„Dieses Gebäude hält man für das prächtigste Jesuitenkollegium in der Welt…“. Beschreibungen der Stadt München in der deutschsprachigen Reiseliteratur um 1800


Bachelorarbeit, 2013

42 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


1. Einleitung

Reisebeschreibungen bieten zunächst die Möglichkeit, nach den rein subjektiven Eindrücken und Erfahrungen der Reisenden im Lande selbst zu fragen.1

Mit diesen Worten gibt Andreas Oehlke treffend die Ziele der Reiseliteraturforschung wieder. Es geht hierbei nicht um das Finden von authentischen Quellen, sondern um die Begegnung eines oder mehrerer Menschen mit dem Fremden, sei dies ein Dorf, eine Stadt, ein Land oder auch ein anderer Kontinent. Die Eigenheiten der Gebiete, die Charakteristika der Sprache, der Kultur, sowie der Einwohner, aber auch der Wirtschaft, Bildung und Religion sind über einen kurzen Eindruck definiert und dienen den Daheimgebliebenen als Zeugnisse einer fremden Landschaft, die sie selbst wahrscheinlich niemals sehen werden. Auch heute noch prägen Reisebeschreibungen den Buchhandel. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg2, welches 2006 erschien und bereits im Jahr 2008 über 3 Mio. Mal verkauft wurde.3 Doch die Faszination daran ist kein Phänomen der Moderne. Bereits im 18. Jahrhundert entwickelte sich - neben dem Roman - der Reisebericht zum beliebtesten Genre. Insgesamt kursierten in Deutschland über 10.000 verschiedene Titel (Übersetzungen aus dem Ausland eingeschlossen). Ab ca. 1750 fanden die Berichte größtenteils Absatz bei Bad-, Bildungs-, und Fachreisenden. Darüber hinaus wurde die barocke Tradition der Kavalierstour aufrechterhalten. Im Zeitalter der Hochaufklärung begann man schließlich politische, bildungsabhängige, soziale sowie medizinische Zustände zu beschreiben. Diese sozialkritischen Reisen sind besonders bei Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739-1792) und Johann Pezzl (1756-1823) zu finden. Den Höhepunkt der Reisebeschreibungen in der Aufklärung mag wohl Friedrich Nicolais (1733-1811) Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz4 in zwölf erschienenen Bänden sein. In diesem Reisebericht sind die Elemente der bildungs- und sozialkritischen, der forschungs- und fachwissenschaftlichen Reise auf enzyklopädische Art verbunden.5 Die drei genannten Autoren durchreisten alle unabhängig voneinander die Reichs- und Residenzstadt München und gaben ihre Eindrücke von der Stadt in ganz unterschiedlicher Art und Weise, aber auch in verschiedener Länge und Schwerpunktsetzung wieder. Alle drei Reisen wurden innerhalb von 15 Jahren (ca. 1770-1785) absolviert und dokumentierten somit einen kleinen, aber doch nicht zu unterschätzenden Teil der Münchner Geschichte. Während Friedrich Nicolai ein Gesamtbild der Stadt, und Johann Pezzl mit seiner Reise durch den Baierischen Kreis6 der altbayrischen Landschaft, in Anlehnung an Lorenz Westenrieder (1748-1829) zu erschaffen suchten, ging es Wilhelm Ludwig Wekhrlin um eine geradezu ironische Beschreibung oberdeutscher Verhältnisse. Pezzls Faustin wiederum versuchte die letzten Züge des voraufgeklärten Verharrens zur Aufklärung darzustellen.7 Die Berichte weisen demzufolge alle in eine unterschiedliche Richtung. Betrachtet man die einzelnen Werke allerdings näher, so stellen sich doch zumindest einzelne Aspekte bei allen Autoren als annähernd gleich bzw. ähnlich heraus.

