Medien und Aufruhr. Die Frage nach der Rolle der Medien in sozialen Bewegungen am Beispiel des „Arabischen Frühlings“


Bachelorarbeit, 2014

60 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.1. Problemstellung des Themas....Seite 3

1.2. Zielsetzung der Arbeit und Literaturreflexion......Seite 3

1.3. Grundinformation über die arabischen Länder.....Seite 4

Ursachen des „Arabischen Frühlings“

2.1. Soziale Bewegungen und Medien...Seite 5

2.2. Patrilineares System......Seite 7

2.3. Demographische Gründe...Seite 8

Abriss der medienpolitischen Situation vor und zu Beginn der Revolutionen

3.1. Tunesien...Seite 10

3.2. Ägypten....Seite 11

4. Methoden

4.1. Medienethnografie...Seite 12

4.2. Interviewmethoden...Seite 12

ormant und Ergebnispräsentation des Interviews...Seite 14

6. Die Rolle der Social Media

6.1. Social Media als Auslöser und Begleiter während den Protesten...Seite 19

6.2. Aktivisten und Aktivistinnen im Internet

6.2.1. YouTube...Seite 20

6.2.2. Facebook und Twitter...Seite 22

6.2.3. Blogs...Seite 25

6.3. Soziale Bewegungen im Internet...Seite 26

6.4. Ethnologische Betrachtung...Seite 27

7. Die Rolle der journalistischen Berichterstattung

7.1. Die Rolle der Printmedien...Seite 30

7.2. Journalistische Berichterstattung in den arabischen Medien...Seite 30

7.3. Al- Jazeera...Seite 32

7.4. Wirkung und Berichterstattung in den „westlichen“ Medien...Seite 34

8. Aktuelle mediale Situation... Seite 35

9. Schlussbetrachtung...Seite 37

Anhang: Interview ... Seite 39

Literaturverzeichnis...Seite 58

1. Einleitung

1.1. Problemstellung des Themas

Mubarak stirbt und kommt in die Hölle. Dort empfangen ihn die beiden ehemaligen ägyptischen Präsidenten Sadat und Nasser. Sie fragen: „Traf dich eine Kugel oder wurdest du vergiftet?“ Mubarak antwortet: „Es war Facebook“ [1]

Der Arabische Frühling bezeichnet eines der wichtigsten Ereignisse in der arabischen Geschichte. Eine Reihe von Aufständen, die im Jahr 2011 begannen, stürzten nach und nach die diktatorischen Machthaber.

Doch „die arabische Revolution ist widersprüchlich, verläuft in verschiedenen Bahnen, bezeichnet einen offenen Prozess. Schon über Worte ließe sich streiten. Ist es wirklich eine Revolution? Ein Aufstand? Ein Frühling?“ (Lüders 2011:12).

In Europa „ergehen sich einige tonangebende Medien seit Jahren in müßigen Fragen, ob der Koran denn mit der Moderne kompatibel sei: Seien der Islam und die Muslime weltweit nicht von Natur aus und schicksalsgebend rückwärtsgewandt, frauenfeindlich, homophob und antiaufklärerisch? (…) In Tunesien fahndeten die französischen TV-Sender in den ersten Tagen nur nach Islamisten. Wo verbargen sie sich? Von wo aus manipulierten sie diskret die revolutionären Ereignisse? Vergeblich“ (Todd 2011:13). Denn „eines ist die arabische Revolution ganz sicher nicht: Ein religiöser Aufstand, eine islamische Revolte“ (Lüders 2011:143). Eher im Gegenteil: „Neue Werte, die eigentlich alte Werte sind, haben das Terrain der arabischen Protestbewegung erobert: Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit. Das islamische Softwarepaket- wie es einige nennen- hat den Anschluss verpasst. Facebook, Twitter, Internet und neue Vorstellungswelten haben den einschläfernden, anachronistischen und stumpfsinnigen Diskurs des Islamismus hinweggefegt“ (Jelloun 2011:11). Die „westlichen“ [2] Medien sehen Facebook und die sozialen Netzwerke gerne als die wichtigste Waffe der Revolution an, so bezeichnet zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung vom 02.02.2012 Facebook als die „Zauberformel der Revolution“. Doch stimmt das? Waren die Medien eine Zauberformel?

