Fresh-X im Dialog mit dem Pietismus. Die Förderung der "mixed-economy" bei Chrischona International


Seminararbeit, 2015

107 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Ausgangssituation und Fragestellung
1.2 Methode und Eingrenzung

2 „mixed economy“: mit dem Erbe in die Zukunft

3 Der Pietismus als Erneuerungsbewegung
3.1 Entstehung des Pietismus
3.2 Grundanliegen und Antriebskräfte des Pietismus

4 Christian F. Spittler: Pionier und Pietist
4.1 Spittlers Bekehrungserlebnis
4.2 Anfänge bei der Christentumsgesellschaft
4.3 Den Nöten der Zeit begegnen
4.4 „Lieblingswerk“ Pilgermission St. Chrischona
4.5 Spittlers Frömmigkeit

5 Im Geiste Spittlers: Zwei wesentliche Merkmale der Tradition
5.1 Die Heilige Schrift im Zentrum
5.1.1 Anliegen
5.1.2 Kritische Würdigung
5.1.3 Umsetzung
5.1.4 Resümee
5.2 Diakonie durch Gemeinschaft
5.2.1 Anliegen
5.2.2 Kritische Würdigung
5.2.3 Umsetzung
5.2.4 Resümee

6 Fazit
6.1 Chrischona darf wieder missional werden
6.2 Keine Angst vor Kritik
6.3 Persönlicher Gewinn

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang
Anhang 1
Anhang 2: Anpacken und der Not begegnen
Anhang 3: Wir müssen vorwärts schauen!

1 Einleitung

1.1 Ausgangssituation und Fragestellung

Chrischona International versteht sich als einer der grössten pietistischen Gemeinschaftsverbände im deutschsprachigen Europa (Idea 2015:28; Buser 2015:1) und blickt zurück auf eine 175-jährige Geschichte (Chrischona International 2015). 1840 gründete Christian Friedrich Spittler die Pilgermission bei Basel. Erste Glaubensgemeinschaften, die darum baten, unter die Führung der damaligen Pilgermission St. Chrischona1 genommen zu werden, bildeten sich um 1869 im Kanton Thurgau (Staub 1965:19). So entstanden aus anfänglich innerkirchlichen Versammlungen bis heute rund 90 institutionalisierte Freikirchen in der Schweiz. Doch bereits vor 25 Jahren wurde vor einer drohenden Erstarrung in der ursprünglichen Pionierbewegung und dem Nachlassen des missionarischen Anliegens gewarnt:

„Man gibt sich zufrieden mit dem ‚gut funktionierenden Gemeindebetrieb‘. Dabei übersieht man leicht die grossen Massen, die vom Evangelium unberührt rings um uns leben“ (Aeschlimann 1990:62).

Vier Jahre später fragte der damalige Direktor der Pilgermission, Karl Albietz, eindringlich wo die „Pioniere der Neuzeit“ sind, welche die Herausforderungen der Zeit sehen und handeln (1994:93). Diese Mahnungen blieben nicht ungehört. Die Leitungsgremien von Chrischona International und dem Gemeindeverband Chrischona Schweiz fördern aktiv die Implementierung neuer Formen von Gemeinden für eine postmoderne Gesellschaft, die sich durch einen Traditionsabbruch vom Christentum auszeichnet. Neben der Unterstützung bestehender Gemeinden, sollen Pastoren und Gemeindeglieder sensibilisiert werden für missionale Formen der Gemeinschaft.2 Neue Formen von Gemeinde werden unterstützt und begleitet.

Zusammen mit einem Team stehe ich im Thurgauer Städtchen Diessenhofen mitten im Prozess einer missionalen Gemeindepflanzung unter dem Dach von Chrischona Schweiz. Das Projekt trägt den Namen Venue: Ort zum Erleben (Venue 2015) und unser Anliegen wird sehr gut durch die Worte von Herbst zusammengefasst: „Die Kirche will dort sein, wo die Menschen sind, und wie sie nun einmal sind“ (Herbst 2008:52, Hervorh. i.O.). In dem Kanton, in welchem die ersten Chrischona-Gemeinden entstanden, ist Chrischona Schweiz mit Venue im Rahmen eines Pionierprojektes in der kirchlichen Landschaft vertreten. Damit schliesst sich ein Kreis und zugleich öffnet sich ein neuer Kreis mit Chancen zur Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat.

Für unser missionales Projekt Venue richten wir uns an den Erfahrungen der anglikanischen Kirche mit ihren fresh expressions of church (Fresh-X) aus. Bei einer Fresh-X als kontextualisierter Gestalt von Kirche für eine sich wandelnde Gesellschaft, stehen Menschen ohne Bezug zu Kirche und christlichem Glauben im Zentrum.3 Wie ich in Kapitel 2 ausführen werde, orientiert sich eine Fresh-X am Erbe und den Traditionen derjenigen Denomination, der sie im Sinne der „mixed economy“ zugehörig ist. Diese Tradition gilt es damit für Venue in einem pietistischen Verband neu zu entdecken und fruchtbar zu machen. Dazu will vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten.

Die Auseinandersetzung soll uns als Team Schwerpunkte, Möglichkeiten und allfällige Hindernisse aufzeigen, die in der Tätigkeit als Pioniere innerhalb eines pietistischen Verbandes entstehen können. Die intensive Beschäftigung mit der Geschichte von Chrischona zeigt zudem unsere Verbundenheit mit Chrischona International, auch wenn wir mit neuen und ungewohnten Formen von Gemeinschaft experimentieren. Schliesslich soll die Arbeit andere missionale Pioniere ermutigen, mit Unterstützung von Chrischona und damit in pietistischer Tradition, Neues zu wagen.

