Das Bild der "Neuen Frau" und die Angestelltenkultur in Irmgard Keuns Roman "Gilgi – eine von uns" (1931). Fortschrittliche Darstellung und Widerspiegeln der Wirklichkeit?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

17 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Phänomen „Neue Frau“

2. Arbeits- und Lebensverhältnisse weiblicher Angestellter in der Weimarer Republik

3. Eine von uns?
3.1 „...es ist eignes Verdienst“
3.2 „Eine ganz gemeine Ungerechtigkeit“

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Weimarer Republik, die Zeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, umfasste lediglich eine kurze, dennoch wichtige Phase im Kampf der Frau um Gleichberechtigung. Die Todeserfahrung des Ersten Weltkrieges griff nachhaltig in das Lebensgefühl der Menschen ein und bedingte zugleich Veränderungen im Wirtschaftsleben und in der Gesellschaftsstruktur. Das Fehlen männlicher Arbeitskräfte zwang Frauen auf, sich erstmalig außerhalb des familiären Umfeldes zu behaupten. Die Erfahrung eigener Berufstüchtigkeit mündete in einem Zweifel über die Gültigkeit der bislang tradierten weiblichen Lebensmuster.

Durch Anleihen aus den USA sollte es die deutsche Ökonomie bald wieder auf das Vorkriegsniveau schaffen und tatsächlich gelang dem zerstörten Deutschland, bereits in den 1920er Jahren, der wirtschaftliche Wiederaufbauprozess. Die „goldenen zwanziger Jahre“[1] brachen an und etablierten, im Zuge der Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse, des Pro-Amerikanismus und der wachsenden Medien- und Filmwelten das Phänomen der Neuen Frau.

Gerade Medien, so die Ausgangslage dieser Arbeit, bieten einen Proberaum zum Experimentieren mit neuen Lebens- und weiblichkeitsentwürfen. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf den Entwurf der Neuen Frau im Erstlingsroman der Autorin Irmgard Keun. „Gilgi – eine von uns“, so der Titel, erschien 1931 und wurde zum Sensationserfolg. Das Buch wurde in mehreren Sprachen übersetzt, bereits 1932 verfilmt und in der sozialdemokratischen Tageszeitung Vorwärts erneut abgedruckt. Keun bezog sich in ihrem Roman auf zeitgenössisch aktuelle Themen. Mit ihrer Protagonistin „Gilgi“ – Vertreterin der neuen Angestelltenkultur – nahm sie an dem Diskurs um die Neue Frau teil und griff einen Frauentyp auf, der unzähligen jungen Frauen als Vorbild galt. Die zeitaktuelle Thematik, die Darstellung realer Orte und die Nähe der Autorin zur Erlebniswelt ihrer Protagonistin erzeugten nicht nur Authentizität und machten den Roman zu einem Verkaufsschlager, auch trägt er heute den Charakter eines informativen Zeitdokuments.

Der Titel des Romans „Gilgi – eine von uns“ suggeriert, dass Irmgard Keun mit ihrer Protagonistin eine moderne, „Neue Frau“ und Angestellte vorführt, wie sie typisch für die Zwischenkriegszeit war. Das zu überprüfen soll zentrale Aufgabe dieser Arbeit sein. Hierzu wird in einem ersten Schritt der Begriff „Neue Frau“ definiert und die wichtigsten Konstituenten vorgestellt, die für die Entstehung dieses Phänomens ausschlaggebend waren. Die Neue Frau der Weimarer Republik wurde vorwiegend mit einer jungen Angestellten assoziiert. Aus diesem Grund wird Punkt Zwei die realen Arbeits- und Lebensverhältnisse der weiblichen Angestellten in der Weimarer Republik reflektieren. Abschließend wird die Arbeit mit einer genauen Romananalyse klären, ob die Figur „Gilgi“ und ihr entworfenes Leben als Angestellte mit dem Bild der „Neuen Frau" und der realen Situation weiblicher Angestellter kongruent sind.