Ziel dieser Arbeit ist es, die einzelnen Werke und deren Darstellungen der Stadt München, sowie deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu charakterisieren. Es soll aber auch aufgezeigt werden, wie die Reiseberichte von der Wirklichkeit bzw. der Meinung des Einheimischen Lorenz Westenrieder abweichen. Dafür werden folgende Bereiche untersucht: das Ministerium als eine Institution für Gesetzgebung und Führung und die Bayrische Akademie der Wissenschaften als Ort der allgemeinen Bildung und Forschung. Anschließend wird sich mit dem zentralen Thema der Religion befasst, da alle Reisenden in vielfacherer Weise darauf eingingen und in ihr die Ursache für Münchens Traditionalismus sahen. Die Münchner Bevölkerung, die von Ministerium, Bildung und Religion in ihrer Lebenswelt in unterschiedlichem Maße bestimmt wurde, bildet ebenfalls eine zentrale Frage der vorliegenden Arbeit. Friedrich Nicolai schuf ein Standartwerk, welches an Themengebieten und Vollständigkeit in der Münchner Reiseliteratur damals einzigartig war. Der Berliner Verleger kam aus einem norddeutschen, protestantischen, aufgeklärten Gebiet und konnte, dadurch dass die Reise auch in andere Städte (beispielsweise Wien) führte, direkte Vergleiche hinsichtlich Wirtschaftlichkeit, Kultur und Politik ziehen, die einen Aufschluss über die Bewertung Bayerns durch preußische Reisende geben. Johann Pezzl war ein Reisender aus dem eigenen Land, aber eben nicht aus München und gilt als radikaler Vertreter der Aufklärung. Von ihm werden zwei Werke8 für die nachfolgende Arbeit genutzt, da dies eine breitere Darstellung ermöglicht. Faustin ist zwar ein fiktiver, aber trotzdem auf persönlicher Ebene stattfindender Bericht, welcher zwischenmenschliche Beziehungen darstellte und somit auch mündliche, eventuell ähnlich stattgefundene, Dialoge wiedergab. Der direkte Kontakt zwischen Reisenden und Einheimischen wird somit greifbarer und kann eine Vorstellung von der Mentalität der damaligen Zeit in der bayrischen Residenzstadt vermitteln, während die Reise durch den Baierischen Kreis eher Nicolais Vorgehensweise ähnelt. Wilhelm Ludwig Wehkrlins Bericht ist sehr kurz, da sein Schwerpunkt eher auf der Stadt Augsburg und den Städten Österreichs lag. Der ironische Unterton, welcher diesen Text durchzieht, wird ab und an durch eine Art optimistische Aufbruchsstimmung gebrochen, da sein Text am Ende der Regierungszeit von Max III. Joseph (1727-1777) stand und dieser der Aufklärung gegenüber offen war und eine Vielzahl an Reformen durchführte. Die Umbruchstimmungen zwischen Konservativismus und Aufklärung, Tradition und Fortschritt prägen die Reiseberichte jener Zeit. Die Arbeit beschäftigt sich mit diesem noch wenig in der Forschung behandelten Aspekt deutscher Reisenden im 18. Jahrhundert und soll einen Impuls zu weiteren Untersuchungen der Münchner Rezeptionsgeschichte geben.

2. Gegenwärtiger Forschungsstand

Obwohl München heutzutage zu den größten Städten Deutschlands gehört, fehlt eine Auseinandersetzung mit den literarischen Reisebeschreibungen der Stadt am Ende des 18. Jahrhunderts noch völlig. Allerdings gibt es eine Vielzahl an Anthologien, welche moderne Leser auf traditionelle Reisebeschreibungen aufmerksam machen sollen. Ida Karls Lese-Verführung9, Hans- Rüdiger Schwabs München10 und Hanns Arens Unsterbliches München11 sind nur einige wenige Beispiele dafür. Sie beschränken sich nicht auf einzelne Jahrhunderte oder Epochen, sondern versuchen ein Gesamtbild von der „Vielseitigkeit, die München eigen ist“12 zu schaffen. Für das Fehlen einer breiten Forschung muten mehrere Gründe an: Erstens war München kein direktes Ziel der deutschsprachigen Reisenden im 18. Jahrhundert. Man besuchte innerhalb Europas entweder England, Italien bzw. die Schweiz13 oder auch, wie Andreas Oehlke14 und Eda Sagarra15 beschreiben, Irland. Rundreisen innerhalb Deutschlands waren ebenfalls keine Seltenheit, wie sie beispielsweise von Harri Günther16 bezüglich Reisen in preußische Landschaftsgärten dokumentiert worden sind. Hinzu kommen die Fahrten von politischen Funktionsträgern, die u.a. in die Niederlande oder nach Russland führten.17

