter machtpolitischer Symbole (Anlehnung an Schlösser der adeligen Oberschicht) widersprach ihrem Denken ebenso wie die Manipulation von Architektur als Sprache.[20] Jedoch zeigte sich auch, dass die Arbeiter eher die alten architektonischen Symbole der Oberschicht annahmen, als sich neuen Formen für die neuen Inhalte anzunähern. Gegen Ende der 1920er Jahre fand aber doch vereinzelt eine Synthese von Superblock und Großsiedlung statt, bspw. im George-Washington-Hof. Der Blockwohnbau gab aber der stark vertretenen Wagner-Schule (u.a. Hermann Aichinger, Karl Ehn, Rudolf Frass[21], Rudolf Perco, Heinrich Schmidt) Gelegenheit für die großangelegten städtebaulichen Konzeptionen, die im Rahmen der eindrucksvollen Bausubstanz der Stadt die Identifikation mit den sozialistischen Programme erleichterte.[22] Ab 1930 prägen zunehmende Glätte, Wandhaftigkeit und Detailreduktion die Gemeindebauten. Dies steht im Zusammenhang mit den internationalen Tendenzen der Architektur, dem Einfluss des Internationalen Stils, des Neuen Bauens und der holländischen Gruppe „de Stijl“. Josef Frank wandte sich nicht nur gegen den Pathos der Gemeindebauten um 1925, sondern auch gegen die „Ornamentlosigkeit als Ornament!“.[23] Weiters sah Frank in den Volkswohnungspalästen mit deren Imitation monumentaler Palastarchitektur und der unreflektierten Übernahme konventioneller Wohnungsgrundrisse den Ausdruck einer zutiefst kleinbürgerlichen Haltung und eben keine auch nur annähernd adäquate Demonstration proletarischer Kultur.[24] Die Sozialdemokratie hatte sich in der Zeit des Roten Wien nie eindeutig zu einer herrschenden architektonischen Ideologie bekannt. Vielmehr prägte die heterogene Architektursprache den Stil der Zeit, „einen Luxus von Vielfalt, Abwechslung und Sentimentalität“.[25]

[...]


[1] siehe dazu: Die Unzufriedene (1930).

[2] Podbrecky (2003) 15-16.

[3] Kos/Bekesi (2010) 327.

[4] Wolfgruber (1999) 277.

[5] Wolfgruber (1999) 278.

[6] Wolfgruber (1999) 291-3.

[7] für einen ausführlichen Überblick über den sozialen Wohnbau in Wien sei bspw. auf Eigner/Matis/Resch (1999) verwiesen.

[8] Czeike (1983) 1052-6.

[9] Kos/Bekesi (2010) 319.

[10] Achleitner (1983) 676-7.

[11] zum Begriff „Volkswohnungspalast“ siehe: Stadt Wien – Wiener Wohnen (2014) 82.

[12] Achleitner (1983) 677.

[13] siehe dazu: Richtlinien für den Wohnbau . In: Weihsmann (2002) 39-40.

[14] Podbrecky (2003) 18-20.

[15] Achleitner (1983) 677.

[16] Schubert/Schubert (2001) 14.

[17] Podbrecky (2003) 18.

[18] Weihsmann (2009) 6.

[19] für einen kurzen Überblick zu Josef Frank siehe bspw. Weihsmann (1983).

[20] eine prägnante Darstellung der Kritik Franks am Wiener Wohnbauprogramm findet sich bspw. bei Nierhaus (2010).

[21] für einen kurzen Überblick zu Rudolf Frass siehe bspw. Weihsmann (1983).

[22] Achleitner (1983) 677-8.

[23] Podbrecky (2003) 54.

[24] Nierhaus (2010) 247.

[25] Podbrecky (2003) 21.

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Kunst am und im Wiener Gemeindebau der 1920/30er Jahre
Untertitel
Eine geschlechterperspektivische Analyse
Hochschule
Universität Wien  (Politikwissenschaft/Geschichte)
Veranstaltung
070202 Proseminar Das Rote Wien und andere städtische Reformprojekte – Betrachtungen und Analysen aus frauen- und geschlechterhistorischer Perspektive
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
50
Katalognummer
V307777
ISBN (eBook)
9783668064133
ISBN (Buch)
9783668064140
Dateigröße
4078 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rotes Wien, Gemeindebau, Geschlechterperspektive;, Kunst am Gemeindebau, Zwischenkriegszeit, Kunst am Bau, Putti
Arbeit zitieren
Mag. (FH), M.A. Robert Stieber (Autor:in), 2015, Kunst am und im Wiener Gemeindebau der 1920/30er Jahre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/307777

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