Die anhaltende theologische Reflexion ist ein Merkmal der Pioniertätigkeit im Rahmen einer Fresh-X (Croft & Mobsby 2009:viii; Herbst 2008:64) Daher ordnet sich vorliegende kirchengeschichtliche Arbeit in eine Reihe von drei bereits bestehenden Arbeiten zu Venue ein.4

1.2 Methode und Eingrenzung

Ich befasse mich im Folgenden mit der Frage, welches Erbe Spittler als Pietist und Gründer der Pilgermission durch sein Wesen und Wirken hinterlassen hat und wie dieses Erbe im 21. Jahrhundert unter veränderten gesellschaftlichen und gemeindebaulichen Bedingungen neu fruchtbar gemacht werden kann. Dazu untersuche ich Sekundärliteratur zu Spittler und einschlägige Literatur zum Pietismus im Allgemeinen. Weiter führte ich ein Gespräch mit dem ehemaligen Direktor der Pilgermission, Karl Albietz und dem Dozenten für Kirchengeschichte am Theologischen Seminar Chrischona, Claudius Buser. Die Gespräche sollten mir im Wesentlichen zu einer umfassenderen Gesamtschau der Themen Pietismus, Spittler, Pilgermission und aktuellen Herausforderungen verhelfen. Als Ertrag stelle ich zwei wesentliche Merkmale des Erbes exemplarisch dar und unterziehe sie einer kritischen Würdigung im Gespräch mit relevanter Gegenwartsliteratur. Weitere Merkmale, die sich für eine vertiefte Reflexion anbieten, führe ich im Anhang zu dieser Arbeit auf.

In der gesamten Untersuchung betrachte ich lediglich Spittler als Gründer der Pilgermission und deren genuin pietistischen Anfänge. Ich bin mir der weiteren Prägungen von Chrischona International, u.a. durch die Einflüsse der Oxforder Heiligungsbewegung, bewusst. Diese können aber aufgrund der Zielsetzung und Kürze keinen Eingang in vorliegende Arbeit finden.

2 „mixed economy“: mit dem Erbe in die Zukunft

Eine Fresh-X zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich als Ergänzung zur etablierten Kirche versteht und nicht als deren Ersatz.5 Durch kontextualisierte Formen von Kirche und Glauben will eine Fresh-X in spezifische Milieus wirken, die von den institutionalisierten Kirchen nicht erreicht werden. In der anglikanischen Kirche wurde für diese parochiale Ergänzung der Begriff der „mixed economy“ eingeführt:

„The mixed economy contains the idea of bringing Christian communities to birth in different ways for different people, but as far as possible within the existing denominations and churches“ (Moynagh 2012:432).

Dieses Eingebundensein in eine existierende Denomination bedeutet auch eine Einbindung in deren Tradition. In vorliegendem Fall versteht sich die Fresh-X Venue eingebunden in die pietistische Tradition von Chrischona. Eine Fresh-X hört damit einerseits auf den Kontext vor Ort, andererseits auf die Tradition, aus der sie entwächst. Aus dem fortwährenden Dialog zwischen diesen beiden Grössen und tiefer Verwurzelung in der Tradition entsteht Innovation (Müller 2014:452; Bolz-Weber 2015). Kontext und Tradition bilden damit gewissermassen Leitplanken im Finden neuer Ausdrucksformen von Kirche. Damit fügt sich eine Fresh-X ein Stück weit in die Kultur der Denomination ein, sucht aber gleichzeitig nach neuen Wegen, wie Kirche im Kontext gelebt werden kann. Moynagh betont den Wert dieser Unterschiedlichkeit in Einheit wenn er schreibt: „A denomination or network will be most like God when diversity and unity are combined“ (Moynagh 2012:436).

Die Besinnung auf die denominationelle Tradition hilft aber nicht nur im Prozess der Kontextualisierung, sondern verhilft den missionalen Gemeinschaften von der Denomination als eigenständige Form von Kirche anerkannt und verstanden zu werden. Die Denomination soll sich mitverantwortlich fühlen für das Neue, das entsteht (:69). Dadurch, dass sich entwickelnde missionale Gemeinschaften bewusst in die Tradition der Denomination stellen, können sie bestehende Kirchen zudem ermutigen:

„Pioneers can offer an existing church hope for the future by their choice to remain linked to the traditions of the past and by their willingness to teach others how to share them and speak of them in the language and idiom of the present“ (Shier-Jones 2009:75; vgl.: Albietz 2015:4-5).

So entsteht durch die „mixed economy“ ein Geben und Nehmen zwischen Bewährtem und Neuem und beide Teile werden einander zum Segen (Moynagh 2012:446). Eine Fresh-X, die eine Kultur der „mixed economy“ lebt, Neues neben Bewährtem versucht und sich auf die Tradition und das Erbe besinnt, steht sowohl im Einklang mit Spittler, wie auch dem späteren Anliegen der Pilgermission.6

3 Der Pietismus als Erneuerungsbewegung

3.1 Entstehung des Pietismus

Der Pietismus als Frömmigkeitsbewegung ist ein wesentliches Phänomen der Neuzeit, welches zeitgleich mit der Epoche der Aufklärung einherging. Die Aufklärung setzte ungefähr 1650 ein und wollte durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen überwinden.

