Das Phänomen des problematischen Bewusstseins in den Rönne-Novellen von Gottfried Benn


Magisterarbeit, 2004

88 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Das Bewusstsein als Qual
1.1. Bewusstsein und Entfremdung
1.1.1. Strukturverlust
1.1.2. Abkehr von gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit
1.1.3. Übersteigertes Bewusstsein
1.2. Parallelen zwischen Rönne und Benn
1.3. Das Leiden an der Moderne
1.3.1. Zivilisatorische Moderne und literarischer Expressionismus
1.3.2. Urbanisierung
1.3.3. Erkenntnistheoretische Verunsicherung

2. Versuche der Kompensation
2.1. Adaption bürgerlicher Verhaltensweisen
2.2. Wissen und logisches Denken
2.3. Kritik am positivistischen Weltbild

3. Erlösung im Rausch
3.1. Entgrenzung
3.2. Konkurrenz zweier Weltbilder
3.3. Die Rönne-Novellen im Kontext des Dionysischen und Apollinischen
3.3.1. Die Prinzipien des Dionysischen und Apollinischen bei Nietzsche
3.3.2. Dionysische und Apollinische Elemente in den Rönne-Novellen
3.4. Rausch und Kunst
3.4.1. Rönne als Erschaffender
3.4.2. Zu Benns Kunsttheorie
3.4.3. Frühe und späte Prosa
3.4.4. Ästhetik und Macht

Verzeichnis der verwendeten Siglen

Literaturverzeichnis

Einleitung

In den Jahren 1914 - 1916 schrieb Gottfried Benn fünf kurze Prosatexte, die gemeinhin als ‘Rönne-Novellen‘ bezeichnet werden. Diese Bezeichnung ist insofern irreführend, als sich Benns Prosa einer Zuordnung zu einer bestimmten literarischen Gattung entzieht, ist sie doch Ausdruck einer Ästhetik, die sich von konventionellen Erzählformen weitestgehend verabschiedet hat. „Warum Gedanken in jemand hineinkneten, in eine Figur, in Gestalten, wenn es Gestalten nicht mehr gibt? Personen, Namen, Beziehungen erfinden, wenn sie gerade unerheblich werden?“[1] So heißt es im Roman des Phänotyp von 1944, und es scheint, dass diese Überlegungen schon die Produktion der Rönne-Novellen maßgeblich mitbestimmt haben. Obwohl Rönne noch als Figur gelten kann, wurde hier inhaltlich und formal eine Problematik entfaltet, die mit dem obigen Zitat korrespondiert und Benns Werk geprägt hat: der subjektiv wahrgenommene Zerfall einst verbindlicher Bezugspunkte, der daraus hervorgeht, dass man sich bestimmter erkenntnistheoretischer Implikationen zu sehr bewusst ist.

„Erkenntnis ist ein schönes Mittel zum Untergang“[2] schreibt Benn in Lebensweg eines Intellektualisten - und es ist kein Zufall, dass er dies im Rahmen eines Kommentars zu seiner Figur Rönne tut. Anhand ihr veranschaulicht er geradezu demonstrativ, dass bewusste Verarbeitung, Erkenntnis und Reflexion für den Einzelnen nicht zwangsläufig mit Sicherheit und Macht verbunden sind, sondern, im Gegenteil, auch zu einer tiefen Entfremdung von Ich und Welt bzw. zu einer Auflösung gewohnter, das Leben vereinfachender Strukturen führen können. Diese Thematik, die eine entscheidende in den Rönne-Novellen ist, bildet den Hintergrund dieser Arbeit.

Die Untersuchung der Aufbereitung der Bewusstseinskrise in den Rönne-Novellen gliedert sich in drei Hauptteile. Zunächst wird es darum gehen, Rönnes Wirklichkeits- und Identitätsverlust, der auf sein problematisches Bewusstsein zurückzuführen ist, zu erläutern. In diesem Zusammenhang soll sein Schicksal nicht nur wie ein extremer und interessanter Einzelfall oder gar im Sinne eines biographischen Bekenntnisses des Autors betrachtet werden, sondern auch im Kontext von modernen sozialen- und kulturellen Entwicklungen, die einen allgemeineren Kreis betreffen. Im zweiten Kapitel steht die Interpretation von Rönnes aussichtslosen Versuchen, verlorene Struktur durch die bewusste Aneignung etablierter Denk- und Handlungsmuster zurückzugewinnen, im Vordergrund. Dabei soll auch das kritische Potential der Rönne-Novellen berücksichtigt werden, denn besonders in diesem Zusammenhang hat Benn seiner tiefen Abneigung gegen bestimmte bürgerliche Denk- und Verhaltensweisen Ausdruck verliehen, die aus seiner Sicht die Bewusstseinsproblematik verschärfen. Im letzten Teil soll schließlich aufgezeigt werden, durch welche Mittel Rönne zumindest kurzfristig Erlösung von seinem problematischen Bewusstsein finden kann; dies führt in den Bereich des Rausches bzw. der rauschhaften künstlerischen Produktion. Da sich dies anbietet und zum Verständnis dieser Zusammenhänge beitragen kann, werden auch ästhetische Auffassungen von Benn und Nietzsche mit einbezogen. In allen drei Hauptteilen steht also zunächst die Interpretation der Textgrundlage im Vordergrund, wobei - darauf aufbauend - die Perspektive im Hinblick auf die hier relevante Thematik erweitert werden soll. Berücksichtigt werden alle fünf Rönne-Novellen, wobei der Struktur und Übersicht halber in den einzelnen Hauptteilen und Unterpunkten Schwerpunkte in Bezug auf die Textauswahl gesetzt werden.