Zweitens: waren Reisende nun auf den Weg nach Italien bzw. in die Schweiz, machten sie oft in der bayrischen Residenzstadt Halt, weshalb zwar Berichte vorhanden sind, diese aber oft, mit Ausnahme Friedrich Nicolais, sehr kurz bzw. wenig aussagekräftig ausfallen.18

Deshalb wird sich in der vorliegenden Arbeit auf Untersuchungen zu anderen Städtereisen, wie beispielsweise Dieter Richters Der weltliche Rom-Pilger. Zur Erfahrung der Heiligen Stadt im Zeitalter der Aufklärung und das bereits genannte Werk Andreas Oehlkes zu Stadt Dublin19 gestützt.

In Bezug auf die einzelnen Autoren gestaltet sich die Forschung folgendermaßen:

Zu Friedrich Nicolais Text Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz hat Paul Raabe20 bereits 1991 einen Aufsatz verfasst. Bezüglich Lorenz Westenrieder sei auf die zahlreichen Schriften durch Wilhelm Haefs verwiesen.21 Der französische Germanist Jean Mondot, welcher auch die Neuausgabe der Originalschrift des Anselmus Rabiosus22 mit einem Nachwort versah, veröffentlichte 1986 eine Biographie23 des Württemberger Wilhelm Ludwig Wekhrlin. Ebenso Karla Müller24, die ihre Dissertation zu dessen Literaturkonzept25 schrieb. Alle drei Schriften gelten heute als Standard zu Wilhelm Ludwig Wekhrlin. Werke und Gesinnungen Johann Pezzls werden in Bernhard Buddes Aufsatz Preis der Vernunft26 kurz, aber sehr gut dargestellt und für die vorliegende Arbeit genutzt.

Für das Zeitalter der Aufklärung in Bayern wird noch einmal auf die Arbeiten von Wilhelm Haefs27 und dem französischen Germanisten Raymond Heitz28 verwiesen.

Die historischen Hintergründe zur Stadt- und Regionalgeschichte sind umfangreich in der Wissenschaft dokumentiert und aufbereitet. Für die folgende Arbeit wird einerseits das Überblickswerk29 des Leiters des Münchner Stadtarchivs Richard Bauer genutzt und durch Reinhard Bauer und Richard Pipers München. Geschichte einer Stadt30 ergänzt. Darüber hinaus wird die Chronik der Stadt München31 zu Rate gezogen. An anderen Stellen ist es notwendig die bayrische bzw. die oberbayrische Regionalgeschichte zu erwähnen. Hierfür werden die Monographien von Wilhelm Volkert32 und Michael W. Weithmann33 verwendet. Informationen zum Adelsgeschlecht der Wittelsbacher liefert die Zusammenfassung von Hans-Michael Körner34.

3. Die bayrische Landeshauptstadt in der frühen Reiseliteratur

München war auch vor der Aufklärung kein direktes Reiseziel. Trotzdem gibt es vereinzelt deutschsprachige Beschreibungen35. Dabei sei hier Hans Sachs (1494- 1576) zu nennen, welcher eine kurze Stadtgeschichte als Lobspruch verfasste, nachdem er im Jahr 1513 auf seiner Gesellenfahrt die Stadt kennengelernt hatte und mit diesem sein 17. Spruchbuch abschloss.36 Neben der historischen Entwicklung Münchens geht Hans Sachs auch auf das allgemeine Stadtbild ein:

Darinn sind auch herlich und weit gassen Und schöne heuser ubermassen, die gotsheuser wol geziert und gros und auch ein wolgebawtes schloß, […].37

In ähnlichem Ton spricht Matthaeus Merian (1593-1650) in seiner Topographia Bavariae38:

Die Häuser seyn groß/schön vnnd prächtig erbawet/haben artige Manier mit den Wasser- Aymern/das Wasser hinauff zu ziehen/vnd zu schöpffen/vnd seyn solche/sonderlich auff dem Marckt schön gemahlet. […] habe einen schönen Marckt; auff welchem vnlängsten von rotem Marmor/ein Säul auffgerichtet worden/auff dessen Spitz oder Höhe/die Mutter Gottes mit dem Kindlein Jesu/im Mond stehend, alles stattlich vergüldet/zu sehen.39

Es folgt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), welcher eine Forschungsreise zur Geschichte des Welfenhauses unternahm. Diese führte ihn 1688 in die Residenzstadt München. Während die Texte von Hans Sachs und Matthaeus Merian von anerkennender Grundstimmung geprägt sind, wird Leibnitz Bericht bereits von einer religionskritischen Haltung durchzogen:

Le vendredi saint, […] je m´arrestay auprés d´un pont, parcequ´une procession y passoit, au milieu de la quelle je voyois venir quatre hommes, qui environnoient, battoient et tirailloient un homme qui representoit nostre Seigneur. Un de ces quatre passant aupres du crucifix qui estoit sur le pont, au lieu de donner un coup à l´homme, qu´on menoit, le donna au crucifix même.40

Leibnitz nimmt mit dieser Beschreibung vorweg, was sich wenig später unter dem Ausspruch Friedrich Nicolais „Unsinn und Aberglauben“41 als verbreitete Meinung aufgeklärter Reisender über den Zustand des Katholizismus in München sagen lässt.

Auch in ausländischen Texten finden sich Stadtbeschreibungen, wie beispielsweise bei Giacomo Casanova (1725-1798). Die jesuitische Gesellschaft ist für ihn der Inbegriff des Aberglaubens und steht der rationalen Denkweise des Venezianers entgegen.

Ein anderer Priester sagte mir, der Beichtvater [ein Jesuit] sei fortgegangen, um sich ein Wunder anzusehen, wovon die ganze Stadt spräche. ,Was ist das für ein Wunder, Hochwürden?΄,Die Witwe des Kaisers Karl VII., deren Leichnam noch in einem Saale des Schlosses öffentlich ausgestellt ist, hat ganz warme Füße.΄ […] Man sieht nicht jeden Tag ein Wunder. Ich durfte daher die Gelegenheit nicht versäumen, entweder etwas Erbauliches zu sehen oder zu lachen […]. Ich eilte daher, die erhabene Tote mir anzusehen. Sie hatte in der Tat warme Füße; aber ich sah, daß dies ganz einfach zuging, indem Ihre verstorbene Majestät mit den Füßen einem in sehr geringer Entfernung stehenden, glühend heißen Ofen zugekehrt war.42

Aber nicht nur Glaubensfragen beschäftigten die Reisenden. Im Jahr 1729 erreichte Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689- 1755) auf seiner Bildungsreise durch Deutschland und Italien München, wo ihm vor allem eine gewisse Mittelmäßigkeit auf musikalischem Gebiet und bei den Speisen43, die hohe Verschuldung des Hofes44 sowie eine, seiner Meinung nach, schlechte architektonische Umsetzung des Fürstenschlosses auffielen.45

Tatsächlich finden sich auch diese Punkte in den späteren Reiseberichten wieder, weshalb davon auszugehen ist, dass es mehr oder weniger den Tatsachen entspricht. In Bezug auf die Staatsverschuldung lässt sich die Behauptung historisch nachweisen. Bei Max Emanuels (1679-1726) Tod betrug diese 26 Millionen Gulden46, welche sich größtenteils aus der kostspieligen Hofhaltung, den luxuriösen Lebensstil und der Kunstsammelleidenschaft des Kurfürsten erklärt47. Die Verschuldung setzt sich bei seinem Sohn Karl Albrecht (1726-1745) fort.48