1.2. Zielsetzung der Arbeit und Literaturreflexion

Im Rahmen dieser Arbeit beschäftige ich mich also mit vorangegangener und folgenden Fragen: Waren die Medien Schuld am Ausbruch des Arabischen Frühlings? Was sind die Nachteile der Mediennutzung und Medienaufmerksamkeit? Wie werden Medien genutzt und auch benutzt, um zu manipulieren? Außerdem beschäftige ich mich mit den Stimmen der arabischen Demonstranten, vor allem denen der Internetaktivisten und der sozialen Bewegungen.

Da ich den „Arabischen Frühling“ als Ganzheit betrachten möchte, mich im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht allen arabischen Ländern in gleichem Maße annehmen kann, verwende ich hauptsächlich Beispiele aus Tunesien und Ägypten. Aus diesen beiden Ländern habe ich am meisten Quellen gefunden. Das könnte daran liegen, dass sie aufgrund ihrer Gesamtsituation stärker prowestlich orientiert sind und diese Länder die am best- ausgebildeten Jugendlichen vorweisen.

Zunächst möchte ich einige Grundinformationen über den arabischen Raum vorausschicken, die zum Verständnis beitragen, um mich dann mit folgenden Fragen dem Thema zu nähern: Was waren die Auslöser der Revolution und warum entstand die Revolution zu genau diesem Zeitpunkt und in so vielen Ländern gleichzeitig?

Anschließend skizziere ich die Medienpolitische Situation vor den Revolutionen und möchte schließlich auf die Rolle der Medien während der sozialen Bewegungen eingehen. Hierbei grenze ich zwischen der Social Media und der journalistischen Berichterstattung ab. Unter dem Punkt der journalistsichen Berichterstattung werde ich mich besonders dem Sender Al-Jazeera widmen, dessen Rolle mir sehr interessant erscheint.

Die Literatur ist sehr breit gefächert, denn unterschiedliche Fachrichtungen beschäftigen sich mit dem Thema wie zum Beispiel die Medienwissenschaft, Politikwissenschaft und Geschichte. Ich werde diese Fachrichtungen mit einfließen lassen, beschäftige mich aber hauptsächlich mit den Stimmen aus der Ethnologie, wobei auch Texte der Zeitschriften „Cultural Anthropoloy“ und „American Ethnologist“ eine wichtige Rolle spielen.

Zudem beziehe ich mich auf eine große Reihe von Internetquellen wie zum Beispiel auf Facebook und Youtube. Mir scheint es wichtig, die Rolle der Medien in einem Text zu erörtern, da es meist nur einseitige Stimmen gibt und die ethnologische Sicht noch nicht ausreichend diskutiert wurde.

1.3. Grundinformationen über die arabischen Länder

Um die Ereignisse im „Arabischen Frühling“ verstehen zu können, ist es notwendig einige Grundinformationen vorauszuschicken.

Die arabische Welt umfasst 24 Staaten, die sich von Mauretanien im Westen bis zum Oman im Osten in ca. 8000 km Breite erstrecken. Aus Platzgründen werden die einzelnen Länder hier jedoch nicht aufgezählt. Nach Wikipedia ist der Begriff arabische Welt (‏العالم العربي‎, al-ālam al-arabi) nicht exakt definiert, weshalb auch Kleinschreibung verwendet wird. Er beschreibt eine Gruppe von Regionen inNordafrika und auf der Arabischen Halbinsel und beinhaltet Staaten mit einer mehrheitlich arabischen Kultur.

Es lassen sich mehrere mögliche Kriterien anwenden, um die Zugehörigkeit zur arabischen Welt zu definieren: die Dominanz der arabischen Sprache, der Einfluss des Islam und die Mitgliedschaft in der Arabischen Liga. Allerdings sind diese Kriterien keineswegs als allgemeingültig zu betrachten, denn es gibt Länder, in denen arabisch gesprochen wird, die aber nicht zur arabischen Welt zählen (wie z.B. Malta und Israel), und auch Länder, in denen mehr Muslime leben, als in der arabischen Welt (z.B. Indien und Südostasien). Nach Victor leben in der arabischen Liga nur etwa 20 Prozent der Muslime. Die Vereinigten Arabischen Emirate werden in der Regel als Teil der arabischen Welt angesehen, obwohl die Araber dort in der Gesamtbevölkerung die Minderheit darstellen.