1.Das Bewusstsein als Qual

1.1. Bewusstsein und Entfremdung

1.1.1. Strukturverlust

Das zuerst entstandene Prosastück der Rönne-Novellen, Gehirne, beginnt mit der Schilderung einer Zugfahrt des jungen Arztes Rönne in Richtung Norden, wo er den Chefarzt in einem Sanatorium vertreten soll. Trotz monatelanger Tatenlosigkeit fühlt Rönne sich kraftlos. Diese Müdigkeit steht in Zusammenhang mit einer zweijährigen Anstellung an einem pathologischen Institut. Dort „waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft“[3]. Diese Erschöpfung lässt sich kaum auf eine rein körperliche Anstrengung zurückführen, ist diese doch im Hinblick auf die Tätigkeit des Sezierens relativ begrenzt; zudem wäre der geschilderte Erschöpfungszustand dann nicht merkwürdig und ungeklärt. Da dieser jedoch ausdrücklich auf Rönnes Arbeit in der Pathologie bezogen wird, muss es sich vielmehr um eine seelische Erschöpfung zu handeln. Womöglich ist sie auf die permanente Konfrontation mit Tod und Verfall zurückzuführen. Die Tatsache aber, dass Rönne eine beträchtliche Anzahl von Leichen „ohne Besinnen“ untersucht hat, deutet auch auf eine gewisse Abstumpfung hin, die in Zusammenhang mit der hoch rationalen, streng wissenschaftlichen Tätigkeit des Sezierens zu stehen scheint. Die Wendung „ohne Besinnen“ verweist auf eine habitualisierte, maschinell ausgeführte Tätigkeit, deren Sinn nicht hinterfragt wird oder sich nicht erschlossen hat; Rönnes Erschöpfung könnte das Resultat einer zunehmend erfahrenen Sinnleere und einem daraus hervorgehenden Gefühl der Entfremdung sein. Im Übrigen deutet die monatelange Tatenlosigkeit vor seiner Reise auf eine gewisse Apathie hin, auf ein Leben ohne Halt und Ziel. Es scheint, darauf verweist schon die Eingangspassage, als ob ein umfassender Eindruck der Sinn- und Strukturlosigkeit Rönne sowohl von der Unmittelbarkeit der ihn umgebenden (gesellschaftlich vermittelten und strukturierten) Wirklichkeit als auch von sich selbst entfremdet hat. Diese Entwicklung wird sich im weiteren Verlauf des Textes kontinuierlich verstärken.

Eine Voraussetzung für eine gefestigte Identität ist Erinnerung bzw. die Fähigkeit, aktuelle Erlebnisse und Befindlichkeiten in Beziehung zu bestimmten, typisierten Erfahrungen zu setzen, so dass das gegenwärtige Bewusstsein als Ergebnis einer psychischen Entwicklung begriffen werden kann. Von ‘Identität‘ kann gesprochen werden, „wenn ein Mensch über verschiedene Entwicklungs- und Lebensphasen hinweg eine Kontinuität des Selbsterlebens [...] wahrt“.[4] So steht ein Mensch ein Leben lang vor der Aufgabe „sich selbst als Persönlichkeit, als ‘sich selbst gleich‘ wahrzunehmen“.[5] Rönne verfügt jedoch offensichtlich nicht mehr über ein reflektiertes Selbstbild und strukturierte Erfahrungen, die ihm als ein Bezugschema dienen und so den Eindruck von Kontinuität ermöglichen könnten. Während der Zugfahrt wird sich der nach zweijährigem Sezieren abgestumpfte Arzt seines Identitätsverlustes bewusst: „So viele Jahre lebte ich und alles ist versunken. Als ich anfing blieb es bei mir? Ich weiß es nicht mehr.“[6] Versunken ist offensichtlich die Vergangenheit und seine persönliche Lebensgeschichte - das Ich hat sich verflüchtigt. Gottfried Benn formuliert es so: „Wir erblicken also hier einen Mann, der eine kontinuierliche Psychologie nicht mehr in sich trägt.“[7] Der Eindruck einer verlorenen kontinuierlichen Psychologie wird im Übrigen für den Leser dadurch verstärkt, dass der Autor keine genaueren Angaben zu der Herkunft, dem Werdegang und den Absichten seiner Figur macht.

Rönne kann sich zunächst mit dem Verlust von allem Erlebten nicht abfinden und will den Mangel an psychischer Stabilität kompensieren. Sein verzweifeltes Bemühen um Struktur zeigt sich in dem Bedürfnis, die erlebten Dinge aufzuschreiben, „damit nicht alles so herunterfließt“.[8] Während der Zugfahrt beginnt Rönne mit der intendierten sprachlichen Fixierung, durch die das bloße Herunterfließen von Wahrgenommenem gestoppt werden soll:

Es geht also durch Weinland besprach er sich, ziemlich flaches, vorbei an Scharlachfeldern, die rauchen von Mohn. Es ist nicht allzu heiß; ein Blau flutet durch den Himmel, feucht und aufgeweht von Ufern; an Rosen ist jedes Haus gelehnt, und manches ganz versunken.[9]

Die Wendung „besprach er sich“ verweist auf die Intention, sich mit Hilfe von Sprache bewusst der Wirklichkeit zu versichern. Eindrücke werden gesammelt und geordnet - so folgt auf eine topographische Beschreibung die der Temperatur und Farbeindrücke des Himmels werden gesammelt. Das Bemühen um einen rationalen Ordnungsversuch wird jedoch durch Rönnes unkonventionelle Wahrnehmung relativiert. Auffällig ist die Umkehrung geläufiger Relationen („an Rosen ist jedes Haus gelehnt“). Nur bedingt wird eine klare Trennung zwischen einzelnen Objekten und Elementen vorgenommen; vielmehr überwiegt der Eindruck, dass sich Konturen auflösen, zerfließen und ineinander übergehen. Darüber hinaus stellt noch ein anderer Aspekt Rönnes Fähigkeit, das Wahrgenommene in konventionellem Sinne zu strukturieren in Frage: bestimmte Begriffe („Weinland“, „Mohn“) verweisen auf Rauschmittel. Auch der Rausch ist (wie später noch aufzuzeigen sein wird) verbunden mit Auflösung und Strukturverlust, weckt also Assoziationen, die einer rationalen Wahrnehmung im Prinzip entgegenstehen.