Ein umfassender Wandlungsprozess setzte sich zu dieser Zeit im protestantischen Christentum in Gang. Der Glaube verlagerte sich in den Kopf, eine erstarrte Orthodoxie wurde vorherrschend. Glaube und Leben, Theologie und Frömmigkeit drifteten immer stärker auseinander. (Sierszyn 2007:35). Dieser Entwicklung wollte der Pietismus entgegenwirken, indem er ein Zusammengehen von reformatorischer Lehre und christlichem Leben forderte (Brecht 2000:610).

Im Jahr 1675 veröffentlichte J.P. Spener (1635-1705) seine Schrift „Pia Desideria“. Darin plädierte er für eine verstärkte Bibelfrömmigkeit, gegen den vorherrschenden Intellektualismus und für ein Christentum der Praxis, sowie für das Priestertum aller Gläubigen (Spener 1964:55–79). Sein Vorwort zu Arndts Evangelienpostille wurde zur Programmschrift des Pietismus, weshalb das Jahr der Veröffentlichung als Entstehungsjahr einer sozial greifbaren pietistischen Bewegung gesehen wird (Sommer & Klahr 2006:180).

A.H. Francke (1663-1727) wurde zum weiteren Gestalter des Pietismus nach Spener und mit ihm konnte sich der Pietismus als Reformbewegung schliesslich durchsetzen (Brecht 2000:613–615). Niklaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) wurde in den Franckschen Anstalten erzogen. Anders als Spener und Francke setzte sich Zinzendorf nicht für einen innerkirchlichen Pietismus ein. Mit der Gründung seiner Herrnhuter Brüdergemeinde entstand die erste eigentliche Freikirche (Heussi 1956:400).

3.2 Grundanliegen und Antriebskräfte des Pietismus

Der Pietismus hat fliessende Grenzen, da er nicht durch eine eindeutige organisatorische Gestalt bestimmt wird. Um den Pietismus näher zu beschreiben, muss der Blick auf die gemeinsamen Grundanliegen und Antriebskräfte gelenkt werden (Brecht 2000:606; Sommer & Klahr 2006:175; Kruse 2004:668).

Im Zentrum des pietistischen Glaubens, Denkens und Handelns steht die individuelle Glaubenserfahrung, oder wie es Liedholz zum Ausdruck bringt, „das Ausstrecken nach einem lebendigen Glaubensleben“ (1990:6). Der Dreischritt Bekehrung, persönlicher Glaube und ein Leben in Heiligung ist konstitutiv für den Pietismus.

Dennoch stehen für den genuinen Pietismus nicht weltflüchtige Tendenzen im Vordergrund, er zeichnet sich im Gegenteil durch seine sozialethischen Impulse aus (Sommer & Klahr 2006:178). Durch das Anliegen des praktisch gelebten Glaubens entstand bereits in den Anfängen des Pietismus ein Interesse an Erziehung und Diakonie, woraus eine Fülle von diakonischen und missionarischen Werken in der inneren und äusseren Mission entstanden sind (Staub 1965:13; Bockmühl 1985:11). Der Pietismus entwickelte somit einen „starken missionarischen und sozialen Grundzug“ (Sierszyn 2007:28).

Der Pietismus zeichnete sich weiter aus durch das fleissige Lesen der Bibel, „die nicht kritisch in Frage gestellt werden darf“ (Brecht 2000:607). Die Ablehnung der kritischen Theologie erklärt sich aus dem Ursprung des Pietismus als Gegenbewegung zur rationalistischen Aufklärung und den damit einhergehenden exegetischen Methoden durch Exponenten wie Baruch de Spinoza (1632-1677). Die Bibel, welche durch den Pietismus erschwinglich wurde, las man in Gemeinschaft und auch alleine in der „Stillen Zeit“.

Durch die Herausbildung einer pietistischen Rechtgläubigkeit mit daraus resultierenden Regeln zum Verhalten der Gläubigen und einer zum Teil starken Abschottung von der Welt, wurde der Pietismus vielerorts von einer vitalen Aufbruchbewegung immer stärker zu einer konservativen Bewegung (:621). Die nach aussen gerichteten diakonischen und missionarischen Aktivitäten wichen, nicht zuletzt durch den Einfluss der Romantik am Anfang des 19. Jahrhunderts, einer Verinnerlichung des Christentums beim Einzelnen. Diese Verlagerung der Anliegen ist charakteristisch für die spätere Entwicklung des Pietismus, nicht aber für den ursprünglichen Pietismus der sich auszeichnete durch ein „Engagement in allerhand Reich-Gottes-Aktivitäten“ (:606).

4 Christian F. Spittler: Pionier und Pietist

Spittler ist Gründer und geistlicher Vater der Pilgermission St. Chrischona. Wann immer das Erbe der Pilgermission reflektiert wird, ist eine Rückbesinnung auf Spittler daher unumgänglich (Zimmermann 1965:65). Ziel des folgenden Abschnittes ist eine Zusammenfassung von Spittlers Anliegen und seiner Frömmigkeit.7

4.1 Spittlers Bekehrungserlebnis

Spittler (1782-1867) wuchs in einem pietistischen Elternhaus auf. Sein Vater war Pfarrer und Spittler wurde geprägt durch die Liebe seines Vaters zur Bibel, von seinem lebendigen Gebetsleben und seiner uneigennützigen Frömmigkeit (Kober 1887:3). Bis zum Alter von 18 Jahren war der Glaube für Spittler nicht viel mehr als eine fromme Tradition, die er geerbt hatte. Eine körperliche Krise, die schliesslich in einen Ohnmachtsanfall führte, erlebte Spittler als Lebenswende und Ruf von Jesus Christus zur persönlichen Nachfolge. Spittler wurde aus einem „äusserlich ehrbaren und gesitteten Menschen“ zu einem „wirklichen Kind Gottes“ (:12).