Auch Giovanni Ludovico Bianconi (1717-1781), ein italienischer Kunsthistoriker, welcher mehrere Sendbriefe an den italienischen Adligen Marchese Philippo Hercolani schrieb, sendet Nachrichten aus München. Obwohl es hauptsächlich darum geht, dass sich Bianconi als guter Reiseführer, für einen potentiellen Besuch des Marchese in München, präsentiert,49 deutet er bereits an, dass

[…] immaaßen diese Nation, wie ich Ihnen schon hier angemerket habe, ein gewisses attisches Wesen und eine ihr eigne Leutseligkeit hat, welche sie leicht von andern Einwohnern Deutschlandes unterscheidet.50

Auch wenn diese Texte aus verschiedenen Jahrhunderten und von völlig verschiedenen Personen mit ganz ungleichen Reisezielen stammen, so zeigen sie doch, was auch in den nachfolgenden Texten der Aufklärung stets ein Thema sein wird: Einerseits das herrliche München mit seinen Kunstschätzen und schönen Kirchen, aber andererseits die Fremdartigkeit der Menschen, den religiösen Besonderheiten sowie die teilweise damit verbundenen Eigenheiten in der Mentalität der Münchner.

4. München im Zeitalter der Aufklärung

Das Kapitel der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich mit dem Zustand Münchens im Zeitalter der Aufklärung sowie den damaligen Regenten und deren Leistungen für die bayrische Residenzstadt.

4.1 Allgemeines

München blieb lange Zeit hinter anderen Städten im nördlichen Deutschland, sowie im Vergleich mit den süddeutschen Reichsstädten relativ schwach entwickelt, nicht zuletzt aufgrund der (sozial)ökonomischen Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges sowie den Folgen des Spanischen Erbfolgekrieges (1701- 1714) stark belastet worden war. Darüber hinaus hat im Zuge der katholischen Gegenreform eine Abschottung gegenüber den protestantischen Territorien stattgefunden.51

Nachdem Max II. Joseph, der als „aufgeklärter Kurfürst“52 in die bayrische Landesgeschichte einging, von seinem Vater das hochverschuldete Land übernahm, begann er u.a. mit der Verbesserung von Wirtschaft und Bildung.53 Beispielsweise ließ er eine neue Isarbrücke aus Stein erbauen um die Kaufleute im Handel zu unterstützen und gründete die Bayrische Akademie der Wissenschaften (1759). Darüber hinaus führte er 1771 die allgemeine Schulpflicht ein.54 Daraus werde einerseits eine zeitliche Verschiebung der süddeutschen Aufklärung gegenüber den nördlichen Territorien deutlich und andererseits ist es durchaus möglich von einem Aufklärungsprozess von oben ab den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts zu sprechen.55 Außerdem ist die Geistlichkeit „überpräsentiert“56 und hat eine große Anzahl von Stiften und Klöstern besessen57, was die fehlende Offenheit gegenüber der Aufklärungsliteratur bedingt. Diese hohe Präsenz lässt sich auch an der fehlenden Offenheit gegenüber der Aufklärungsliteratur feststellen. Somit wurde Residenzstadt bis weit nach 1760 von spätbarocker Literatur, patriotischer Panegyrik und Erbauungsschriften, wie die des rheinischen Kapuziners Martin von Cochem (1634-1712) geprägt.58 Außerdem gab es […] keine relativ homogene bürgerliche Schicht, die sich […] ihr eigenes, bürgerliche Werte literarisch artikulierendes und propagierendes Verständigungsmedium in der Form Moralischer Wochenschriften geschaffen hätte.59

Im Gegenteil: Der kurfürstliche, geistliche Rat und Vorstand Matthias von Schönberg (1732-1792) des ,Goldenen Almosens΄ (bis 1773 existent) verteilte billige Gebetsbücher und asketische Schriften bzw. auch katholische Sittenschriften (ab 1771)60, die nur wenig zur Förderung einer aufklärerischen Entwicklung beitrugen. Der anschließende Regierungswechsel änderte an der Situation auch nicht viel, zumal Karl Theodors (1724-1799) notwendiger Erfolg, trotz weiterer Reformvorhaben, die die wirtschaftspolitische und soziale Rückständigkeit Bayerns gegenüber dem Norden überwinden sollten61, ausblieb, was nicht zuletzt an seiner Idee Bayern an Österreich gegen die Niederlande zu tauschen, gelegen haben mochte.62 Die Münchner blieben in diesem Punkt unverzeihlich.63