Wenn offenbar auch im weiteren Verlauf der Fahrt Rönnes subjektive Wahrnehmungen in Form sprachlicher Evozierung wiedergegeben werden, haben diese eine andere Qualität: „Brücken aus Holz, Brücken aus Stein; eine Stadt und ein Wagen über Berge vor ein Haus.“[10] Die Aneinanderreihung von Substantiven, die vage zeitliche Gliederung und die Aussparung von Details suggerieren, dass Rönne ein unmittelbarer Bezug zum Wahrgenommenen fehlt, das offenbar unzusammenhängend und fremd an ihm vorüberzieht. Für Benn ist Rönne demgemäß „der Flagellant der Einzeldinge, das nackte Vakuum der Sachverhalte, der keine Wirklichkeit mehr ertragen konnte, aber auch keine mehr erfassen“.[11] Rönne kann das Herunterfließen von Wahrgenommenem nicht aufhalten. Sein Versuch der Konstitution von Struktur und Ordnung (zugleich Voraussetzung für Identität) durch bewusste Wahrnehmung muss scheitern: entweder ist das Element der Auflösung schon mit inbegriffen oder Eindrücke werden verarbeitet, indem sie zusammenhanglos nebeneinander aufgereiht werden, so dass sie substanzlos und inhaltsleer erscheinen müssen.

Rönnes Entfremdung von der konventionellen Wahrnehmung und Strukturierung der Außenwelt und die damit einhergehende Auflösung eines einheitlichen Selbstbildes steht in Einklang mit einem extremen Rückzug in seine Innenwelt. Zunächst kann er seine Aufgaben offensichtlich noch bewältigen: „Umleuchtet von seiner Einsamkeit besprach er mit den Schwestern die dienstlichen Angelegenheiten fern und kühl.“[12] Im weiteren Verlauf von Gehirne aber vergrößert sich die Distanz zur Außenwelt - insbesondere zu seinen Mitmenschen und zum rational organisierten Klinikalltag – kontinuierlich, bis er seinen dienstlichen Pflichten nur noch sporadisch, später sogar überhaupt nicht mehr nachkommen kann. Rönne findet in der Innenwelt keinen Halt, der ihm ermöglichen könnte, sich erneut als Subjekt des Handelns zu konstituieren. Während ihm das Gefühl für Raum und Zeit abhanden kommt, droht er sich dort vielmehr zu verlieren:

Erschüttert saß er eines Morgens vor seinem Frühstückstisch; er fühlte so tief: der Chefarzt würde verreisen, ein Vertreter würde kommen, in dieser Stunde aus dem Bette steigen und das Brötchen nehmen: man denkt, man ißt, und das Frühstück arbeitet an einem herum.[13]

Diese Passage verdeutlicht, dass Rönne eine temporale Ordnung und die mit ihr verbundene Möglichkeit der Orientierung nahezu abhanden gekommen ist, werden ihm doch Dinge gegenwärtig, die längst eingetreten sind. Die Auflösung eines abgegrenzten Ich ist zudem so weit fortgeschritten, dass er sich selbst als abstrakter „Vertreter“ und somit als fremde Person gewahr wird. Rönne erfährt sich demgemäß nicht mehr als ein autonom handelnder Mensch, der gezielt eine Handlungslinie aufbauen, konventionell mit anderen Menschen interagieren und über Objekte (die für ihn ohnehin nicht mehr klar definiert sind) verfügen kann; die geläufige Relation zwischen Subjekt und Objekt ist unklar und scheint sich in seiner subjektiven Erfahrung geradezu umgekehrt zu haben.

Rönne weiß um diese Entwicklung, doch kann und will er sie offenbar nicht mehr aufhalten: „Er sei keinem Ding mehr gegenüber; er habe keine Macht mehr über den Raum, äußerte er einmal; lag fast ununterbrochen und rührte sich kaum.“[14] Je weniger Rönne in der Lage ist, kontrolliert und rational zu handeln, desto mehr zieht er sich aus dem alltäglichen Leben zurück, während seine Ziel- und Antriebslosigkeit schließlich ein Ausmaß erreicht, das selbst kleine Routinehandlungen unmöglich macht. Die subjektiv wahrgenommene Auflösung von Strukturen und der damit einhergehende Wirklichkeits- und Identitätsverlust hat neben apathischer Bewegungslosigkeit zur Folge, dass der Kontext des spezifisch Menschlichen offenbar zunehmend überschritten wird: „Außer ein paar Vögeln war er das höchste Tier. So trug ihn die Erde leise durch den Äther und ohne erschüttern an allen Sternen vorbei.“[15] In diesem Stadium gibt es für Rönne keine gesellschaftlich definierten Ziele mehr, die es gilt zu erreichen - sei es das Nachkommen seiner ärztlichen Pflichten oder die Erfüllung von Erwartungen in einer alltäglichen Gesprächssituation -, und folglich hat er kaum noch einen Antrieb zu handeln. Diese Entwicklung führt letztendlich dazu, dass gesellschaftliche Konventionen praktisch keinen bestimmenden Einfluss mehr auf sein Verhalten haben, bis sich am Ende mit dem Schlussmonolog, den er vor dem zurückgekehrten Chefarzt hält, offenbar die totale Abkehr von den Verhaltensmaßstäben seiner Umwelt manifestiert.