1. Phänomen „Neue Frau“

Der Strom, die Begeisterung der Befreiung haben die Allgemeinheit erfasst. Sport, Theater, Literatur unterstützen die Forderungen der Frau. Der Typ der modernen Frau, die ganz selbstständig sein will, zeichnet sich immer mehr ab. Die kurzen Haare, der kurze Rock sind nur Symptome, die bessere Bildung erzeugt neues Selbstgefühl. Großmütter, die warnend den Finger heben, werden mit überlegener Ironie abgefertigt.[2]

Sucht man in der Literatur nach der Definition des Terminus „Neue Frau“, stößt man auf viele unterschiedliche Begriffe: „girl“, „flapper“, „garçonne“[3], „ein Versprechen, eine Jahrhundertphantasie“[4], ein „Übergangsgeschöpf“[5], das Bubikopf und kurzen Rock trägt, raucht und Auto fährt. Ein neu erschaffenes Wesen: „keck und frech hatte sie zu sein, selbst- und karrierebewusst, kulturell aufgeschlossen, modisch und aufgeklärt“[6]. Folglich handelt es sich um einen Begriff, der nicht subtil bestimmt werden kann, sondern um „eine aus diversen Perspektiven aufgeladenen Idee“[7]. Diese „Idee“, welche sich insbesondere in dem Lebensstil und -gefühl der jungen Generation der Weimarer Republik spiegelte, resultierte aus dem Zusammenspiel mehrerer Instanzen.

Die Anfänge für den Wandel in der Frauengesellschaft schufen sicherlich die Errungenschaften der Frauenbewegungen. 1918, mit Beginn der Weimarer Republik, hatte sie einige ihrer wichtigen Ziele erreicht. Frauen wurde das Wahlrecht zugesprochen und sie konnten seit 1908 an allen deutschen Universitäten studieren. Die neue Verfassung der Republik garantierte den Frauen Gleichberechtigung, adäquate Bildungschancen und das Recht auf Erwerbstätigkeit. Der Stabilisierungsphase der Wirtschaft, die durch finanzielle Unterstützung seitens der USA ermöglicht wurde, folgte eine Modernisierungs- und Rationalisierungsbewegung nach amerikanischem Vorbild. Die wirtschaftlichen Strukturveränderungen boten gerade ihnen Zugang zu neuen, zuvor ausschließlich männlich besetzten, Berufsspaten.[8] Wie Schulte bemerkt, wurden die Frauen im Verlauf dieser Zeit zunehmend selbstbewusster. Ihre Arbeitstüchtigkeit erfüllte sie mit Stolz und sie erlangten allmählich eine öffentliche Präsens auch in den Sphären, die ihnen zuvor verschlossen waren.[9]

Die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges und die politischen und sozialen Veränderungen mündeten in einem Wertewandel der bislang tradierten geschlechtsspezifischen Lebensentwürfe. Die junge Frauengeneration sah sich nicht mit der im Haus und am Herd platzierten Rolle der Mutter verschmelzen. Eher suchte sie nach Möglichkeiten, Arbeit und Familie, Karriere und Liebe zu vereinen.[10] Berlin wurde zur Metropole der 20er Jahre. Viele arbeitssuchende Frauen zogen vom Dorf in die Stadt, die den geeigneten Lebensraum zur Entfaltung neuer Lebensentwürfe offerierte. Anders als in der Provinz stoß eine berufstätige, ledige und traditionsgelöste Frau hier auf Akzeptanz, war sie doch keine Seltenheit unter der Masse.[11] Im „Schutzraum der Großstadt“[12] konnten die mütterlichen Verdienste ausgelebt und mit Gleichberechtigung experimentiert werden. Neue Eheideale, wie die „Kameradschaftsehe“[13] oder die „Probeehe“[14] wurden diskutiert und auch außereheliche Beziehungen wurden selbstverständlicher. Die Frauen drückten ihr neu erwachtes Selbstbewusstsein auch in der Mode und im Styling aus. Röcke und Haare wurden kürzer, figurumspielende Kleidung, wie der sportliche Jumper, der Hosenanzug, wie Marlene Dietrich ihn vorführte, etablierten sich. Der „garçonne-stil“, der zunehmend der Männermode glich, galt nicht nur als modern sondern auch als Bekenntnis, eine „Neue Frau“ zu sein.[15] Eine kurvenfreie Silhouette, schlank und kleinbrüstig, sportlich, gebräunt doch mit jugendlich rosigem Teint wurde das Schönheitsideal unzähliger junger Frauen und Mädchen.[16]

