Essen in Märchen der Brüder Grimm. Sprechende Brote, vergiftete Äpfel und ein Haus aus Lebkuchen


Bachelorarbeit, 2014

41 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die soziale Bedeutung von Essen im Kontext der Entstehungszeit der Grimmschen Märchen und dessen Einsatz in der deutschen Literatur

3 Zur Funktion, Wirkungsweise und Symbolik der Speisen- und Nahrungsmotivik in den Grimmschen Märchenerzählungen
3.1 Der Untersuchungsgegenstand Märchen
3.2 Die gute Verheißung des Essens
3.2.1 Hänsel und Gretel (KHM 15)
3.2.2 Der süße Brei (KHM 103)
3.3 Die schlechte Verheißung des Essens
3.3.1 Schneewittchen (KHM 53)
3.3.2 Rapunzel (KHM 12)
3.4 Essen als Hilfe auf dem Triumphweg des Helden
3.4.1 Frau Holle (KHM 24)

4 Relationen und Zusammenhänge zwischen Nahrung, Figuren und der Wirklichkeit
4.1 Essen und seine wechselnde Wirkung im direkten Figurenbezug
4.2 Die Übertragung der Speisethematik in die Realsituation

5 Resümee

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Essen nimmt als Überlebenssicherung zweifelsfrei eine der zentralsten Rollen der menschlichen Existenz ein. Oft sind unsere Mahlzeiten so selbstverständlich gewor- den, dass wir ihnen im Alltag kaum noch große Beachtung entgegenbringen. Die Nahrungszubereitung und das anschließende Einverleiben der Speisen scheinen gera- de dadurch, dass sie zu den natürlichsten Prozessen des Lebens zählen, automatisiert zu sein.

Auch in der Literatur ist es keine Seltenheit, wenn eine genaue Betrachtung und Beschreibung der (oftmals kargen) Mahlzeiten innerhalb großer Erzählkontexte weitgehend ausbleibt. Bekannte Texte, darunter die Buddenbrooks von Thomas Mann, Günther Grass‘ Der Butt oder Heinrich Bölls Schriften haben sich zwar der Essensmotivik angenommen, trotzdem sehen Literaturwissenschaftler die Tendenz einer „Verdrängung des Hungerthemas aus der neueren deutschen Erzählliteratur“1. Schuld daran mag zum einen die omnipräsente und damit allzeit verfügbare Gegen- wart des Essens sein, die dafür sorgt, dass wir - anders als zu Krisenzeiten - unse- ren Nahrungsmitteln kaum noch gebührend Aufmerksamkeit zollen; zum anderen mag die Ursache für diese Verdrängung auch in dem durch seine alltägliche Routine zur Nebensächlichkeit degradierten Speisevorgang selbst begründet liegen. Essen ist so natürlich, dass es keiner genauen Betrachtung bedarf.

Doch warum wird die Nahrungsaufnahme oder konträr der Mangel an Lebens- mitteln in der Literatur dennoch immer wieder thematisiert? 1812 veröffentlichten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm den ersten Band einer Sammlung von Märchenerzählungen. Gerade in ihnen kann man vom Essen und Hungern lesen und doch bleiben diese kurzen Beschreibungen meist wenig aus-führlich. Dass die Verwendung und Darstellung von Essen, sei sie auch noch so kurz, innerhalb dieser Prosatexte aber durchaus eine tiefere Bedeutung besitzt als nur die tägliche Notwendigkeit des Speisevorgangs zu schildern, soll im Zuge dieser Arbeit analysiert werden.

Den Untersuchungsgegenstand auf das Gebiet der Grimmschen Märchener- zählungen zu reduzieren, ist dabei in mehrfacher Hinsicht substanziiert: Zum einen stammen die Kinder- und Hausmärchen aus dem Volk. Mögen sie auch noch so viele mystische oder zauberische Elemente aufweisen, so behalten sie dabei doch immer einen Bezug zu den realen Lebensverhältnissen der zeitgenössischen Durchschnitts- bevölkerung. Dadurch spiegeln sich die Alltagsbegebenheiten der bäuerlichen und der wohlständigen Menschen in ihnen wider. In Märchen, so formuliert es Tanja Rudke, lassen sich „Grundmuster und -konstellationen menschlicher Existenz finden“2.