1.1.2. Abkehr von gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit

In Gehirne wird drastisch wie in keiner der anderen Rönne-Novellen beschrieben, wie die Hauptfigur förmlich aus der gesellschaftlichen Ordnung herausfällt und die etablierten Formen des sozialen Lebens mehr und mehr hinter sich lässt. Vor der Auseinandersetzung mit den Gründen dafür stellt sich die Frage, worauf diese Strukturen zurückzuführen sind. Sigmund Freud betont im Rahmen seiner kulturtheoretischen Schriften unter anderem die stabilisierende Funktion einer gemeinsamen Kultur für das menschliche Zusammenleben:

Als letzten, gewiss nicht unwichtigsten Charakterzug einer Kultur haben wir zu würdigen, in welcher Weise die Beziehungen der Menschen zueinander, die sozialen Beziehungen, geregelt sind, die dem Menschen als Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt eines anderen, als Mitglied einer Familie, eines Staates betreffen. [...] Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder einzelne und gegen diesen einzelnen zusammenhält.[16]

Demgemäß verhindern die gesellschaftlich geregelten Beziehungen, dass die Menschheit in Anarchie und Chaos versinkt. Die Soziologen Thomas Berger und Peter Luckmann gehen noch weiter, wenn sie die These vertreten, dass die allgemein als selbstverständlich und schlicht gegeben hingenommene Wirklichkeit des wachen, sozialisierten Menschen gesellschaftlich konstruiert sei. In Anlehnung an Arnold Gehlen und Helmuth Plessner führen sie anthropologische Gründe für dieses Phänomen an. Nicht nur sei der Instinktapparat des Menschen im Vergleich zu den höheren Säugetieren unterentwickelt, seine Triebe seien zudem in hohem Maße unspezialisiert und ungerichtet.[17] Berger und Luckman folgern, dass die Beziehung des Menschen zu seiner jeweiligen Umgebung weniger durch seine biologische Konstitution reguliert und stabilisiert werde, sondern vor allem durch eine (maßgeblich im Prozess der Sozialisation vermittelte) besondere kulturelle und gesellschaftliche Ordnung, so dass seine biologischen Grundlagen permanent gesellschaftlichen Eingriffen ausgesetzt seien:

Man kann geradezu sagen, daß die ursprüngliche biologische Weltoffenheit der menschlichen Existenz durch die Gesellschaftsordnung immer in eine relative Weltgeschlossenheit umtransponiert wird, ja, werden muß. Diese nachträgliche Geschlossenheit erreicht zwar niemals die animalischer Existenz - und sei es nur, weil sie vom Menschen hervorgebracht und daher künstlicher Natur ist. Aber sie ist doch fähig, der menschlichen Lebensführung - im wesentlichen jedenfalls und meistens - Richtung und Bestand zu sichern.[18]

Die Gesellschaftsordnung, ein Produkt menschlichen Handelns, hat nach Berger und Luckmann ihren Ursprung in der Typisierung häufig wiederholter Handlungen und der wechselseitigen Typisierung der Handelnden; diesen Vorgang nennen sie „Institution“. In einer Gesellschaft kann sich gemäß Berger und Luckmann so ein gemeinsamer Wissensbestand in bezug auf Institutionen bilden, die, über Rollenhandeln zum Leben erweckt, menschliches Verhalten kontrollieren, indem sie es in eine bestimmte Richtung lenken und wechselseitig antizipierbar machen.[19] Wenn ein Teil der institutionalen Welt über ein gemeinsames Zeichensystem - vor allem über eine gemeinsame Sprache - zu gesellschaftlichem Allgemeingut werde, eine Geschichte bekomme und an nachfolgende Generationen weitergegeben werde, erlebe der Mensch sie als eine geradezu gegenständliche Wirklichkeit, da er nicht Anteil an ihrer Entstehung gehabt habe. Sie stehe dem Menschen dann - ähnlich wie die natürliche Welt - als etwas schlicht Gegebenes gegenüber, da sie vom einzelnen nicht mehr ohne weiteres verändert werden könne, egal ob ihr Sinn sich ihm erschließe oder nicht.[20] Deshalb sprechen Berger und Luckmann von der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, die, im Prozess der Sozialisation einverleibt, auf den Menschen zurückwirke und deren menschliche Urheberschaft allzu oft vergessen werde. Auch der Prozess der Identitätsbildung könne sich dementsprechend nur innerhalb der Dialektik von Individuum und Gesellschaft vollziehen.[21]

Ausgehend von diesem Ansatz liegt der Schluss nahe, dass Rönne nicht den Bezug zur Wirklichkeit schlechthin, sondern zu einer Form von gesellschaftlich konstruierter Wirklichkeit verloren hat. Damit geht einher - die biologisch bedingte ‘Weltoffenheit‘ des Menschen vorausgesetzt -, dass er kaum mehr eine Orientierungsmöglichkeit hat, und die Welt muss ihm nunmehr ungeordnet und sinnlos erscheinen. Die anerzogenen Bedeutungen, Normen und Verhaltensweisen, die das menschliche Leben regeln und ihm Struktur geben, haben für Rönne ihre Verbindlichkeit verloren und an ihre Stelle tritt seine fundamentale Erfahrung von Auflösung und Strukturverlust. Damit geht auch der Verlust einer kontinuierlichen Psychologie einher, da erst die jeweiligen kulturellen Muster seiner Zeit dem einzelnen die Konstitution eines gesellschaftlich handlungsfähigen Ich ermöglichen.