4.2 Anfänge bei der Christentumsgesellschaft

Im Alter von 19 Jahren wurde Spittler 1801 zum Sekretär der Christentumsgesellschaft in Basel berufen. Die Gesellschaft wurde 1780 gegründet um dem Rationalismus und der Entkirchlichung zu wehren. Sie kann als Nachahmung der Sozietäten in Grossbritannien verstanden werden, welche Missions-, Traktat- und Bibelgesellschaften unterstützten (Brecht 2000:622). Die Gesellschaft in Basel übernahm die Ziele des Frühpietismus, wollte die „reine Lehre“ und wahre Frömmigkeit fördern zur „Pflanzung und Pflege lebendigen Christentums“ (Pilgermission 1885:85). Durch intensive Vernetzungsarbeit sollten bibelgläubige Kreise gestärkt und diakonische, sowie missionarische Projekte finanziert werden (Hauss 1968:463).

Als Sekretär dieser Gesellschaft musste Spittler ein weit verzweigtes Werk in Gang halten. Er stand in intensivem Briefwechsel, vermittelte zwischen den einzelnen Anstalten und Gesellschaften und verfasste Berichte. Aufgrund seiner Erfahrungen, die er bei der Christentumsgesellschaft sammeln konnte und durch das Anliegen, welches sich bei seiner Tätigkeit entwickelte, wird die Christentumsgesellschaft als „Mutter der Pilgermission“ (Veiel 1940:7) bezeichnet.

4.3 Den Nöten der Zeit begegnen

Im Jahr 1812 kaufte Spittler in Basel ein altes Augustinerkloster, das Fälkli. Schon früh nahm er einsame und heimatlose Menschen auf. Das Fälkli wurde rasch zum Zufluchtsort für Verfolgte und Einsame. Spittler lebte Gastfreundschaft für Gläubige, suchende Studenten und alte Menschen (Hauss 1968:463; Schick & Haag 1982:29). Mit dem Fälkli entwickelte sich das diakonische Anliegen von Spittler, der rasch zu einem „Magneten für die Unglücklichen und die in Not Geratenen“ wurde (Rennstich 1987:149). Bereits 1813 gründete er eine Armenherberge für Lazarettkranke und verteilte dort Bibeln und Traktate. Während seinem Leben hat Spittler rund 30 missionarisch-diakonische Werke ins Leben gerufen.8 Er legte Hand an, wo immer er eine Not sah. So konnte Spittler sagen:

„Was hilfts, wenn wir beim warmen Ofen und einer Pfeife Tabak - (er selbst war übrigens ein abgesagter Feind des Rauchens) - die Notstände der Zeit bejammern, handanlegen müssen wir und sei es auch ganz im Kleinen“ (Pilgermission 1885:192, Hervorh. i.O.).

Spittler besass eine Gabe, die Not im Volk und in der Kirche wahrzunehmen und darauf zu reagieren (Haag 1995:22). Diese diakonische Lebenshaltung bestimmte Spittlers gesamte Lebensweise. Unterschiedlichste Leute fanden bei ihm Trost und konnten ihr Herz ausschütten. So war Spittler bekannt als Freund der Armen und Randständigen (Graf 1994:77). Kraft für sein diakonisches Engagement fand er in seinem Glauben. Die Liebe zu Gott weckte in Spittler die Liebe zum Nächsten:

„Es war der Zug erbarmender Liebe für Verlassene, Arme, Elende; der sich mit der Zeit durch Gottes Gnade so weit ausbildete, dass es bei ihm hiess: niemand und nichts aufgeben.“ (Pilgermission 1885:32, Hervorh. i.O.)

Für seine aktive und umtriebige Art erntete Spittler nicht nur Lob. Der ebenfalls bibeltreue J.T. Beck, dannzumal Professor an der Universität Basel, übte harsche Kritik am Basler Pietismus und dem „Handanlegen“ Spittlers. Beck vertrat die Einstellung, dass das Reich Gottes nicht gebaut werden kann, sondern sich ereignet. In den Gründungen Spittlers sah Beck menschliche Eigenwilligkeit am Werk (Schick & Haag 1982:64–67). Diese Kritik traf Spittler tief, hielt ihn aber nicht von weiteren Aktivitäten ab, denn Spittler hatte ein anderes Reich-Gottes Verständnis: Weil Gott in der Welt wirksam ist, soll auch der Mensch Verantwortung für die Welt übernehmen (Rennstich 1987:125).

Spittler steht als Beispiel für einen Pietisten, der sich nicht von der Welt zurückzog. Rennstich bemerkt: „Sein ganzes Leben ist ein Dokument der Einmischung in die Welt“ (1987:69). Den sozialen Nöten in der Gesellschaft begegnete Spittler ebenso, wie den geistlichen Nöten seiner Zeit. Er stellte seine Kräfte und Gaben ganz in den Dienst Gottes und wusste missionarisches und diakonisches Handeln zu verbinden, was ihn in Basel zu einem Vertreter eines „aktiven Neupietismus“ machte (Haag 1994a:1884).