Die meisten arabischen Staaten sind Entwicklungs- oder Schwellenländer. Ausnahmen bilden die teilindustrialisierten LänderSaudi-Arabien,Kuwait, Katar,Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate. Was die arabischen Staaten letztendlich gemeinsam haben, sind Regime, die die Demokratie ablehnen.

Trotz dieser Vielfalt breitete sich der Arabische Frühling wie ein Lauffeuer aus.

Der Arabellion, die am 17.Dezember 2010 in Tunesien begann, folgten Aufstände in Algerien (05.01.11), Jordanien (07.01.11), Ägypten (25.01.11), Jemen (27.01.11), Libyen (Februar 2011), Bahrain (Februar 2011), Saudi-Arabien (März 2011) und Syrien (März 2011) (Hofmann 2013:41). Diese Staaten verbindet vor allem ein gesellschaftliches Aufbegehren gegenüber bisherigen Strukturen.

2. Ursachen des „Arabischen Frühlings“

2.1. Soziale Bewegungen und Medien

Für Jelloun ist „dieser Frühling mitten im Winter (…)international mit keinem Ereignis in der jüngeren Geschichte vergleichbar“ (Jelloun 2011:22). Es fällt jedoch auf, dass im Jahr 2011 mehrere soziale Bewegungen aufflackerten, die jedoch keine solche Präsenz wie der Arabische Frühling hatten. Zu nennen sind hier die Occupy Bewegung an der Wall Street, und die Revolution am 15.Mai in Madrid an der Puerta del Sol. 2013 folgte die Revolution am Gezi-Park in Istanbul Allerdings ist nicht jeder Straßenprotest eine soziale Bewegung, aber heutzutage beinhaltet jede soziale Bewegung Straßenproteste. Es scheint, als begehren Menschen auf, die zuvor noch nie demonstriert haben. Es handelt es sich auch nicht um eine ideologische Revolution. Es gibt keine Führungspersönlichkeiten, keine Chefs und keine Parteien, die die Revolution tragen. Es sind Millionen gewöhnlicher Bürger, die auf die Straße geströmt sind.

Der Soziologe Farhad Khosrokhavar, dessen Werk auf einer Feldforschung im Mittleren Osten basiert, nennt diese Art der sozialen Bewegung „demo-movement“. „Meaning the modernized people of almost every walk of life, mostly young, who build up the core of their protagonists and who aspire to a political system marked by no corruption, political participation, and social justice”. Die „demo-movements“ sind durch eine neue Beziehung zum Selbst, zu den Anderen, zu der Welt und zu den Gesetzen der Gemeinschaft und Religion definiert. Es wird zwischen zwei Typen unterschieden: Ersterer basiert auf einer plötzlichen Strangulation des Regimes, wie es in Tunesien und Ägypten der Fall war und letzterer auf einer schrittweisen Demontage wie in Libyen.

Ein wichtiger Faktor ist die Dynamik der Bewegung selbst. Diese beinhaltet Aktion und Reaktion der Regierung, Interpretation der Ereignisse von sozialen Akteuren, die momentane internationale Situation, die Auswirkung der Bewegung auf die internationale öffentliche Meinung und die Haltung der weltweiten Medien (Khosrokhavar 2012:15).

Außerdem sind soziale Bewegungen meist nicht vorhersehbar, ambivalent und ungewiss und transportieren Mythen in Utopien. „Myths are the symbolic foundations of the society; they give an image of a golden past, inaccessible but providing a model societies should move towards, without ever attaining their original perfection. Social movements transform myths in two different ways. They are “mythogenous” in that they create new myths, and they transform the old ones into a new society to be created by the genius of the social protest itself“(Juris und Razsa 2012).

Nach dem Historiker Rainer Leschke ordneten in der Geschichte Medienrevolutionen nicht nur die Angelegenheiten der Medien neu, sondern sie „sorgten- wenigstens nach ihrer Selbsteinschätzung- für nichts Geringeres als das Entstehen und Vergehen von Kulturen“.

So sollen es etwa die Medien gewesen sein, die das Konzept von Nationalstaaten haben entstehen lassen, [3] ja mehr noch: Der Intervention von Medien verdanke sich nicht weniger als die Auffassung und Möglichkeit von Geschichte überhaupt (…) Auffällig sind solche Medienrevolutionen allerdings nur dann, wenn die Medien selbst es sind, die angeblich die Revolution anzetteln (2008:143 f).