1.1.3. Übersteigertes Bewusstsein

Diese Entwicklung ist nicht darauf zurückzuführen, dass Rönne nur primitiv und einfältig denken oder bedingt sinnliche Eindrücke empfangen könnte. Im Gegenteil, gerade ein außerordentlich sensibles Bewusstsein und ständige Reflexion sind für ihn charakteristisch. Penible Selbstbeobachtung ist die Folge, muss er doch „immer darnach forschen was mit mir möglich sei“.[22] Ebenso besitzt er eine extreme Wahrnehmungsfähigkeit für jede Art äußerer Sinneseindrücke. Rönnes Zugang zur Wirklichkeit, genauer, zu seiner Wirklichkeit, seine Form der Wahrnehmung und ihre Verarbeitung entsprechen dennoch nicht den Anforderungen seiner menschlichen Umgebung. Der Schluss liegt nahe, dass seine Entfremdung von der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit gerade auf seine überaus empfindsame und differenzierte Wahrnehmungsweise bzw. sein überaus stark ausgeprägtes Bewusstsein zurückzuführen ist.

Rönne hinterfragt permanent Sachverhalte in einer Weise, die schließlich die Grenzen des gesellschaftlich Vorgegebenen überschreiten. Dies erfolgt auch im Rahmen seiner ärztlichen Tätigkeit:

Dann nahm er selber seine Hände, führte sie über die Röntgenröhre, verschob das Quecksilber der Quarzlampe, erweiterte oder verengte einen Spalt, durch den Licht auf einen Rücken fiel, schob einen Trichter in ein Ohr, nahm Watte und ließ sie im Gehörgang liegen und vertiefte sich in die Folgen dieser Verrichtung bei dem Inhaber des Ohrs: wie sich Vorstellungen bildeten von Helfer, Heilung, guter Arzt von allgemeinem Zutrauen und Weltfreude, und wie sich die Entfernung von Flüssigkeiten in das Seelische verwob.[23]

Rönnes Perspektive geht hier über die fest umrissene Aufgabe der ärztlichen Untersuchung und Behandlung hinaus. Er hat den Drang, sich in seinen Patienten hineinzuversetzen - nicht zum Zwecke einer Diagnose, sondern offenbar allein, um das subjektive Erleben und die Gedanken des Betreffenden zu erfassen. Er führt nicht nur einen schematisierten ärztlichen Handgriff aus, sondern ist sich in hohem Maße bewusst darüber, dass er damit unmittelbar Gefühle und sinnliche Impulse auslöst und versucht, diese nachzuvollziehen. Auch wie er selbst als Person von dem zu Behandelnden wahrgenommen wird beschäftigt ihn tief; er vermutet, dass er mit den klischeehaften Attributen der Rolle des Arztes (im Sinne des gutmütigen Helfers) versehen wird. Rönnes Perspektive impliziert hingegen, dass er sein Gegenüber nicht ausschließlich mit der Rolle des Patienten gleichsetzt, was in gewisser Weise einer Reduzierung auf ein Objekt gleichkäme; für Rönne ist vielmehr von großer Bedeutung, dass jener wie er mit einem Bewusstsein begabt ist und dass seine eigene Erscheinung (die des Arztes) Assoziationen auslöst und reflektiert wird.

Auch bei einer weiteren Behandlung wird Rönnes unkonventionelle Perspektive deutlich:

Dann kam ein Unfall und er nahm ein Holzbrettchen mit Watte gepolstert, schob es unter den verletzten Finger, wickelte eine Stärkebinde herum und überdachte, wie dieser Finger durch den Sprung über einen Graben oder über eine übersehene Wurzel, durch einen Übermut oder einen Leichtsinn, kurz, in wie tiefem Zusammenhange mit dem Lauf und diesem Schicksal des Lebens er gebrochen schien [...].[24]

Zwar befasst sich Rönne hier mit dem Ausschnitt des menschlichen Körpers, den es zu versorgen gilt, doch betrachtet er den gebrochenen Finger scheinbar nicht isoliert, um sich - im Sinne einer ‘regulären‘ ärztlichen Behandlung - umso sachlicher mit der Verletzung auseinandersetzen zu können. Er ist sich nicht nur bewusst darüber, dass der Bruch des Fingers eine Vorgeschichte hat, sondern hat darüber hinaus den Drang diese zu erhellen und er lässt seinen Assoziationen in bezug auf die Ursache freien Lauf. Die Einbeziehung von Vergangenem (von möglicher Ursache und Wirkung) verhindert so, dass das Wahrgenommene als etwas schlicht Gegebenes erscheint.

Rönnes differenzierte Sichtweise erstreckt sich auch auf die zynischen Elemente im Alltag des Sanatoriums. So ist es dort üblich, todgeweihte Patienten als vermeintlich genesen zu entlassen, um sich lästige Verwaltungsarbeit zu ersparen. Nachdem Rönne einen solch unheilbar Erkrankten verabschiedet hat, ist ihm diese Heuchelei nur allzu bewusst:

Er wird nun nach Hause gehen, dachte Rönne, die Schmerzen als eine lästige Begleiterscheinung der Genesung empfinden, unter den Begriff der Erneuerung treten, den Sohn anweisen, die Tochter heranbilden, den Bürger hochhalten, die Allgemeinvorstellung des Nachbars auf sich nehmen, bis die Nacht kommt mit dem Blut im Hals.[25]