4.4 „Lieblingswerk“ Pilgermission St. Chrischona

Im Jahr 1840 rief Spittler sein „Lieblingswerk“ Pilgermission ins Leben (Schick & Haag 1982:44). Der Pilgermission stand Spittler bis zu seinem Lebensende mit viel Leidenschaft vor. Das Werk sollte verstärkt den geistlichen Nöten begegnen. Spittler hatte eine Sicht für Leute, die von der Kirche nicht mehr erreicht wurden und gerade darum das Evangelium dringend nötig hatten. (Veiel 1940:16).

Um diesem Anliegen zu begegnen, gründete er mit der Pilgermission eine Schule, welche junge Männer, die nicht Theologie studieren konnten, vorbereiten sollte auf ihre künftige Aufgabe als „Pilgermissionare“. Durch ein einfaches und schlichtes Leben auf Wanderschaft (Pilger) sollten die Männer durch ihren Beruf Geld verdienen und dabei Zeugen sein (Missionare) für Jesus Christus (Frische 1994:84). Ziel von Spittler war es, das Bibelwort im Sinne von Spener „reichlicher unter die Leute zu bringen“ (Spener 1964:55).

Spittler wollte mit der Pilgermission weder ein strukturiertes Gemeindewerk, noch eine neue Denomination ins Leben rufen. Immer ging es ihm vorrangig um den Menschen und weniger um die Organisation. Die ersten Pilgermissionare verrichteten ihren Dienst in Synergie mit anderen Gesellschaften und zeichneten sich durch ein erfolgreiches Networking aus (Aeschlimann 1990:55). Die Entwicklung der Pilgermission zur freikirchlichen Arbeit fand erst unter Spittlers Nachfolger Rappard am Ende des 19. Jahrhunderts statt.

4.5 Spittlers Frömmigkeit

Spittler pflegte eine tiefe pietistische Volksfrömmigkeit (Buser 2015:10). Ein intensives Gebetsleben war zentral für seine Spiritualität. Spittler berichtet in seinen Aufzeichnungen von „inbrünstigem“ Gebet, erneuter Lebenshingabe, einen „einfältigen Kindersinn“ und dem Gebet um Weisheit und Offenbarung von Gott (Sarasin o.J.:134–135). Jeden Morgen nahm er seine Arbeit erst auf nach halbstündiger Gebetszeit.

Gebet und Bibelstudium am Morgen, vor dem Beginn des Tagewerks, war ihm ein wichtiges Anliegen. So schrieb Spittler: „Es ist nicht gut, spät aufzustehn; man kürzt am Gebet und Bibellesen ab, und dies muss man den ganzen Tag büssen“ (Pilgermission 1885:187). Ebenso folgte auf das Abendessen eine weitere Andacht. Morgens las Spittler ein Kapitel im Alten, am Abend ein Kapitel im Neuen Testament.

Was Spittler tat, tat er im Vertrauen auf Gott und sein Wort: „Liebe zum HErrn [sic] und seinem Wort, Liebe zu den Brüdern, und Liebe zu allen Menschen, war der Grundtrieb seines Lebens“ (:385). Zimmermann beschreibt die Frömmigkeit von Spittler als Glaubenstreue, verbunden mit dem Biblizismus von Bengel und der Herzensfrömmigkeit von Teerstegen. Die Schriften „vom wahren Christentum“ von Arndt gehörten ebenso zu Spittlers täglicher Lektüre wie der kleine Katechismus Luthers, den er auswendig konnte. Jeden Sonntag las er zudem eine Predigt von Ludwig Hofacker (:391).

Spittlers Frömmigkeit war wie für den Pietismus üblich, stark christozentrisch geprägt. Durch seine persönliche Spiritualität konnte er in den Herausforderungen seines aufreibenden Arbeitsalltages bestehen, still sein und warten bis Gott ruft um dann dorthin zu gehen, wohin Gott ruft. Aufgrund seiner Frömmigkeit wurde Spittler von seinem Freund C.G. Barth als „württembergischer Urpietist“ bezeichnet (Schick & Haag 1982:25, 27).

5 Im Geiste Spittlers: Zwei wesentliche Merkmale der Tradition

Im Folgenden stelle ich zwei Merkmale exemplarisch heraus, auf die eine Fresh-X in pietistischer Tradition nicht verzichten kann und darf. Ich schliesse mich dabei Gäckle an, der betont, dass eine Erneuerung der pietistischen Frömmigkeit durch andere Elemente bereichert, aber nicht durch solche ersetzt werden darf. Ausgangspunkt für eine Erneuerung ist eine genuin pietistische Frömmigkeit (Gäckle 2002:198–199).

Die Auswahl der folgenden beiden Spezifika erfolgt aufgrund ihrer Priorität im Leben von Spittler, aber auch wegen ihrer Gewichtung in den Gesprächen mit Buser und Albietz. Nicht zuletzt sehe ich in den beiden Merkmalen die grössten Herausforderungen für uns als Team. Die Beschreibungen verstehen sich daher als Anstoss zur fortgesetzten Beschäftigung.