Zum anderen werden Märchen von ihnen gattungstypischen vorgeprägten Handlungsabläufen bestimmt. Essen erscheint dadurch wie in kaum anderen Prosa- texten als normaler Bestandteil des Alltags und des Textwerkes, der so sehr in das Geschehen integriert ist, dass man ihn gerne zugunsten der inhaltlich plakativen Lehren „überliest“. Der Rezipient erfährt Hunger oder Not zwar oft als Ursachen für die darauffolgende Handlung, doch im Zuge der Geschichte scheinen die meist sehr knapp geschilderten Lebensmittel durch andere Thematiken verdeckt zu werden. Prägnantere Themen wie der Kampf Gut gegen Böse, die Belohnung der Helden, die damit verbundene Bestrafung der Widersacher und die Moral für die kindliche Leser- schaft scheinen gewichtigere Aspekte darzustellen. Es ist also bezeichnend, dass das Thema Essen trotz dieser sehr konzis angelegten Struktur, die sich nur auf das Wich- tigste konzentriert und nicht Relevantes gerne ungenannt lässt, immer wieder er- wähnt wird. Essen muss bedeutungstragend sein.

Nachfolgend möchte mich deshalb von jenen offenliegenden Märchenelemen- ten entfernen und die verborgene Rolle erörtern, die Essen in den Kinder- und Haus- märchen einnimmt. Es soll gezeigt werden, dass viele der Erzählungen und der Lehren ohne den Einsatz von Speisen gar nicht zustande gekommen wären und die Kohärenz der Erzählungen maßgeblich von den scheinbar nebensächlichen Nah- rungsmitteln diktiert wird.

Um der Funktion des Themas Essen nachzugehen werden im Rahmen dieser Arbeit die Märchentexte Hänsel und Gretel (KHM 15), Der süße Brei (KHM 103), Schneewittchen (KHM 53), Rapunzel (KHM 12) und Frau Holle (KHM 24) als Untersuchungsgegenstand herangezogen.3

Der Arbeit liegt dabei ein dreiteiliger Aufbau zugrunde. In einem voran- gestellten Kapitel wird das Thema des Essens in der Realsituation der Gesellschaft zu der Entstehungszeit der Grimmschen Märchen skizziert. Dabei wird dargestellt, wie die Lebensbedingungen hinsichtlich des Nahrungsvorkommens aussahen und welche Speisen überwiegend zum Lebenserhalt dienten. Eventuelle Hungerkrisen und Notzeiten werden in die Betrachtungen miteinbezogen. Zudem sollen Fragen nach der zeitgenössischen Bedeutung von Essen im literarischen Kontext geklärt werden. Wenn es Hungersnöte gab, hat man versucht, den Hunger durch das Schreiben zu kompensieren? Wie wurde Essen in Prosatexten dargestellt?

Nach diesem groben Überblick über den Gesamtkontext des Essens in Realität und Literatur gehen die Untersuchungen in einem zweiten Teil ins Detail. Das Thema Essen wird direkt innerhalb der Märchen betrachtet. Dabei soll möglichst textnah dokumentiert werden, wie die Märchen mit Nahrung umgehen. Die Sym- bolik der Speisen wird herausgearbeitet und überprüft, ob sich die zuvor analysierten Motive von Essen in der Literatur allgemein auch in den Märchentexten finden und anwenden lassen. Zunächst liegt der Fokus dabei auf dem Vorkommen und dem Kontext, in dem das Essen gebraucht wird; es wird gezeigt, welche Nahrungsmittel dargestellt werden, worin ihre Funktion besteht und wie diese spezifisch innerhalb des Textes umgesetzt wird. Anschließend wird erörtert, wie sich die Nahrung auf die weitere Handlung auswirkt und inwieweit sie für deren Verlauf essenziell ist.

