Der Übergang vom Man zum Selbst in Martin Heideggers „Sein und Zeit“


Seminararbeit, 2009

16 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Seminararbeit zur LV Heidegger, Sein und Zeit

Prof. Weiß

„Philosophie darf nicht schwer sein,

sonst ist etwas faul bei dem, der sie

vertritt – und natürlich ist bei jedem,

der etwas vertritt, etwas faul.

So werden die Sachen „schwer“.

Hans Blumenberg

„Sein und Zeit“ – ein großer Titel, der suggeriert, dass es ums Ganze geht. Nicht umsonst wird „Sein und Zeit“ als Martin Heideggers Hauptwerk betrachtet. Heidegger selbst bezeichnete sein Werk einmal als „Verunglückung“,[1] denn trotz seines beträchtlichen Umfangs und seiner Komplexität ist es Fragment geblieben. Nichtsdestotrotz traf dieses Buch bei seinem Erscheinen den Nerv der Zeit und wurde zu einem der bedeutendsten philosophischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts. Heidegger geht es darum, mit der traditionellen Metaphysik abzurechnen, die das Sein nur als stete Anwesenheit denkt und dabei das faktische, historische Werden außer Acht lässt. Für Heidegger gehört die Zeitlichkeit zum Sein – dies ist das Vergessene und Ungedachte der Metaphysik.[2] Was bedeutet Sein, fragt Heidegger und zitiert Plato: „Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck „seiend“ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen.“[3] Diese Verlegenheit gilt heute mehr denn je, so, Heidegger, denn nicht nur haben wir vergessen, was das Sein ist, wir haben auch dieses Vergessen vergessen. So muss die Frage nach dem Sinn von Sein erneut gestellt werden, bzw. muss zuallererst das Verständnis für den Sinn dieser Frage wieder geweckt werden. Schon im Prolog von „Sein und Zeit“ macht Heidegger klar, worauf die Untersuchung abzielt: die Zeit soll den Horizont eines Seinsverständnisses bilden, der Sinn von Sein ist die Zeit. Dies klarzumachen benötigt Heidegger nicht nur vierhundert Seiten kompliziertesten Textes, sondern auch den Rest seines Lebens.[4]

Im Folgenden soll versucht werden, verkürzt und auf die wesentlichsten Punkte beschränkt, eines der zentralen Themen in „Sein und Zeit“ darzustellen: der Übergang von der „uneigentlichen“ Seinsweise des menschlichen Daseins in seine „eigentliche“; vom „Man“ zum „Selbst“.

Vom Man zum Selbst – Das Uneigentliche wird Eigentlich

Das alltägliche Dasein, sagt Heidegger, verhält sich in einer vorherrschenden Seinsart zur Welt, nämlich des Aufgehens in der Welt. Es soll nun die Frage gestellt werden, wer in der Alltäglichkeit des Daseins aufgeht. Die Frage führt zu Strukturen des Daseins genannt Mitsein und Mitdasein als alltägliches Selbstsein. Das Subjekt dieser Alltäglichkeit nennt Heidegger das Man.

§ 25 Der Ansatz der existenzialen Frage nach dem Wer des Daseins

Die Antwort auf die Frage nach dem Wer des Daseins wurde, so Heidegger, im §9 als Hinweis auf eine ontologische Verfassung schon gegeben: „Dasein ist Seiendes, das je ich selbst bin, das Sein ist je meines.“[5] Das Wer entspricht dem ich selbst, dem Subjekt, dem Selbst, das in den Wechseln und Mannigfaltigkeiten des Erlebten als Identisches bestehen bleibt.

Die ontische Annahme eines Ich bedarf aber eines weiteren Hinterfragens, so Heidegger, denn das Ich darf nur als unverbindlich formaler Hinweis von etwas gesehen werden, das sich im Seinszusammenhang eventuell als sein Gegenteil, als Nicht-Ich herausstellen kann – und zwar in der Seinsart der Selbstverlorenheit.

Zur Beantwortung der Frage nach dem Wer darf aber keinesfalls von einem einzelnen Ich ausgegangen werden, denn die Untersuchung des In–der-Welt-seins zeigte: „Dass nicht zunächst „ist“ und auch nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende ebenso wenig zunächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen.“[6] Aber auch die Gegebenheit der Anderen bedarf einer Untersuchung, die Art des Mitseins bedarf einer ontologischen Interpretation.

Heideggers Leitfaden bezüglich der Wer-Frage ist sein Gedanke, dass nicht der Geist als Synthese von Leib und Seele die Substanz des Menschen darstellt, sondern die Existenz.

§ 26 Das Mitsein der Anderen und das alltägliche Mitsein.

Da jeder Seinsmodus des Daseins durch das In-der-Welt-sein bestimmt ist, muss auch die Beantwortung der Wer-Frage von dieser Seinsart ausgehen.

Heidegger gibt Beispiele an, dass bei allen Beschreibungen der Umwelt die Anderen immer mitbegegnen: das Werkstück für, das Feld von, das Buch gekauft bei: „Die Dinge begegnen aus einer Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind.“[7], die aber auch gleichzeitig die meine ist. Die Welt des Daseins der Anderen gibt ein Seiendes frei, das weder vorhanden noch zuhanden ist, sondern es ist wie das freigebende Dasein selbst auch und mit da.