5.1 Die Heilige Schrift im Zentrum

5.1.1 Anliegen

Das reformatorische Prinzip des sola scriptura machte sich der Pietismus von Beginn weg zu Eigen. Während zur Zeit der Reformation vor allem Predigtpostillen und der Katechismus von den Laien gelesen wurden, sorgte der Pietismus dafür, dass die ganze Bibel in die Häuser und dort unter Beteiligung und sogar Leitung von Laien gelesen und interpretiert wurde (Bockmühl 1985:14). So erhielt die Bibel eine Mittelpunktstellung im Pietismus. Durch die dauernden Bemühungen um das Verstehen und die Auslegung wurde der Bibeltext zum „sozialen Kristallisationspunkt“ für Einzelne, Gruppen, Theologen und Laien (Brecht 2004:102). Für Spener stand die Auseinandersetzung mit der Bibel denn auch am Anfang jeglicher Bemühungen zur Änderung kirchlicher und gesellschaftlicher Umstände: „Eins ist gewiss, dass die fleissige Beschäftigung mit dem Worte Gottes das vornehmste Mittel sein [muss], um etwas zu bessern“ (Spener 1964:58).

Für Spittler nahm das Lesen und Studieren der Schrift eine zentrale Stellung in seinem Leben ein. Im Jahr 1804 gründete Spittler die Basler Bibelgesellschaft mit dem Ziel, Bibeln im Volk zu verbreiten. Dieses Engagement zeigt, wie hoch Spittler die Bibel einschätzte und wie wichtig es ihm war, dass die Leute Zugang zur Bibel haben. So erklärt Albietz:

„Wir lernen von Spittler: Trotz aller Relativierungsversuche unserer Zeit muss die Bibel Grundlage des christlichen Wirkens bleiben. Sie hat sich als zuverlässig und tragfähig erwiesen. Sie setzt den Rahmen, in dem wir uns bewegen können. Sie gibt uns Massstäbe für Dogmatik und Ethik.“ (Albietz 1994:90)

Für eine Fresh-X im 21. Jahrhundert, welche sich in der Tradition des Pietismus formiert, wird daher die Heilige Schrift immer eine zentrale Stellung einnehmen müssen: „Der Pietismus würde sich aufgeben, wollte er diese Vorrangstellung der Liebe zur Bibel nicht mehr wahrhaben“ (Kruse 2004:669). Eine Fresh-X muss sich konsequent in unterschiedliche Milieus kontextualisieren, sie ist herausgefordert, mit neuen Formen von Kirche zu experimentieren, aber gleichzeitig muss sich alle Tätigkeit am Wort Gottes ausrichten. Sie muss sich Spittlers Warnung zu Herzen nehmen, der mit grosser Eindringlichkeit sagte: „Wahrlich, kommen die Menschen nicht zu Gott und zur Bibel zurück, so helfen alle menschlichen Unterstützungen nichts“ (Haag 1995:30).

5.1.2 Kritische Würdigung

Bockmühl propagiert einen „pietistischen Biblizismus“ und will von der modernen Bibelkritik „gar nicht erst reden“ (Bockmühl 1985:16–19). Dem halte ich entgegen, dass wir uns auch im Pietismus an einer verantwortlichen Hermeneutik orientieren müssen, die offen bleibt für verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Trotz, oder gerade weil die Schrift ernstgenommen werden will, dürfen neue Formen von Kirche in der Postmoderne nicht der Gefahr einer wenig reflektierten Hermeneutik verfallen. Wir müssen uns mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln der wissenschaftlichen Exegese um die richtige Interpretation der Schrift bemühen. Der Pietismus braucht ein Schriftverständnis, das die Schrift ernst nimmt, sie achtet und wertschätzt, aber nicht der Gefahr verfällt, das geschriebene Wort selber auf die Stufe der göttlichen Trinität zu stellen und es damit unantastbar zu machen (Härle 2014; Zimmer 2012:20 u.ö.). Wir müssen uns der Aufgabe stellen, die Wissenschaften ernst zu nehmen, uns aber bei der Interpretation der Bibel nicht von ihnen diktieren lassen (Laughery & Diepstra 2015:6–16). Selbstredend gehört zum Verstehen der Bibel die Beziehung des Auslegenden zu Gott im Gebet. Glaube und Wissenschaft ergänzen sich damit.

Der Pietismus kann sich diese Offenheit in der Hermeneutik leisten. Im Gegensatz zum christlichen Fundamentalismus, welcher auf die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Bibel insistiert, betont der Pietismus stärker die Mitte der Schrift in Jesus Christus, die konkreten Auswirkungen durch die Beschäftigung mit der Schrift im Handeln und die innere Frömmigkeit des Einzelnen. Durch eine entspannte und offene Hermeneutik kann die Schrift in den verschiedenen Milieus, welche von Fresh-X angesprochen werden wollen, eine neue Relevanz gewinnen. Schliesslich geht es darum, nicht mit Überzeugungen aus der Moderne das Interesse an der Bibel bereits im Keim zu ersticken, sondern im Gegenteil die Neugierde an diesem immer unbekannteren Buch zu wecken. Die mangelhafte Bibelkenntnis im 21. Jahrhundert ist nicht nur eine Herausforderung für den Pietismus, wie Kruse feststellt (2004:669), sondern meines Erachtens auch eine Chance, den weithin unbekannten Text neu zum Sprechen zu bringen.

5.1.3 Umsetzung

An dieser Stelle sind nur Andeutungen möglich, die sich als Impuls zum Weiterdenken verstehen. Als erstes muss sich ein Fresh-X Team als hermeneutische Gemeinschaft fortwährend und intensiv selber mit der Schrift auseinandersetzen und ihre Pioniertätigkeit unter diesem Aspekt reflektieren (Newbigin 1986:125–127). Das verengende „So steht es geschrieben“ weicht wieder dem Ringen um die Aussage eines Bibeltextes. Damit wird das ursprüngliche Anliegen im Pietismus aufgenommen, wie es Spener in seinen Sozietäten gelebt hat. Eine reduktionistische Auslegung, welche nur die „Rettung der Seelen“ berücksichtigt, muss einer ganzheitlicheren Schau des Anliegens Gottes für seine Schöpfung weichen.