Um das weite Feld der Essensthematik möglichst schlüssig zu bearbeiten, werden die bereits erwähnten fünf Märchen abhängig von ihrer scheinbar positiven respektive negativen Wirkung in drei Kategorien unterteilt.

Auf diesen Erkenntnissen basierend werden in einem dritten Abschnitt die In- halte der beiden vorherigen Kapitel zusammengeführt. Einleitend erfolgt dabei die Analyse einer möglichen Relation zwischen den Figuren und der verwendeten Nah- rung. Hier gilt es folgende Fragen zu beantworten: Bei welchen Figuren wirkt sich Essen positiv aus, bei welchen negativ? Besteht ein Zusammenhang zwischen diesen unterschiedlichen Wirkungsweisen und der Figur, die sich dieser Speise bedient? Da- nach sollen noch einmal die realen Modalitäten in die Betrachtungen einfließen. Der Zusammenhang zwischen Essen im Märchen und seinen Auswirkungen für die reale Lebenssituation der Leserschaft soll dokumentiert und dahingehend bewertet werden.

Ziel dieser Arbeit ist somit die Vermittlung eines kohärenten Bilds, das dem Leser das Thema Essen in den Kinder- und Hausmärchen in all seiner Vielfalt präsentiert. Auf diese Weise soll der Blick weg von den populären Märchenthemen und hin zu den unterschwelligeren eröffnet werden.

2 Die soziale Bedeutung von Essen im Kontext der Entstehungszeit der Grimmschen Märchen und dessen Einsatz in der deutschen Literatur

„Wir finden es wohl, wenn Sturm oder anderes Unglück [...] eine ganze Saat zu Boden geschlagen, daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchern, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert hat, und einzelne Ähren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort: keine frühe Sichel schneidet sie für die großen Vorratskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll geworden, kommen arme Hände, die sie suchen, und Ähre an Ähre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet, als sonst ganze Garben, werden sie heim getragen, und winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft.“4

1837 wählten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm diese Worte als Einleitung für die Vorrede der dritten Auflage ihrer Kinder- und Hausmärchen. Noch bevor ihr Inhalt, deren volkstümlicher Ursprung oder die Intention der Schriftsteller offenbart wurden, waren diese Sätze die ersten, die die Leserschaft zu sehen bekam. So bildet diese kurze Lehre den Anfang einer zu den populärsten Werken der deutschen Literatur zählenden Geschichtensammlung.

Es ist bezeichnend, dass die Brüder Grimm gerade mit diesen Sätzen ihre zum Schluss mehr als 200 Geschichten umfassende Märchenerzählung begannen. Was sie aussagen sollen, muss aufgrund dieser exklusiven Stellung zu Anfang des Werks für den Rezipienten von substanzieller Bedeutung gewesen sein. Jacob und Wilhelm Grimm weisen zuvörderst auf die elementare Rolle, die Nahrung im Leben ein- nimmt. Sie scheuen sich nicht davor, einen Vergleich des lebensnotwendigen Getrei- des mit der zeitgenössischen literarischen Situation aufzustellen. Essen und Literatur werden in einen Kontext gebracht und verdeutlichen dadurch bei genauer Betrach- tung die prekären Lebensumstände und die Wichtigkeit von Nahrung um das 18. Jahrhundert. Genau wie von den einstigen Volksüberlieferungen „selbst die Erinne- rung daran fast ganz verloren“5war, so schreiben die Brüder, war auch „von so vielem, was in früherer Zeit geblüht, nichts mehr übrig geblieben“6. Dieses Kapitel soll Aufschluss auf genau diese Situation des Mangels geben und die Erwähnung von Essen in literarischen Diskursen beschreiben.