Trotzdem sollte nicht übersehen werden, dass es auch in Bayern aufklärerische Bemühungen gegeben hat. Hierbei seien vor allem Heinrich Braun (1732-1792), der mit seiner schulreformatorischen Schrift Akademische Rede von der Wichtigkeit einer guten Einrichtung im deutschen Schulwesen64 dem Desinteresse an deutschsprachiger Literatur im Gymnasialunterricht der Jesuiten begegnen wollte und Lorenz Westenrieder (1748-1829), der sich mit der bayrischen Geschichtsschreibung beschäftigte und eine umfangreiche Schrift zur Stadt München65

[...]


1 Andreas Oehlke: Dublin, die irische Metropole in deutschen Reisebeschreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, hrsg. von Wolfgang Griep (= Eutiner Forschungen, Bd. 1), Heide 1991, S. 60-85, hier: S. 60.

2 Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, München 2006.

3 Vgl. Matthias Heine: So wanderte Hape Kerkeling zum Bestseller. Welt-Online vom 21.05. 2008. Abrufbar unter: http://www.welt.de/kultur/article2020311/So-wanderte-Hape-Kerkeling-zum- Bestseller.html (letzter Zugriff: 30.08. 2013).

4 Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 6. Bd., Berlin und Stettin 1785.

5 Vgl. Werner Schneiders (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 2001, S. 347.

6 Johann Pezzl: Reise durch den Baierischen Kreis. Mit vielen Zusätzen und Berichtigungen, Salzburg/Leipzig 1784.

7 Vgl. Johann Pezzl: Faustin oder das philosophische Jahrhundert. Mit Erläuterungen, Dokumenten und einem Nachwort von Wolfgang Griep. Hildesheim 1982, S. 2.

8 Siehe Anmerkungen 5 und 6.

9 Ida Karl (Hrsg.): München. Eine Lese-Verführung, Frankfurt/Main 2010. 5

10 Hans-Rüdiger Schwab (Hrsg): München. Dichter sehen eine Stadt, Stuttgart 1990.

11 Hanns Arens: Unsterbliches München. Streifzüge durch 200 Jahre literarischen Lebens der Stadt. 3 Bände, Pfullingen 1968.

12 Ida Karl: München. Klappentext.

13 Vgl.: Thomas Höhle: Möglichkeiten der Reisebeschreibung am Beispiel einiger ausgewählter Reisebücher über die Schweiz im 18. Jahrhundert. In: Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, hrsg. von Wolfgang Griep (= Eutiner Forschungen, Bd. 1), Heide 1991, S. 107-114, hier: S. 107.

14 Andreas Oehlke: Dublin, die irische Metropole in deutschen Reisebeschreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts.

15 Eda Sagarra: Die ,grüne Insel΄ in der deutschen Reiseliteratur. Deutsche Irlandreisende von Karl Gottlob Küttner bis Heinrich Böll. In: Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. von Hans-Wolf Jäger (=Neue Bremer Beiträge, Bd. 7). Heidelberg 1992, S.182-195.

16 Harri Günther: Reisen in frühe Landschaftsgärten. In: Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, hrsg. von Wolfgang Griep (= Eutiner Forschungen, Bd. 1), Heide 1991, S. 115-124.

17 Joachim Rees/Winfried Siebers: Erfahrungsraum Europa. Reisen politischer Funktionsträger des Alten Reiches 1750-1800. Ein kommentiertes Verzeichnis handschriftlicher Quellen (=Aufklärung und Europa, Bd. 18), Berlin 2005.

18 Verwiesen wird hierbei auf Johann Wolfgang von Goethe. Auf seiner Italienreise machte er auch in München Halt, allerdings nur am 6. September 1786, weshalb seine Bemerkungen sich auf wenige Stunden und somit knappe Notizen beschränken: Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, Neuausgabe Frankfurt/Main 2009, S. 12-13.