Im Arabischen Frühling haben wir es eher mit Revolutionsmedien als mit Medienrevolutionen zu tun, denn die Medien waren nicht der Grund für die Revolution sondern waren nur Mittel. Revolutionen gab es schon, bevor es Medien gab. „Die im Trend liegende Fixierung auf die sozialen Medien verkennt (…) die Rolle anderer sozialer Bewegungen, Mobilisierungsformen und Netzwerke. Kommunikationsmedien mögen die Bildung sozialer Bewegungen erleichtern, erschaffen können sie sie jedoch nicht“ (Beinin 2012:77).

2.2. Patrilineares System

Für Immanuel Todd, der sich selbst als Historiker mit einer breit gefächerten Kompetenz an Anthropologie bezeichnet, ist eine wichtige Ursache jene Variable, die er als geografische und anthropologische bezeichnet. „Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass sich die Länder auf ihrem Marsch in Richtung Modernisierung zunächst nicht einheitlich verhalten. In dieser Krise des Übergangs tauchen Ideologien mit Inhalten auf, die je nach den Werten, die zuvor in der Familie herrschten, unterschiedlich ausfallen“ (2011:31).

Eine weitere Variable für den Umbruch könnte nach Todd die Rate der endogamen Ehe sein. „Allgemein lautet der Gedanke, dass mit dem Auftauchen der Bürgerdemokratie das freie Individuum im öffentlichen Raum auftaucht. Dabei herrscht vor allem die Vorstellung von Offenheit und Kommunikation. Endogamie bedeutet das genaue Gegenteil, nämlich die Abschottung der familiären Gruppe. In diesem patrilinearen System sind die Männer besonders wichtig“. Ein hervorstechendes Beispiel ist Tunesien, denn trotzdem es als fortschrittlichstes Land der arabischen Welt gilt, fragte man sich, warum das System nicht zusammengebrochen ist. Todd zufolge, machte man als Antwort die familiäre, „anthropologische Besonderheit der arabischen Welt verantwortlich: Die Ehe zwischen Cousins und Cousinen, die Endogamie“ (2011:36). Todd: „ Ich glaube, dass die Rate der endogamen Ehen eine gute Erklärung dafür bietet, warum der demokratische Funke erst so spät gezündet hat“ (2011:38). Die Rate der Eheschließung liege zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades in Tunesien bei 35 Prozent, und das obwohl das Land ziemlich weit im Westen liegt. In Ägypten hingegen, liege die Rate 10 Prozent unter dem Wert in Tunesien. Schon der Zusammenbruch der Endogamierate in Ägypten, weise darauf hin, dass die Gesellschaft dort einen atemberaubenden Wandel durchläuft und liberaler und individualistischer wird. Todd schreibt: „Wenn man umgekehrt Monografien von Feldanthropologen in der arabischen Welt (…)liest, stellte man empirisch fest, dass die Menschen diese Systeme als herzlich und nicht als feindselig empfinden“. Allerdings gibt er hierzu keine weiteren Angaben, weshalb mir diese Aussage etwas vage erscheint.

Auch Hafez bestätigt Todd´s These. Sie liefert als Beispiel die Rede Mubaraks auf dem Tahrir Platz am Tage seines Sturzes, die auf einer großen Videoleinwand übertragen wurde. Mubarak brachte, anstatt zu resignieren, die Situation zum überkochen, indem er alle Protestierenden als seine Kinder bezeichnete, deren Forderungen er sich gerne anhören würde. Hafez beschreibt dies als einen entscheidenden Wendepunkt zugunsten der Revolte. Auch dass die „rebirth of true“, die Wiederherstellung der Identität durch Rückgewinnung der Ehre und der Werte der „ibn al balad“, von der Hafez auf Seite 40 spricht, zum Leitmotiv und der Erfolgsstory der Revolution wurde, ist interessant. Damit wird nach Hafez der Abbau eines patriarchalischen Mythos eingeleitet, weswegen sich Mubarak 30 Jahre lang an der Macht halten und die Leit- beziehungsweise Vaterfigur übernehmen konnte.