Die äußerlichen Veränderungen hatten somit vor allem demonstrativen Charakter. Die neue Mode diente als bewusst nach außen getragenes Zeichen der Abgrenzung von traditionellen Weiblichkeitsentwürfen der Müttergeneration und repräsentierte die zeitgemäße Anpassung an den neuen kollektiven Frauentypus […].[17]

Die jungen Weimarer Frauen befanden sich im Schnittpunkt zwischen Tradition und Moderne, zwischen alten und neuen Lebens- und weiblichkeitsentwürfen. Dennoch, wie Kessemeier resümiert, wurde die alte patriarchalische Familienstruktur nicht ins Wanken gebracht: „Anstatt eines radikalen Bruchs konnte so eher von einer leichten Verschiebung der Geschlechtergrenzen gesprochen werden“.[18] Trotz Erwerbstätigkeit und neuem Selbstbewusstsein blieb der Mann Oberhaupt der Familie und Ehe weiter anzustrebendes Ziel. So galt der Beruf oftmals nur als Aufbewahrungsort bis zum Übergang in die Ehe: 1925 waren 65 Prozent der Frauen, die als Angestellte im Handel und Industrie arbeiteten, jünger als 25 Jahre, und fast alle (94 Prozent) waren ledig. Sobald sie in den Stand der Ehe traten, kündigten sie oder wurden gekündigt. Gaben sie einem Berufskollegen ihr Jawort, konnten sie damit rechnen, ihr weiteres Leben an seiner Seite ganz als Hausfrau und Mutter zu führen: Nur etwa ein Zehntel der Angestellten-Ehefrauen ging Mitte der zwanziger Jahre einer Erwerbstätigkeit nach (Zum Vergleich: 22 Prozent der Arbeiterfrauen).[19]

Das Festhalten an der traditionellen Familienstruktur wird besonders in der Dramaturgie zeitgenössischer Filme erkenntlich, die dem Verlauf „arme Sekretärin heiratet ihren Chef und wird glückliche Hausfrau“[20] folgte. In Deutschland existierten derzeit mehr Kinos als in den Nachbarländern. Der Film avancierte zum meistrezipierten Massenmedium.[21] In allen Print- und Bildmedien existierten bereits modifizierte Entwürfe der „Neuen Frau“, doch gerade die aufblühende Medien- und Filmindustrie der 20er Jahre verbreitete ein neues Weiblichkeitsideal: die autonome, berufstätige, finanziell unabhängige, selbstbewusste Angestellte.[22] Dieser Frauentyp orientierte sich an dem amerikanischem „girl“, welches ironischer Weise Fortschritt und Modernität, nicht traditionelle Werte repräsentierte:[23]

[…] so weckten Bilder und Artikel über die Errungenschaften der gleichaltrigen Girls in den Medien Sehnsüchte und Träume von einem Leben, in dem soziale Mobilität bzw. finanzielle und familiäre Unabhängigkeit die traditionellen Werte von selbstloser Mütterlichkeit und Klassenloyalität in den Schatten stellten.[24]

Vielleicht stellte das „Heirat-Happy-End, wie Schulte erläutert, den Versuch dar, neue Frauenideale mit der traditionellen Frauenbiographie zu verknüpfen und so eventuellen Zweifeln an Geschlechterrollen entgegenzuwirken.[25] In der Sekundärliteratur wird die „Neue Frau“ zumindest oft mit einer Angestellten assoziiert. Da sich die Masse der jungen Angestellten mit dem „girl“ bzw. dem „Büromädchen“ aus den beliebten Kinofilmen identifizierte, verschmolz vermutlich auch das Bild der „Neuen Frau“ mit der Masse der Angestellten.