Theologische Literatur zeitgenössischer Autoren, welche der Bibel eine hohe Wertschätzung als Hilfe für Glaube und Leben entgegenbringen, aber ebenso offen sind für neue Interpretationsmöglichkeiten, sind dabei eine wichtige Hilfe. Relevante Ansätze und Hilfen dazu finden sich bei N.T. Wright, der mit seiner epistemologischen Kategorie der „Story“ das Anliegen Gottes mit seiner Schöpfung in den grossen Linien zu zeichnen vermag (Wright 2011:65-75 u.ö.). Brian McLaren (2008) und Dave Bookless (2015) beschäftigen sich mit den Fragen zur erwähnten ganzheitlichen Sicht vom Beziehungsdreieck Schöpfung-Mensch-Gott. Greg Boyd (2003) stellt mit seiner Theologie der Veränderlichkeit Gottes die Theodizee in ein neues Licht. In grosser Freiheit beschreibt Laughery (2015) das Zusammenspiel von Bibel und Wissenschaft im Zusammenhang mit den Schöpfungserzählungen. Die Beschäftigung mit diesen und ähnlichen Autoren weitet die eigene, vom Pietismus geprägte Sicht zu Gott und zur Bibel und hilft im Dialog mit der postmodernen Gesellschaft.

Daran schliesst sich die Frage nach der Umsetzung in der Fresh-X Arbeit an. Hat sich eine Gemeinschaft von Menschen mit Interesse am Glauben formiert, dann soll die Auseinandersetzung mit der Schrift im Sinne des Pietismus von Beginn weg erfolgen. Die Herausforderung für das Team besteht darin, verschiedene kreative Wege zur Beschäftigung mit der Bibel zu finden und sich nicht ausschliesslich auf gemeinsames Lesen, anschliessende Diskussion und die argumentative Auseinandersetzung zu beschränken. Die heutige Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit allen Sinnen erfahren und erleben will. Hier sehe ich das Praktizieren der Lectio Divina als Möglichkeit eines meditativen Zuganges zur Schrift, die bereits A.H. Francke mit Gewinn angewendet hat (Gerles 2015:30). Eine weitere Möglichkeit zum Erleben der Schrift bieten sogenannte Stationenwege, im Zuge derer die Bibel an verschiedenen Stationen mit den unterschiedlichsten Sinnen wahrgenommen werden kann (Missionarische Dienste AMD 2015). Einen narrativen Zugang zum Evangelium zeigt Tanja Pulfer (2014). Sie orientiert sich dabei stark an N.T. Wright und erzählt Gottes Plan mit seiner Schöpfung in neun Akten. Dadurch lässt sich das umfassende Bild von Gottes unendlicher Liebe für Menschen und Geschöpfe, wie es sich in der Bibel vom Buch Genesis bis zur Offenbarung darstellt, in ansprechender Weise weitergeben.

5.1.4 Resümee

Eine Fresh-X, welche die pietistische Tradition ernst nimmt, wird die Schrift sowohl im missionalen Team, wie auch in der Arbeit mit der Zielgruppe ins Zentrum stellen. Eine offene Auseinandersetzung mit dem Bibeltext im Dialog mit unterschiedlichsten neuen Interpretationen wird im Gespräch mit der Zielgruppe dabei helfen, eine allfällig einseitige Sicht zu korrigieren und die Texte in der Postmoderne neu sprechen lassen. Die Herausforderung für das Team besteht darin, die Präferenzen und Bedürfnisse der Zielgruppe aufzunehmen und diesen durch kreative Formen den Zugang zur Schrift zu ermöglichen. Fortlaufend wird sich das Team auch Rechenschaft darüber ablegen müssen, ob die Schrift inmitten aller anderen Betätigungen organisatorischer und relationaler Art, ihre Stellung im Zentrum behält und von dort nicht verdrängt wird.

5.2 Diakonie durch Gemeinschaft

5.2.1 Anliegen

Neben seiner Liebe zum Wort Gottes und seiner missionarischen Kraft, ist der Pietismus vor allem bekannt für eine gelebte Sozialdiakonie (Hardmeier 2015:220). Bereits in seinen Anfängen gab der Pietismus dem diakonischen Wirken neue Impulse. Durch die Betonung des „allgemeinen Priestertums“ waren alle Gläubigen gefordert, neben dem Wort auch die Tat folgen zu lassen. Das Vakuum in der Sozialfürsorge des 19. Jahrhunderts vermochte weder der Staat noch die Amtskirche auszufüllen. Der Pietismus wurde daher mit diakonischen Einrichtungen selber tätig und wusste sich der „Verbesserung der Lebensbedingungen von sozial Schwachen“ verpflichtet (Flaig 2002:168).

Im Leben von Spittler kann das pietistische Anliegen der Weltzugewandtheit durch diakonisches Engagement exemplarisch beobachtet werden. Spittler gab der Kirche in seinem Umfeld die Diakonie zurück. Er steht für eine engagierte Person, welche dort half, „wo andere nichts anbieten konnten oder wollten“ (Albietz 1994:91–92). Triebkraft seines Handelns war die Liebe zu Gott und zu den Menschen, die Mission der Welt und die Fürsorge für den Einzelnen. Das diakonische Handeln verstand Spittler daher genauso wie die Mission als eine Beteiligung am Bau von Gottes Reich (Haag 1994b:14–15; Graf 1994:76).