Mit der üblichen Verabschiedung des todkranken Patienten ist für Rönne noch kein Schlußstrich gezogen, wenn er sich gedanklich dessen Leben in bürgerlicher Idylle und trügerischer Sicherheit bis zum sich abzeichnenden Ende ausmalt. Wieder geht seine Perspektive über das vermeintlich funktional notwendige hinaus. Dies tut sie auch insofern, als festliegende Begriffe und Anschauungen (wie der „Begriff der Erneuerung“ und die „Allgemeinvorstellung des Nachbarn“) als Konstrukte entlarvt werden, die nur scheinbar Wirklichkeitscharakter besitzen. Zugleich vergegenwärtigt er sich: „Überall, wohin ich sehe, bedarf es eines Wortes, um zu leben. Hätte ich doch gelogen, als ich zu diesem sagte: Glück auf!“[26] Rönne ist bewusst, dass die Bedeutungen und Typisierungen, welche durch ein arbiträres Sprachsystem repräsentiert werden und das alltägliche Leben durchdringen, eine normative Gewalt besitzen, die ihnen aus der Sicht der meisten Menschen einen geradezu realen Charakter verleiht.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass Rönne über ein ausgeprägtes und hochgradig sensibles Bewusstsein verfügt, das dem Leser eingehend über die Textebene der erlebten und indirekten Rede vermittelt wird. Es ist nicht außergewöhnlich, dass Menschen im Rahmen von Interaktionsprozessen versuchen, die Perspektive ihres Gegenübers einzunehmen, um sein Verhalten zu interpretieren; dies ist ein geradezu notwendiger Bestandteil menschlicher Kommunikation, die nicht bloß über ein instinktives Reaktionsschema erfolgt. Ebenso normal ist das Hinterfragen gewisser Phänomene im Prozess der Reflexion, sei es, um zu versuchen, die Gründe für bestimmte Entwicklungen nachzuvollziehen, sei es, um zukünftige Geschehnisse zu antizipieren oder aufgrund anderer Intentionen. Bei Rönne aber scheinen diese Funktionen ein extremes Ausmaß angenommen zu haben, da sie offenbar permanent eingesetzt werden, sich geradezu verselbstständigt haben und selbst vermeintliche Belanglosigkeiten als problematisch erscheinen lassen. Somit müssen sie seiner gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit abträglich sein: da sich Rönne unentwegt mit diversen Perspektiven, einem Strom von Assoziationen und Gedankenspielen auseinandersetzt, bleibt er in sehr hohem Maße seinem Innenleben verhaftet. Ebenso trägt die Tatsache, dass seine Reflexionen nicht konkreten Problemlösungen dienen, sie vielmehr über gesellschaftliche Welterklärungsmodelle hinaus gehen bzw. sie hinfällig werden lassen, dazu bei, dass die Kluft zwischen seinem bewussten Innenleben und den Erwartungen seiner Umwelt schier unüberbrückbar wird:

[...] namentlich aber, wenn er sich gesprächsweise zu dem Verwalter oder der Oberin über irgendeinen Gegenstand äußern sollte, wenn er fühlte, jetzt sei es daran, eine Äußerung seinerseits dem in Frage kommenden Gegen-stand zukommen zu lassen, brach er förmlich zusammen. Was solle man denn zu einem Geschehenen sagen? Geschähe es nicht so, geschähe es ein wenig anders. Leer würde die Stelle nicht bleiben. Er aber möchte nur leise vor sich hinsehen und in seinem Zimmer ruhen.[27]

Die konventionellen Denk- und Handlungsmuster, die durch Nachahmung verinnerlicht werden und unter Einsparung von Kraft reproduziert werden können, sind in Rönnes subjektivem Empfinden in so hohem Maße fragwürdig und fremd geworden, dass sie ihn nicht mehr entlasten können, indem sie sein Verhalten und seine Perspektive in eine bestimmte Richtung lenken. Routinen und Gewohnheiten, die Halt geben könnten, müssen ihm so als irrelevante Hilfskonstruktionen erscheinen. Da die Dinge für Rönne grundsätzlich auch ganz anders sein könnten, werden sie aus seiner Sicht in hohem Maße relativ. Angesichts der Fülle der potentiellen Sichtweisen und Entscheidungen macht konformes Verhalten für ihn einen hoch bewussten, kraftraubenden Akt erforderlich und selbst alltägliche Situationen (wie ein dienstliches Gespräch) bekommen für ihn den Charakter von anstrengenden Herausforderungen, die er schließlich nicht mehr bewältigen kann. Rönnes Erschöpfung ist die Konsequenz seines stark empfänglichen Bewusstseins, welches ihm Widersprüchlichkeiten in der gesellschaftlichen Realität sofort aufzeigt, so dass er deren vermeintliche Geschlossenheit als offene Weite erlebt, in der er sich nur wie ein hilfloser Fremdkörper bewegen kann.

Bewusste Verarbeitung entfremdet Rönne jedoch nicht nur von der sozialen Wirklichkeit. Auch die naive Vitalität der Natur erreicht ihn nicht mehr:

Es war Sommer; Otternzungen schaukelten das Himmelsblau, die Rosen blühten, süß geköpft. Er spürte den Drang der Erde: bis vor seine Sohlen, und das Schwellen der Gewalten: nicht mehr durch sein Blut.[28]

Rönne ist wie isoliert von der ursprünglichen Kraft des Natürlichen (dem „Schwellen der Gewalten“). Die im biologischen System des Menschen verankerten unbewussten, triebhaften Handlungsimpulse, die ohnehin weniger ausgeprägt sind als beim Tier, erreichen ihn nicht mehr und dementsprechend begrenzt ist sein Antrieb zu agieren. Umso fremder erfährt Rönne die Lebendigkeit und Getriebenheit der Natur, die seiner vergeistigten Existenz geradezu komplementär entgegengesetzt zu sein scheint. Er fühlt sich ihr förmlich ausgeliefert und erlebt sie als etwas, vor dem es sich zu schützen gilt („preisgegeben fühlte er sich einem atemlosen Himmel“[29]). Die Isolation, die Rönne in bewusstem Zustand erfährt, ist somit umfassend: Die Einsicht in die Fremdheit und Unveränderbarkeit der sozialen Wirklichkeit geht einher mit einer schmerzlich empfundenen Distanz zu seinen natürlichen Ursprüngen. Was sich Rönne durch sein Bewusstsein enthüllt, ist nicht die Freude an der eigenen Existenz, sondern die schier unerträgliche Zurückgeworfenheit auf ein unbestimmtes, geistiges Dasein.