Das bewährte Konzept, wonach „Marxistische Märchenforscher (Propp, Pomeranceva, Steinitz, Sieber, Woeller u.a.) [...] das Märchen in Beziehung zu den gesellschaftlichen Strukturen der mutmaßlichen Entstehungszeit [setzten]“7, soll auch an dieser Stelle genutzt werden. Folglich wird ein Blick auf die soziale Situation um das 18. Jahrhundert unablässlich.

Obgleich Jacob und Wilhelm Grimm als Söhne des Richters und höheren Verwaltungsbeamten Philipp Wilhelm Grimm in akademische Kreise hineingeboren wurden und damit wohl eher der privilegierten Bürgerschicht entstammten, scheint sorgloser Umgang mit Nahrung auch bei ihnen keine grundlegende Selbstver- ständlichkeit gewesen zu sein.8Zeitgenössische Dokumente belegen, dass die insge- samt sechs Geschwister zu Lebzeiten des Vaters häufig die Annehmlichkeiten von Gesellschaften genossen, bei denen ihnen die Speisen von Bediensteten aufgetragen und sogar Dessert serviert wurden.9Bei Festen wurde das „Butterbrot“10zu einem Großteil der Mahlzeit gereicht, was auf solide, aber nicht außergewöhnlich gute Le- bensverhältnisse schließen lässt. Für Brot, so zeigt der Wirtschaftshistoriker Abel, wurde in einer städtischen Durchschnittsfamilie Ende des 18. Jahrhundert zwar noch eine beträchtliche Menge der finanziellen Nahrungsmittelausgaben aufgebracht11, doch mit der durch Missernten bedingten Getreideteuerung12, der „unmäßigen Teue- rung der Lebensmittel“13allgemein und der steigenden Ausgaben für den Lebens- unterhalt der wachsenden Population14wurden Backwaren für die Bevölkerung zur Rarität. „Auch der Verzehr von [...] Butter, [...] lag im Ausgang des 18. und zu Be- ginn des 19. Jahrhunderts weit unter dem Stand des späten Mittelalters“15, erklärt Abel. Eine Hungerkrise, die ihren Anfang bereits 1771/ 1772 nahm, ließ das bäuer- liche Deutschland zusehends in Armut zurück16, so dass die „Reallöhne [sogar noch] sinken oder stagnieren [...], wenn sie schon auf das Existenzminimum gesunken sind.“17Spätestens mit dem Tod des Vaters wurde auch die finanzielle Lage der Familie Grimm schlechter. In seiner Selbstbiographie schrieb Jacob Grimm, dass es nur der Hilfe seiner Tante Henriette Philippine Zimmer zu verdanken sei, dass die Familie verhältnismäßig gut überleben konnte.18

Die durchschnittliche Bevölkerung, aus der den Brüdern Grimm die Erzählun- gen zugetragen wurden, befand sich damit um die Jahrhundertwende in einem „Pro- zess der Verarmung“19. Missernten, „Kriege und Handelskonjunkturen auf die wirt- schaftliche Lage und die Lebenshaltung“20führten laut Abel zu einer Massenarmut, und „im neuen Jahrhundert wuchs die Not abermals, als wieder die Ernten ausblieben (1803/1804)“21. Die Armutsbewegung war zwar nicht in allen Teilen Deutschlands ex aequo ausgeprägt und folglich nicht alle Gesellschaftsschichten im gleichen Maße betroffen, trotzdem, so schreibt Abel, war die Errichtung von Armenhäusern in den Großstädten bald unumgänglich22; die Hungerkrise umfasste, zuerst ausgehend von einer Armutswelle im Kreise der „Spinner und Weber“23, sogleich die „Kleinbauern in den Mittelgebirgen und in den westdeutschen Realteilungsgebieten, die Tage- löhner auf dem Lande und in den Städten, die Arbeiter, unteren Beamten und nicht zuletzt die Masse der Handwerker“24. Vor allem das Brot war von dieser Hungersnot betroffen; leisten konnten es sich nur noch die bestverdienenden Familien und selbst dann, zitiert Abel einen Bericht des Amtsarztes für das Obereichsfeld, entstanden um das Jahr 1770, war es „nicht für eine Person, geschweige für eine ganze Familie zur Ersättigung hinreichend. Denn es war keine Nahrung in dem lieben Brot“25. Auch den Verzehr von Fleisch konnte sich bald kaum ein Bürger mehr leisten, wodurch die Viehzucht nicht mehr lohnend war. Nachdem der Anbau von Hülsenfrüchten und Getreide keinen Ertrag mehr brachte, wichen die Bauern auf Kartoffeln als kosten- günstige und im Vergleich zu Korn den Boden schonendere Alternative aus.26