Wer sind nun die Anderen, fragt Heidegger weiter, sie sind nicht alle übrigen außer mir, sondern diejenigen, von denen man sich selbst nicht unterscheidet. So wie das eigene Dasein sich zunächst nur findet in dem was es betreibt, braucht, erwartet; so begegnen die anderen nicht im Unterscheiden von Subjekten, sondern sie begegnen aus der Welt her, in der das besorgende Dasein sich wesenhaft aufhält. „Die Welt ist immer schon die, die ich mit Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt, das In-Sein ist Mitsein mit Anderen“[8], deren innerweltliches Ansichsein ist Mitdasein. Auch die Anderen treffen wir in ihrem In-der-Welt-sein.

Aber auch das Alleinsein des Daseins, so Heidegger, ist Mitsein in der Welt; denn „fehlen kann der Andere nur in einem und für ein Mitsein. Das Alleinsein ist ein defizienter Modus des Mitseins.“[9] Die Möglichkeit des Alleinseins ist nur der Beweis des Mitseins. Fehlen und Fremdheit sind verschiedene Modi des Mitdaseins.

Das Mitsein als existenzial konstitutiv für das In-der-Welt-sein muss so wie der Umgang mit dem Zuhandenen „besorgend“ bzw. als „Sorge“ begriffen werden.

Dasein ist wesentlich Fürsorge, könnte man verkürzt sagen – oder sollte es zumindest sein, meist zeigt es sich aber im defizienten Modus des Aneinandervorbeigehens, sich nichts Angehens, was daher für das gewöhnliche Verständnis wieder eine ontologische Interpretation von einzelnen Subjekten nahe legt.

Positiv gewendet besteht die Fürsorge in zwei Modi, so Heidegger.

Erstens im Abnehmen der Sorge als „Einspringen“, was den Anderen aber auch zum Abhängigen und Beherrschten machen kann – als einspringend-beherrschender Modus und Zweitens in einer „Vorausspringenden Fürsorge“ als eigentliche Sorge im vorausspringend-befreienden Modus. Heidegger schließt daraus: „Als Mitsein ist das Dasein wesenhaft umwillen Anderer“[10] auch im defizienten Modus des sich nicht kümmerns. Aufgrund diesen defizienten oder indifferenten Modus der Fürsorge entsteht das vermeintliche Problem des „sich Einfühlen müssens“ in ein anderes Subjekt durch ein sich Hineinversetzen; was aber laut Heidegger nicht möglich sei, da diese Argumentation voraussetzt, „dass das Sein des Daseins zu ihm selbst das Sein zu einem Anderen sei“[11] was aber nicht zutreffe. Oder anders gesagt: Einfühlung konstituiert nicht erst das Mitsein, sondern ist erst aufgrund des Existenzial des Mitseins möglich und wegen der defizienten Modi des Mitseins sogar notwendig.

§ 27 Das alltägliche Selbstsein und das Man

Das ontologisch relevante Ergebnis der bisherigen Analyse hat gezeigt, daß der Subjektcharakter sowohl des eigenen wie auch des Daseins der Anderen sich existenzial bestimmt, sie sind das was sie tun, was sie betreiben.

Im besorgenden Umgang mit den Anderen, so Heidegger, geht es ständig um einen Unterschied, sei es um ihn aufzuheben oder um Abstand zu gewinnen – das Miteinandersein bekommt in der Sorge um diesen Abstand den Charakter der „Abständigkeit“.

Und in dieser Sorge um den Abstand ist das Dasein nicht selbst, sondern fremdbestimmt – es steht in der „Botmäßigkeit“ der Anderen – man ist den anderen verpflichtet. Diese Anderen sind nicht bestimmte Andere, jeder Andere kann es sein. (Oder auch jeder andere Andere). „Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen, man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht.“[12] Das Wer des alltäglichen Miteinanderseins ist somit das Man.

In der Benützung der Umwelt, der Verkehrsmittel, der Medien, sagt Heidegger, ist jeder Andere wie der Andere, das eigene Dasein wird in der Seinsart der Anderen aufgelöst – in dieser Ununterscheidbarkeit entfaltet das Man seine Diktatur: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber vom großen Haufen zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden es empörend, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.“[13]

[...]


[1] Vgl. Figal, G. Heidegger, zur Einführung. S.49

[2] Vgl. Pöggeler, O. Der Denkweg Martin Heideggers. S.47

[3] Plato, Sophistes 244a. zit.in: Heidegger, M. Sein und Zeit. S.1

[4] Vgl. Safranski, R. Ein Meister aus Deutschland. S.179

[5] Heidegger, M. Sein und Zeit. S.114

[6] S.116

[7] S.118

[8] S.118

[9] S.120

[10] S.123

[11] S.125

[12] S.126

[13] S.127

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Der Übergang vom Man zum Selbst in Martin Heideggers „Sein und Zeit“
Hochschule
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt  (Institut für Philosophie und Gruppendynamik)
Veranstaltung
Martin Heideggers Sein und Zeit
Note
1
Autor
Jahr
2009
Seiten
16
Katalognummer
V307413
ISBN (eBook)
9783668057869
ISBN (Buch)
9783668057876
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Dasein
Arbeit zitieren
Karl Gietler (Autor:in), 2009, Der Übergang vom Man zum Selbst in Martin Heideggers „Sein und Zeit“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/307413

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