19 Siehe Anmerkung 14.

20 Paul Raabe: Friedrich Nicolais unbeschriebene Reise von der Schweiz nach Norddeutschland im Jahr 1781. In: Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, hrsg. von Wolfgang Griep (= Eutiner Forschungen, Bd. 1), Heide 1991, S. 197-212.

21 Beispielsweise: Wilhelm Haefs: Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk und Wirkung Lorenz Westenrieders, Neuried 1998. Oder: Wilhelm Haefs: „Praktisches Christentum“. Reformkatholizismus in den Schriften des altbayrischen Aufklärers Lorenz Westenrieder. In: Katholische Aufklärung, hrsg. von Harm Klueting [u.a.] (=Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 15), Hamburg 1993, S. 271-301.

22 Wilhelm Ludwig Wekhrlin: Anselmus Rabiosus. Reise durch Oberdeutschland, hrsg., erläutert und mit einem Nachwort versehen von Jean Mondot, München 1988.

23 Jean Mondot: Wilhelm Ludwig Wekhrlin. Un publiciste des Lumieres, PU de Bordeaux 1986.

24 Karla Müller: Wilhelm Ludwig Wekhrlin 1739-1792. Leben - Werk - Wirkung. Eine

dokumentierende Bibliographie 1777-1984 (Bibliographische Mitteilungen der

Universitätsbibliothek Jena, 47), Jena 1989.

25 Karla Müller: Zur Entwicklung eines Literaturkonzeptes im Dienste der Aufklärung, dargestellt am Beispiel Wilhelm Ludwig Wekhrlins (1739 - 1792), Dissertation Jena 1987.

26 Bernhard Budde: Preis der Vernunft. Zur Revue der europäischen Absurditäten und Bestialitäten in Johann Pezzls Roman Faustin oder das philosophische Jahrhundert. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, hrsg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2. Halbband, 32. Jg., Wien 2001, S. 193-211.

27 Siehe Anmerkung 22.

28 Raymond Heitz: Les Jésuites et l´ Aufklärung en Bavière. In: Recherches sur le monde germanique. Regards, Approches, objets. En hommage à l´activité de direction de recherche du professeur Jean-Marie Valentin, hrsg. von Michel Grimberg, Paris 2003, S. 331-349.

29 Richard Bauer: Geschichte Münchens, München 2003.

30 Reinhard Bauer/Richard Piper: München. Geschichte einer Stadt, München 1996.

31 Helmuth Stahleder: Chronik der Stadt München. Erzwungener Glanz. Die Jahre 1706-1818, Hamburg 2005.

32 Wilhelm Volkert: Geschichte Bayerns. 2. ergänzte Auflage, München 2004.

33 Michael W. Weithmann: Kleine Geschichte Oberbayerns, Regensburg 2007.

34 Hans- Michael Körner: Die Wittelsbacher. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2009.

35 Johann Ernst Fabri gibt einen kleinen Überblick in: Geographisches Magazin, hrsg. von Johann Ernst Fabri. 2. Bd, Heft 5/8, Dessau und Leipzig 1783, S. 107.

36 Hans Sachs: Werke. Hrsg. von Adelberg von Keller und Edmund Goetze. 23. Bd., hrsg. von Edmund Goetze, Tübingen 1895, S. 264-266.

37 Vgl. Ebd., S. 265.

38 Matthaeus Merian/Martin Zeiller: Topographia Bavariae das ist Beschreib: vnd Aigentliche Abbildung der Vornembsten Stätt vnd Orth, in Ober vnd NiederBeyern, Der ObernPfaltz, Vnd andern, Zum Hochlöblichen Bayrischen Craiße gehörigen, Landschafften, Frankfurt/Main 1644 [erschienen ca. 1690].

39 Ebd., S. 45-46.

40 Leibnitz an Herzogin Sophie am 24. (?) April 1688. Aus: Gottfried Wilhelm Leibnitz: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 5. Bd. 1687-1690, unveränderter Nachdruck der Erstausgabe von 1954, Berlin 1970, S. 105.

41 Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, S. 721.