Rückblickend auf die einleitenden Sätze in der Grimmschen Märchensamm- lung und basierend auf dem Wissen um die Erntekrisen und den Getreidemangel, sprachen die Brüder in ihrer Vorrede genau jene Bevölkerungsschicht an, in der die Armut am größten war und aus der gleichzeitig die zusammengetragenen Erzäh- lungen stammten. Essen spielt damit bereits im Paratext der Sammlung eine zentrale Rolle. Jacob und Wilhelm Grimm nutzten den Vergleich mit dem raren, aber kraft- spendenden Getreide schon hier, um die Nähe der Literatur im Allgemeinen und ihrer Märchentexte im Speziellen zu der Bevölkerung zu markieren.

Doch wie sieht die Darstellung von Essen generell in der deutschen Literatur aus? Hat Alois Wierlacher Recht, wenn er von der eingangs genannten „Verdrän- gung des Hungerthemas“ spricht? Oder hat das Essen gerade wegen seines begrenz- ten Vorkommens in die Literatur Einzug gehalten und den Schriftstellern damit er- möglicht, das Hungergefühl durch ihre Arbeiten zu kompensieren? Ein kurzer Blick auf die Nahrungs-Präsenz in deutschen Erzähltexten soll darüber Aufschluss geben.

Die Literatur, so Wierlacher, erzähle weniger von „den Speisen und ihrer Dar- stellung“27als vielmehr von der „Sozialsituation Mahlzeit“28. Essen als Lebensmittel steht in der Regel nicht im Vordergrund; vielmehr liegt der Fokus der Schilderung einer Nahrungsaufnahme auf der gesellschaftlichen Situation. Diese Entwicklung könnte als erster Indikator für die Annahme der Verdrängung des Hungerthemas dienen. Davon ausgehend lenkten die Autoren ihre Aufmerksamkeit absichtlich nicht auf Lebensmittel, die ohnehin kaum vorhanden und wenn, in ihrer Vielfältigkeit stark reduziert waren. Resultierend diente das Schreiben über Mahlzeiten gerade als Ab- lenkung vom Essen selbst. Wer den Blick auf die gesellschaftlichen Beziehungen während des Speisens wirft, eröffnet die Betrachtungen auf das Gebiet der zwischen- menschlichen Relationen und weicht von dem Nahrungsverzehr als solchem ab.

Zudem gehen die seltenen Beschreibungen womöglich mit der geringen Menge an zur Verfügung stehenden Lebensmitteln einher. Auslandsimporte waren aufgrund der Kriege, logistischer Einschränkungen und des noch vorindustriellen Zeitalters kaum rentabel, so dass dem Volk meist nur heimisches Essen bekannt war. Gekocht wurden stets die gleichen Lebensmittel. Wurde deren Bedeutung in einem Prosatext erläutert, musste sie in einem Nachfolgewerk nicht noch einmal detailliert erklärt werden. Da eine Vielfalt an Nahrungsmitteln also nicht gegeben war - gewöhnlich dienten Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Beeren und selten Fleisch29zur Sättigung - sahen die zeitgenössischen Autoren diese geringe Mannigfaltigkeit mutmaßlich nicht als immer wieder erwähnenswerten Aspekt an. Je weniger Diversität vorhanden ist, desto begrenzter sind die Möglichkeiten, Lebensmittel als unterschiedliche Symbole oder literarische Motive einzusetzen.