In diesem Zusammenhang ist das Gehirn für Rönne die Chiffre für jene Mechanismen, die letztlich die fundamentale Trennung von Innen- und Außenwelt sowie Identitätsverlust und Wirklichkeitszerfall verursachen. Rönne steht geradezu im Bann der Gehirne: seine Handbewegungen, die suggerieren, dass er etwas Weiches aufbricht, simulieren, wie sich herausstellt, das Auseinanderbiegen von zwei Gehirnhälften. Auch die Art und Weise, wie er von ihnen spricht, zeugt von Faszination und Ehrfurcht:

Oft fing er etwas höhnisch an: er kenne diese fremden Gebilde, seine Hände hätten sie gehalten. Aber gleich verfiel er wieder: sie lebten in Gesetzen, die nicht von uns seien und ihr Schicksal sei uns so fremd wie das eines Flusses, auf dem wir fahren.[30]

Trotz pathologischer Untersuchung bleibt für Rönne die ernüchternde Einsicht bestehen, dass die Funktionen des Gehirns letztlich unergründlich und unbeherrschbar sind. Diese Erkenntnis ist mit einem Gefühl der Ohnmacht verbunden, denn sie steht der Vorstellung von einem autonomen, abgegrenzten Ich und einem rationalen Weltbild im Prinzip entgegen. Auch deshalb erfolgt die Abkehr von der gesellschaftlich organisierten Wirklichkeit und der nahezu vollständige Verlust der Motivation in ihr zu handeln. Was bleibt, ist eine umso stärkere Fokussierung auf die innere Erfahrungswelt bzw. Erkundung der Potentiale des eigenen Gehirns: „Nun halte ich immer mein eigenes [Gehirn] in meinen Händen und muß immer darnach forschen, was mit mir möglich sei.“[31] Jenseits dieser zwanghaft anmutenden Reflexionen, die für Rönne etwas durchaus quälendes haben, ermöglicht die extrem nach Innen zentrierte Perspektive, dass die Kategorien und Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung, mit denen er sich nicht identifizieren kann, aufgebrochen werden können; dass das, was allgemein mit Wirklichkeit und Normalität in Verbindung gebracht wird, zurückgelassen werden kann. Im Schlussabschnitt von Gehirne kämpft sich Rönne in einer Kette loser Assoziationen den Weg aus feststehenden, gesellschaftlich etablierten Kategorien mit einem „blauen Anemonenschwert“[32] förmlich frei, bis er „auf Flügeln“[33] in „Entschweifungen der Schläfe“[34] entschwindet, die den Kräften des Verstandes nicht mehr zugänglich sind. Auf wesentliche Aspekte einer solch rauschhaften Erlösung soll später noch eingegangen werden.

1.2. Parallelen zwischen Rönne und Benn

In der Sekundärliteratur zur Rönne-Prosa wird immer wieder auf gewisse biographische Überschneidungen zwischen Benn und seiner Figur Rönne hingewiesen. So entstand z.B. Gehirne vermutlich im Juli 1914; im Sommer desselben Jahres vertrat Benn den Chefarzt eines Sanatoriums in der Nähe von Bayreuth.[35] Für Dieter Wellershoff entspricht Rönne bis auf biographische Einzelheiten genau dem jungen Arzt Benn; zugleich betont er jedoch:

Rönne steht verbindlich für Benn, ist aber nicht Benn, sondern eine vereinfachte, ins Exemplarische gesteigerte Figur zur Steigerung von Erfahrungen, die schon durch den Filter der Reflexion hindurch gegangen sind.[36]

Wellershoff macht zurecht deutlich, dass die überzeichnete Art und Weise, mit der Benn seine Figur diverse Situationen durchleben lässt, auf eine im Prozess der Reflexion entstandene Distanz zwischen Autor und Kunstfigur verweist, die eine undifferenzierte Gleichsetzung mit dem Autor unmöglich macht. In der Tat können anhand des präzise dargestellten Erlebens von Rönne Rückschlüsse auf Benns eigene Erfahrungen gezogen werden, zum anderen aber zeugt eine ästhetische Umsetzung von Erfahrungen davon, dass sie zumindest bis zu einem gewissen Grad verarbeitet und überwunden worden sind, was einer vorschnellen Identifizierung von Rönne mit Benn im Wege steht. Martin Preiß verweist zudem darauf, dass die Novellen nicht reale Ereignisse aus der Vergangenheit des Autors, sondern höchstens entsprechende Versatzstücke beinhalten. Benns Abreise aus dem Sanatorium fiel dementsprechend mit seiner Einberufung zur Wehrmacht zusammen und nicht mit einem psychischen Zusammenbruch.[37] Die Möglichkeit, die Rönne-Novellen als autobiographische Schriften zu verstehen, erscheint somit hinfällig.

Ebenso fragwürdig sind Ansätze von Interpreten, die meinen veranschaulichen zu können, dass die Rönne-Novellen Ausdruck einer Verarbeitung problematischer Kindheitserlebnisse durch den Autor seien. So schreibt Oskar Sahlberg in seiner psychoanalytischen Deutung in Bezug auf Gehirne:

Rönne ist erschöpft vom Sezieren. Auch hier ist wieder die Aggression stec-

kengeblieben: sie richtete sich nur auf Ersatzobjekte, auf die Leichen und ihre Hirne [...]. Ein Chefarzt erscheint, eine mächtige Vaterfigur, die en passant lächerlich gemacht wird. Das Ende ist wie in Ithaka: Er „rührte sich kaum.“ „Er lag immer in einer Stellung auf dem Rücken.“ Rönne gibt seinen Beruf auf und träumt vom Süden. So ist der Inhalt der Erzählung der Wunsch nach Heimkehr zur Mutter und ein bißchen Zank mit dem Vater (und dahinter steht der Wunsch, vom Vater geliebt zu werden).[38]