Eine Fresh-X, die sich der Tradition des Pietismus verbunden weiss, wird das diakonische Handeln nicht vernachlässigen. Vielmehr muss dieses zu einem wesentlichen Teil die gesamte Tätigkeit bestimmen. Die Hinwendung zu den Bedürftigen ist auch ein Kernanliegen der missionalen Theologie (Hardmeier 2015:211) und ein Wesenszug missionaler Gemeinden (Grabowski 2014:42). Eine Fresh-X als missionale Gemeinschaft, die in pietistischer Tradition steht, ist damit zweifach aufgefordert, sich leidenschaftlich diakonisch zu betätigen.

5.2.2 Kritische Würdigung

Für Spittler standen die Evangelisation und die Diakonie gleichwertig nebeneinander, weshalb sich Spittler aus heutiger Perspektive als „missionaler Pionier“ bezeichnen lässt. Leider haben es der Pietismus und insbesondere die Pilgermission nicht geschafft, diesem Anliegen bis in die Gegenwart hinein treu zu bleiben. Der Drang zur Evangelisation und damit zur blossen Rettung der Seelen nahm überhand.

[...]


1 Die Pilgermission St. Chrischona nahm das Jubiläumsjahr 2015 zum Anlass, im Juni 2014 einen Namenswechsel einzuleiten (Chrischona International 2015:15). Die Organisation nennt sich nun Chrischona International. Ich verwende in dieser Arbeit beide Begriffe Synonym, je nach Kontext.

2 Auf den Begriff „missional“ kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Zum Inhalt und der Entwicklung des Begriffs verweise ich auf das aktuelle Buch von Hardmeier (2015). Zum missionalen Gemeindebau empfehlen sich die Ausführungen von Hirsch (2011). Chrischona Schweiz ist in der ökumenischen Spurgruppe fx Schweiz vertreten und damit u.a. mitverantwortlich für die Organisation jährlicher Impulstage zum Thema fresh expressions of church (fx Schweiz 2015a). Im Januar 2015 führte das Theologische Seminar Chrischona eine mehrtägige öffentliche Konferenz zum Thema fresh expressions of church durch. 2014 haben Studientage mit Heinzpeter Hempelmann beigetragen zur Milieusensibilisierung von Pastoren und Personen in Gemeindeleitungen.

3 Im Rahmen vorliegender Arbeit setze ich Kenntnis zu Anliegen und Definition einer Fresh-X bei der Leserschaft voraus. Ich verweise diesbezüglich auf meine ekklesiologische Darstellung in Jäggi 2014b. Eine kurze, im Internet zugängliche Definition findet sich bei fx Schweiz 2015b.

4 Neben der oben erwähnten Ekklesiologie bestehen zwei weitere Arbeiten zu Venue in den Fachbereichen praktische Theologie (Jäggi 2014a) und systematische Theologie / Soziologie (Schneider 2014).

5 Vereinfacht kann gesagt werden, dass eine Fresh-X immer eine Emerging Church (EmC), eine EmC aber nur in seltenen Fällen eine Fresh-X ist. Die Verbundenheit mit der Tradition und das Eingebundensein in die Ursprungsdenomination stellt m.E. den Hauptunterschied zwischen einer Fresh-X und einer EmC dar. Aus diesem Grund attestiere ich dem Fresh-X Modell in Europa eine höhere Ausbreitungs- und Überlebenschance als den US-amerikanischen EmC. Siehe dazu: Jäggi 2014b:31–33 und Albietz 2015:10.

6 Der Gedanke der „mixed economy“ lässt sich in Spittlers Leben beobachten. Sich mit der Staatskirche verbunden wissend, betätigte er sich frei in kleineren Zusammenschlüssen von Glaubenden (Pilgermission 1885:384). Die Besinnung auf das Erbe war seit jeher ein Anliegen der Pilgermission. Zimmermann (1965:63) wies vor 50 Jahren schon auf die Notwendigkeit hin, sich am Erbe der Väter zu orientieren. Schmid sieht die „dankbare Besinnung auf das Erbe der Väter“ als zentral an (1990:4).

7 Zur Darstellung von Spittlers gesamtem Leben und Wirken verweise ich auf die bestehenden Biographien: Pilgermission 1885, Kober 1887, Schick 1956, Schick & Haag 1982, Rennstich 1987 und Haag 1992b. Leider findet sich darunter keine kritische Biographie. Manche Darstellungen haben unumstritten den Hang zur Hagiographie.

8 Zusammenfassende Aufstellungen zu den einzelnen Werken und Anstalten die auf Spittlers Anregung und Wirken zurückgehen, finden sich u.a. bei Haag 1992a:21–22 und Rennstich 1987:164–167.

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Fresh-X im Dialog mit dem Pietismus. Die Förderung der "mixed-economy" bei Chrischona International
Note
1,5
Autor
Jahr
2015
Seiten
107
Katalognummer
V306160
ISBN (eBook)
9783668041714
ISBN (Buch)
9783668041721
Dateigröße
697 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pietismus;, Fresh-X, missional, Bienenberg, Chrischona, mixed economy, Gemeindebau
Arbeit zitieren
David Jäggi (Autor:in), 2015, Fresh-X im Dialog mit dem Pietismus. Die Förderung der "mixed-economy" bei Chrischona International, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/306160

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