Gerade mit Blick auf die Erkenntnisse, dass selten vom Essen selbst und viel- mehr von den Mahlzeiten im Allgemeinen geschrieben wird, ist es umso auffälliger, dass die Brüder Grimm diesem Prinzip entgegenwirkten. Ihre Märchen handeln nicht von der „Sozialsituation Mahlzeit“, sondern speziell von einzelnen Lebensmitteln. In keinem der Texte werden die drei Hauptmahlzeiten auch nur ansatzweise erwähnt, sondern nur singuläre Nahrungsmittel, vor allem Brot und Äpfel, beschrieben.

Auf Alois Wierlachers Forschung gestützt, beschränken sich die deutschen Prosatexte, sollten sie überhaupt einzelne Lebensmittel herausstellen, primär auf Kar- toffeln, Fleisch und Brot.30Nachdem Kartoffeln und Fleisch im Märchen nicht weiter thematisiert und folglich unrelevant sind, soll hier nun kurz auf das Brot eingegangen werden; es macht einen beträchtlichen Anteil der im Märchen verwendeten Nahrung aus und ist dadurch für die spätere Analyse besonders von Bedeutung.

Wierlacher, als Professor der Interkulturellen Germanistik, Vorsitzender der Deutschen Akademie für Kulinaristik und Gründer des Internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens31mit der Verknüpfung von Essen und Literatur ver- traut, misst gerade dem Brot einen hohen Stellenwert in den Erzähltexten bei.32Es sei, so schreibt er, das einzige Grundnahrungsmittel, das „bereits seit 1800 in Deutschland einen kontinuierlichen Rückgang des Verbrauchs [aufweist]“33. Die sig- nifikanten Gründe wurden eingangs erörtert. Trotzdem bildet Brot im Märchen einen wesentlichen Bestandteil des dortigen Lebensmittelvorkommens. Als Erklärung hier- für lässt sich festhalten, dass Brot bis ins 18. Jahrhundert hinein, also bevor die Man- gelsituation entstand, das Lebensmittel der arbeitenden, armen Leute war. Es hat sich gezeigt, dass die Grimmschen Texte die tägliche Lebenswelt der durchschnittlichen (und damit tendenziell armen) Bevölkerung widerspiegeln. Wenn Alois Wierlacher schreibt, dass dort, „wo das Fleisch herrscht, [...] das Brot keinen Platz mehr [hat]“34, muss im Umkehrschluss davon ausgegangen werden, dass dort, wo es kein Fleisch gibt, Brot das kraftspendende Nahrungsmittel ist. Dringt man tiefer in die Nahrungs- metaphorik der Literaturwissenschaft ein, so lässt sich das Brotvorkommen mit seiner Rolle als „Speisesymbol der Humanität“35begründen. Gerade im Märchen, das voll von Symboliken und Motivik ist, ist dieser Aspekt gewichtig; er wird an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen.

Ziel dieses Kapitels war es, einen kurzen Überblick auf die reale Ernährung der Menschen im 18. Jahrhundert zu geben und anschließend auf einer Vergleichsebene den Zusammenhang mit dem Speisevorkommen in der Literatur zu diskutieren. Die Lebenssituation der Brüder Grimm wurde, begründet durch deren Rolle als Verfasser der Märchengeschichten, in diesem Kontext skizziert und ihr soziales Umfeld kom- primiert dargelegt. Missernten, eine drastisch wachsende Bevölkerung und die da- raus resultierenden Teuerungen im Lebensalltag wurden als Ursachen für den Man- gel an Lebensmitteln36herausgearbeitet. Es wurde gezeigt, von welchen Grundnah- rungsmitteln sich der Durchschnittsmensch des 18. Jahrhunderts primär ernährte.