Abgesehen davon, dass solche Thesen extrem spekulativ sind, ist der Ansatz, die Rönne-Novellen nahezu ausschließlich als Produkt einer strengen preußischen Erziehung bzw. als Protest dagegen zu werten[39] geradezu abwegig. Bei Sahlberg wird der Autor offenbar nicht nur unreflektiert mit seiner Figur gleichgesetzt, sondern noch dazu unter der Voraussetzung, dass Benn dies selber nicht gemerkt habe: „Merkwürdig an den Rönnegeschichten ist die Tatsache, daß Benn nicht merkte, was er da halluzinierte. Er war nämlich ursprünglich Psychiater gewesen [...].“[40] Merkwürdig ist wohl eher die Annahme, dass ein kompromissloser Denker wie Benn sich nicht ansatzweise darüber im Klaren wäre, was und warum er etwas geschrieben hat. Zudem geraten andere Thematiken und Konflikte, die in den Rönne-Novellen teilweise explizit zum Ausdruck gebracht werden und über ein individuelles Schicksal hinausweisen, durch eine solche Sichtweise fast völlig in den Hintergrund.

Dennoch stellt sich die Frage, ob und inwiefern die in den Rönne-Novellen zu Ausdruck kommende Problematik zumindest generell auch die des Autors selbst war. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang Benns Rückblick in Lebensweg eines Intellektualisten (1934) auf die Jahre 1915/1916, in denen er als Militärarzt in Brüssel stationiert war und in denen ein Großteil der Rönne-Novellen entstand. Dort heißt es:

In Krieg und Frieden, in der Front und der Etappe, als Offizier wie als Arzt, zwischen Schiebern und Exzellenzen, vor Gummi- und Gefängniszellen, an Betten und an Särgen, im Triumph und im Verfall verließ mich die Trance nie, daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe. Eine Art innerer Konzentration setzte ich in Gang, ein Anregen geheimer Sphären, und das Individuelle versank, und eine Urschicht stieg herauf, berauscht, an Bilder reich und panisch.[41]

Bestärkt durch solche Selbstzeugnisse und wiederkehrende Motive im Werk von Gottfried Benn kommt Dieter Wellershoff zu dem Schluss, dass eine wesentliche Problematik von Rönne zumindest in ihren Grundstrukturen auch die von Benn gewesen sein muss. Wellershoff, der vor einer unreflektierten Gleichsetzung von Autor und Kunstfigur warnt, erkennt sowohl an Benn als auch an seiner Kunstfigur den Verlauf extremer Introversion, der zufolge sich Außen- und Innenwelt unvermittelt gegensätzlich gegenüberstehen und die mangelnde Beziehung zur Außenwelt durch innerliche Phantasiewelten kompensiert wird.[42] Die Rönne-Novellen bzw. die in ihnen geschilderten Entfremdung des Protagonisten von seiner sozialen Umwelt und ihren Strukturen kann man nach Wellershoff, der die Rönne-Novellen vor allem im Rahmen eines sozialpsychologischen Kontextes interpretiert, deshalb sogar „als instruktive Studien über einen abnormen Fall von Kontaktschwäche lesen“.[43]

[...]


[1] Roman des Phänotyp: GWE II, S. 150.

[2] Lebensweg eines Intellektualisten: GWE II, S. 319.

[3] Gehirne: GWE II, S. 19.

[4] Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie, S. 38f.

[5] Ebd., S. 39.

[6] Gehirne: GWE II, S. 19.

[7] Lebensweg eines Intellektualisten: GWE II, S. 318.

[8] Gehirne: GWE II, S. 19.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Lebensweg eines Intellektualisten: GWE II, S. 314.

[12] Gehirne: GWE II, S. 19.

[13] Ebd., S. 20f.

[14] Ebd., S.23.

[15] Ebd.

[16] Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 60f.

[17] Vgl. Berger/ Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 50.

[18] Ebd., S. 55.

[19] Vgl. ebd., S. 58.

[20] Vgl. ebd., S. 59.

[21] Vgl. ebd., S. 65.

[22] Gehirne: GWE II, S. 23.

[23] Ebd., S. 20.

[24] Ebd.

[25] Ebd.

[26] Ebd.

[27] Ebd., S. 22.

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] Ebd., S. 23.

[32] Ebd.

[33] Ebd.

[34] Ebd.

[35] Vgl. Preiß: „...daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe...“: Gottfried Benns Rönne-Novellen als Autonomieprogramm, S. 79.

[36] Wellershoff: Gottfried Benn: Phänotyp dieser Stunde, S. 15.

[37] Vgl. Preiß: „...daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe“: Gottfried Benns Rönne-Novellen als Autonomieprogramm, S. 80.

[38] Sahlberg: Gottfried Benns Phantasiewelt, S. 59.

[39] Vgl. ebd., S. 63.

[40] Ebd., S. 67.

[41] Lebensweg eines Intellektualisten: GWE II, S. 314.

[42] Vgl. Wellershoff: Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde, S. 16.

[43] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen des problematischen Bewusstseins in den Rönne-Novellen von Gottfried Benn
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
88
Katalognummer
V30751
ISBN (eBook)
9783638319454
Dateigröße
699 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese mit 'sehr gut' bewertete Arbeit beinhaltet eine klar gegliederte, komplexe und detaillierte Interpretation der womöglich aufschlussreichsten und wichtigsten literarischen Texte in Gottfried Benns Frühwerk. Im Mittelpunkt steht dabei der Aspekt der Entfremdung des Individuums in der Moderne sowie deren Überwindung in Rauschzuständen. Berücksichtigt wird u.a. der Kontext des Expressionismus, Benns Nietzsche-Rezeption und seine ästhetischen Prämissen.
Schlagworte
Phänomen, Bewusstseins, Rönne-Novellen, Gottfried, Benn
Arbeit zitieren
Martin Abrahams (Autor:in), 2004, Das Phänomen des problematischen Bewusstseins in den Rönne-Novellen von Gottfried Benn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30751

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