Die „Neue Frau“ war ein zeitlich klar begrenztes Phänomen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten hielt bereits ein `neues` Weiblichkeitsideal Einzug und setzte dem Autonomiestreben der Frau für viele Jahre ein Ende.

[...]


[1] Liane Schüller macht auf die Ambivalenz der goldenen zwanziger Jahre aufmerksam, die sich durch eine „wirtschaftlich und politisch angespannte Lage einerseits und kulturell und künstlerisch enormer Vielfalt andererseits“ auszeichnen. Vom Ernst der Zerstreuung. Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik: Marieluise Fleißer, Irmgard Keun und Gabriele Tergit. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005. S. 18.

[2] Richard Huelsenbeck: Bejahung der Frau. In: Friedrich M. Huebner (Hrsg.): Die Frau von morgen wie wir sie wünschen. Eine Essaysammlung aus dem Jahre 1929. Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1990. S. 34.

[3] Ernst Hanisch: MÄNNLICHKEITEN. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien u.a.: Böhlau Verlag 2005. S. 195f.

[4] Kerstin Barndt: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Wien u.a.: Böhlau Verlag 2003. S. 9.

[5] Ebd. S. 18.

[6] Schüller (2005). S. 29.

[7] Barbara Drescher: Die „Neue Frau“. In: Walter Fähnders/ Helga Karrenbrock (Hrsg.): Autorinnen der Weimarer Republik. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2003. S. 172f.

[8] Vgl. Walter Fähnders/ Helga Karrenbrock: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Autorinnen der Weimarer Republik. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2003. S. 7f.

[9] Schulte (2006). S. 14.

[10] Vgl. Drescher (2003). S. 163.

[11] Vgl. Fähnders/ Karrenbrock (2003). S. 9.

[12] Ebd.

[13] Hanisch (2005). S. 195.

[14] Frauenalltag und Frauenbewegung. 1890-1980. Historisches Museum Frankfurt a.M. (Katalog). Basel u.a.: Roter Stern 1981. S.51.

[15] Vgl. ebd. S. 57; Schüller (2005). S. 38 und S. 42.

[16] Vgl. Frauenalltag und Frauenbewegung (1981). S. 57 und S. 60.

[17] Kerstin S. Schulte: Darstellung der Frauenfiguren in Irmgard Keuns Romanen Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen. Oldenburg 2006. S. 17.

[18] Gesa Kessemeier (2000). Zit. nach: Ebd.

[19] Ute Frevert (1988). Zit. nach Schulte (2006). S. 13.

[20] Schulte (2006). S. 18.

[21] Vgl. Schüller (2005). S. 52.

[22] Vgl. Schulte (2006). S. 18.

[23] Vgl. Drescher (2003) S. 166.

[24] Ebd. S. 168.

[25] Vgl. Schulte (2006). 19.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Das Bild der "Neuen Frau" und die Angestelltenkultur in Irmgard Keuns Roman "Gilgi – eine von uns" (1931). Fortschrittliche Darstellung und Widerspiegeln der Wirklichkeit?
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Germanistik)
Veranstaltung
Epochen und Werke
Note
2,0
Jahr
2014
Seiten
17
Katalognummer
V306912
ISBN (eBook)
9783668050334
ISBN (Buch)
9783668050341
Dateigröße
734 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bitte anonym veröffentlichen; Preisvorstellung 12,99 Danke
Schlagworte
bild, neuen, frau, angestelltenkultur, irmgard, keuns, roman, gilgi, fortschrittlich, widerspiegelung, wirklichkeit, eine, romananalyse
Arbeit zitieren
Anonym, 2014, Das Bild der "Neuen Frau" und die Angestelltenkultur in Irmgard Keuns Roman "Gilgi – eine von uns" (1931). Fortschrittliche Darstellung und Widerspiegeln der Wirklichkeit?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/306912

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