Da bis zu den großen Erntekrisen, die Getreide beinahe zum Luxus werden ließen, Brot zu den essenziellen Lebensmitteln zählte und dieses gleichzeitig auch einen Großteil der in Erzähltexten geschilderten Nahrung ausmacht, konnte hier der Übergang von der Realwelt hinein in die Literatur demonstriert werden. Auf die Analysen des Germanisten Wierlacher berufend, lässt sich von der Annahme ausge- gehen, dass knappe Schilderungen von Essen in literarischen Diskursen auf dem Mangel an Essen in der Realität beruhen. Essen in seinem Aussehen oder seiner Funktion wurde kaum dargestellt, da es quantitativ wenig vorhanden war und die geringe Nahrungsvielfalt zusätzlich die literarischen Möglichkeiten einschränkte.

Die vorweg erdachte Idee einer Kompensation des Hungergefühls lässt sich als konträres Prinzip in den sehr seltenen Beschreibungen „opulenter Mahlzeiten [...] der letzten drei Jahrhunderte“37wiederfinden. Diese seien mit Fokus auf ihre dargestellte Üppigkeit „in ihrer großen Mehrheit keineswegs realistischen Darstellungsinten- tionen entsprungen [...], sondern [müssen] als auf Nahrungsdefizite verweisende Wunsch- und Phantasievorstellungen verstanden werden [...], die Nahrungsmängel durch optische Festbilder von Nahrungsfülle“38aufzuheben versuchen. Von diesen Erkenntnissen ausgehend, wird der Blick im folgenden Kapitel auf das Thema des Essens innerhalb der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm präzisiert.

3 Zur Funktion, Wirkungsweise und Symbolik der Speisen- und Nahrungsmotivik in den Grimmschen Märchenerzählungen

3.1 Der Untersuchungsgegenstand Märchen

Nachdem zuletzt der Blick auf das Nahrungsmittelvorkommen um die Jahrhundertwende und auf das Thema des Essens in der deutschen Literatur allgemein gelegt wurde, wird die Thematik in diesem Kapitel anhand von fünf Märchen aus der Kinder- und Hausmärchensammlung der Brüder Grimm analysiert.

Als Auswahlkriterium für die Texte galten folgende Faktoren: Zunächst wurde die Vielzahl an Grimmschen Märchen reduziert, indem nur Erzählungen heran- gezogen wurden, in denen Essen geschildert wird. Von den nun zur Verfügung ste- henden Texten wurden die beiden berücksichtigt, die laut einer Umfrage zu den be- liebtesten Grimm-Märchen39der Deutschen zählen. Diese beiden objektiv ausge- wählten Märchen, Hänsel und Gretel (KHM 15) sowie Schneewittchen (KHM 53), bilden damit die Basis des Analysegegenstands. Um bei der Untersuchung möglichst vielfältig vorgehen zu können, wurden Der süße Brei (KHM 103) und Rapunzel (KHM 12) eigenständig in die Analyse aufgenommen. Ausschlaggebend hierfür war die exponierte Stellung von Essen, das durch sein Vorkommen im Titel namens- gebend ist.

Zuletzt wurde Frau Holle (KHM 24) berücksichtigt. Da Essen hier ausschlaggebend für den (Miss-) Erfolgsweg der Heldinnen ist, kommt ihm so eine Rolle als Wendepunkt der Handlung zu, die unbedingt betont werden sollte.

Die verwendeten Märchen setzen sich damit aus folgenden Kategorien zusam- men: Alle beinhalten Essen. Zwei Märchen ergeben sich aus einer Umfrage nach der Beliebtheit beim Leser und repräsentieren damit objektiv die Meinung der Bevöl- kerung. Zwei Märchen qualifiziert die Speisennennung in ihren jeweiligen Titeln und eines wurde aufgrund der Funktion von Essen als Wendepunkt für die Helden heran- gezogen. Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, dass Nahrung mehr ist „als ihr reales Aussehen und ihre Funktion verraten: sie ist nicht nur Hungerstiller und erhaltendes Lebens-Mittel“40; sie verweist auf eine Rolle, die nachfolgend ermittelt wird.