42 Giacomo Girolamo Casanova: Geschichte meines Lebens, hrsg. und kommentiert von Günter Albrecht in Zusammenarbeit mit Barbara Albrecht. 5. Bd., München 1985, S. 18-20.

43 Vgl. Baron Albert de Montesquieu: Voyages de Montesquieu. 2. Teil, Bordeaux 1896. S. 141 und 146.

44 Vgl. Ebd., S. 144.

45 Vgl. Ebd., S. 146.

46 Vgl. Hans-Jürgen Schwab: München. Dichter sehen eine Stadt. Stuttgart 1990, S. 20.

47 Vgl. Wilhelm Volkert: Geschichte Bayerns. 2., ergänzte Auflage, München 2004, S. 55.

48 Vgl. Richard Bauer: Geschichte Münchens. München 2003, S. 80.

49 Beispielsweise heißt es in dem Brief vom 28. 10. 1762: „Es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen sage: daß es viele Bayern giebt, die nicht wissen, was sie in ihrer Hauptstadt für Schätze besitzen, denn Sie werden überall finden, daß gelehrte Ausländer von den Vorzügen eines Landes oft besser unterrichtet sind, als dessen Einwohner, so darinnen geboren und erzogen sind.“, in: Giovanni Ludovico Bianconi/Dorothee Henriette von Runckel:Zehn Sendschreiben an Herrn Marchese Philippo Hercolani, Röm. Kayserl. Königl. Cammerherrn, die Merkwürdigkeiten des Churbayerischen Hofes und der Residenz-Stadt München betreffend, Leipzig 1764, S. 1-2.

50 Vgl. Ebd., S. 4.

51 Vgl. Wilhelm Haefs: Staatsmaschine und Musentempel. Von den Mühen literarisch- publizistischer Aufklärung in Kurbayern unter Max III. Joseph (1759-1777). In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700-1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag, hrsg. von Wolfgang Frühwald und Alberto Martino, unter Mitwirkung von Erst Fischer und Klaus Heydemann, Tübingen 1989, S. 85-129, hier: S. 89.

52 Reinhard Bauer/Ernst Piper: München. Geschichte einer Stadt. München 1996, S. 132.

53 Vgl. Ebd., S. 132-133.

54 Vgl. Ebd.

55 Vgl. Wilhelm Haefs: Aufklärung in Altbayern, S. 15.

56 Wilhelm Haefs: Staatsmaschine und Musentempel, S. 90.

57 Vgl. Ebd.

58 Vgl. Ebd., S. 91.

59 Vgl. Ebd.

60 Vgl. Ebd., S. 121.

61 Vgl. Richard Bauer: Geschichte Münchens, S. 86-87.

62 Vgl. Reinhard Bauer/Ernst Piper: München, S. 137-138.

63 Vgl. Richard Bauer: Geschichte Münchens, S. 86.

64 Heinrich Braun: Akademische Rede von der Wichtigkeit einer guten Einrichtung im deutschen Schulwesen: Welche an dem höchsterfreulichen Geburtsfeste Sr. Churfürstl. Durchleucht in Baiern etc. Etc. Auf dem akademischen Saale abgelesen worden, München 1768.

65 Lorenz Westenrieder: Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt München (im gegenwärtigen Zustande).Faksimile-Nachdruck des 1782 bei Johann Baptist Strobl, München, erschienenen Originals, München 1984.

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Details

Titel
„Dieses Gebäude hält man für das prächtigste Jesuitenkollegium in der Welt…“. Beschreibungen der Stadt München in der deutschsprachigen Reiseliteratur um 1800
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
42
Katalognummer
V307707
ISBN (eBook)
9783668061644
ISBN (Buch)
9783668061651
Dateigröße
830 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
München, Reisebericht, Aufklärung, Westenrieder, Nicolai, Pezzl, 1800, Katholizismus, Jesuiten, Bayern
Arbeit zitieren
Christina Gierschick (Autor:in), 2013, „Dieses Gebäude hält man für das prächtigste Jesuitenkollegium in der Welt…“. Beschreibungen der Stadt München in der deutschsprachigen Reiseliteratur um 1800, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/307707

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