3.2 Die gute Verheißung des Essens

Folgend werden die ersten beiden Märchen, Hänsel und Gretel (KHM 15) sowie Der süße Brei (KHM 103), untersucht. Die gegebene Einteilung erfolgt durch den scheinbar positiven rettenden Aspekt, den Essen in beiden Erzählungen einnimmt und den es hier zu diskutieren gilt.

3.2.1 Hänsel und Gretel (KHM 15)

„Essen war immer [...] eine besondere Lust- und Leidquelle menschlicher Existenz, bedeutete Genuß und erregte Ekel [...], war Zeichen der Liebe und des Hasses, spiegelte Armut und materiellen Wohlstand [...]. Nicht zuletzt war das Essen immer auch ein Mittel der Erkenntnis [...].“41

In wohl kaum einem anderen Märchen der Brüder Grimm lässt sich diese Beschrei- bung von Alois Wierlacher besser wiedererkennen als in Hänsel und Gretel.

[...]


1 Wierlacher 1987, S. 18.

2Rudke2013, S. 8.

3 KHM kennzeichnet die Kinder- und Hausmärchen. Die jeweilige Nummer ergibt sich aus der Anordnung der Märchen in der Grimmschen Sammlung.

4Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm; Rölleke Heinz (Hg.) (2007): Kinder- und Hausmärchen,

gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag (Band 16), S. 12. Folgend zitiert als: Grimms Märchen [2007/1837].

5Grimms Märchen [2007/1837], S. 12.

6Grimms Märchen [2007/1837], S. 12.

7 Lüthi 2004, S. 90.

8Vgl. Seitz1985, S. 9.

9Vgl. Seitz1985, S. 10.

10Seitz1985, S. 10.

11Vgl. Abel1986, S. 14.

12Vgl. Abel1986, S. 32.

13Abel1986, S. 32.

14Vgl. Abel1986, S. 32.

15Abel1986, S. 64.

16Vgl. Abel1986, S. 46ff.

17Abel1986, S. 67.

18Vgl. Gerster1952, S. 22.

19Abel1986, S. 61.

20 Abel 1986, S. 54.

21Abel1986, S. 54.

22Vgl. Abel1986, S. 16.

23Abel1986, S. 11.

24Abel1986, S. 11.

25Abel1986, S. 49.

26 Vgl. Abel 1986, S. 67.

27Wierlacher1987, S. 60.

28Wierlacher1987, S. 60.

29Vgl. Wierlacher1987, S. 61.

30 Vgl. Wierlacher 1987, S. 62.

31Vgl. http://www.wierlacher.de/person.htm [Zugriff: 15.02.2014].

32Vgl. Wierlacher1987, S. 65ff.

33Wierlacher1987, S. 65.

34Wierlacher1987, S. 66.

35Wierlacher1987, S. 67.

36 Vgl. Benker 1996, S.17.

37Wierlacher1987, S. 93.

38 Wierlacher 1987, S. 93.

39Vgl. repräsentative Umfrageergebnisse des Essener Literaturmagazins Bücher vom November 2007: http://www.bankkaufmann.com/a-106870-Repraesentative-BueCHER-Umfrage-ergibt- Schneewitchen-ist-das-Lieblingsmaerchen-der-Deutschen.html [03.03.2014].

40Benker1996, S. 9.

41 Wierlacher 2003, S. 171.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Essen in Märchen der Brüder Grimm. Sprechende Brote, vergiftete Äpfel und ein Haus aus Lebkuchen
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
41
Katalognummer
V307717
ISBN (eBook)
9783668062580
ISBN (Buch)
9783668062597
Dateigröße
567 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Essen, Germanistik, Frau Holle, Hänsel und Gretel, Schneewittchen, Rapunzel, Nahrung, Gebrüder Grimm, Bedeutung von Essen
Arbeit zitieren
Annette Weber (Autor:in), 2014, Essen in Märchen der Brüder Grimm. Sprechende Brote, vergiftete Äpfel und ein Haus aus Lebkuchen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/307717

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