2.3. Demographische Gründe

Die Gründe für die Revolution, die ein Ausbruch jahrelang angestauter Gefühle zu sein scheint, liegen also tief in der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation begraben. Steigende Lebensmittelpreise, die diktatorischen Machthaber, die nur ihren eigenen Profit sehen und die hohe Arbeitslosigkeit. Nach Hofmann hat jedoch nicht nur der Leidensdruck die Revolution ausgelöst, sondern das Zusammentreffen mehrerer Faktoren: Die Bevölkerung in den arabischen Staaten ist- teilweise bis zu über 50%- unter 25 Jahren alt. (Lüders zufolge sind 75 % der arabischen Bevölkerung jünger als 30 Jahre (2011:18). Nach Victor sind in Tunesien sogar 42,5 % der Bevölkerung jünger als 25 Jahre und in Ägypten 51 %. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt das Durchschnittsalter 43 Jahre[4]. Die jungen Menschen haben gelernt, die einzelnen politischen Systeme zu verstehen und sie gegeneinander abzuwägen, die Jugendarbeitslosigkeit lässt die jungen Menschen auf die Straßen gehen und vor allem die Nutzung von modernen Medien hat sich stark ausgebreitet. Es handelt sich also nicht primär um „eine vom Hunger getriebene Bevölkerungsschicht, sondern zum großen Teil auch um junge „wohlhabende und gebildete“ Menschen in der Region, so Hofmann. Dies erklärt die hohe Akzeptanz neuer Medien und sozialer Netzwerke. Dies bestätigt auch Perthes:

Während die meisten Staaten der Region aber effektiv kaum mehr politische Teilhabe erlaubten als ein, zwei Jahrzehnte zuvor, hat das Maß individueller Freiheiten in dieser Zeit zugenommen, jedenfalls was wirtschaftliche Freiheiten, aber auch die Freiheit von Information und Kommunikation betrifft. Anders gesagt: Während die politischen Systeme überwiegend rigide blieben und Forderungen nach substantieller politischer Veränderung oder gar Ablösung der herrschenden Eliten notfalls mit repressiven Mitteln abwehrten, wurden die Gesellschaften offener und zunehmend pluralistisch. Vor allem die nachwachsenden Generationen verfügten über ein höheres Bildungsniveau, und sie waren besser informiert als die Generationen, aus denen die herrschenden Eliten sich rekrutierten. Die Verbreitung erst des Satellitenfernsehens, dann des Internets spielten dabei, wie sich spätestens 2011 zeigen sollte, eine wichtige Rolle (2011:19).

Allerdings ist der Terminus “Jugend” nicht exakt definiert. Khosrokhavar nennt ihn eine Fehlbezeichnung, denn junge Menschen sind nicht notwendigerweise sozial und kulturell homogen oder haben dieselbe Sichtweise. Soziale Bewegungen neigen dazu, sie in einen Topf zu werfen (2012:15). Dies wird auch an Mostafa F´s. Beispiel mit dem Kopftuch deutlich, worauf ich weiter unten noch zu sprechen komme.

Festzuhalten ist jedoch, dass die Medien als Medium der Kommunikation verwendet wurden. Die Inhalte, die in diesen Medien diskutiert werden, sind nicht allesamt neu. Vielmehr gab es in der gesamten Region schon seit Jahren eine lebhafte Debatte über bessere Regierungsführung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und die faire oder „gerechte“ Verteilung von Macht und Chancen. All dies waren und sind Themen, die nicht nur liberale oder linke, sondern auch konservativ- islamische Gruppen ansprachen. (Perthes 2011:20). Deshalb darf die Bedeutung der Medien weder kleingeredet noch überschätzt werden.

3. Abriss der medienpolitischen Situation vor und zu Beginn der Revolutionen

Trotzdem ist „Medienpolitik (…) auch immer Machtpolitik, besonders an einer geostrategischen Schnittstelle wie der Golfregion“ (Lüders 2011:124). Dies wird besonders deutlich indem man die medienpolitische Situation vor den Revolutionen in den Ländern analysiert und sich anschaut, wie die arabischen Diktatoren in Sachen Internet verfahren sind.

Die Internetabdeckung, also die Zahl der Bevölkerung, die einen Internetanschluss hatten, betrug nach Victor in Tunesien 33% und in Ägypten 21,2%. Statistisch verfügt also jeder dritte Tunesier über einen Internetzugang, das entspricht einer der größten Dichte an Nutzern in Afrika. Die insgesamt doch sehr niedrige Internetabdeckung in den arabischen Ländern erklärt Hofmann dadurch, dass in den meisten arabischen Staaten, mit Ausnahme von Ägypten und Libyen in den letzten Jahrzehnten so gut wie keine Bodenkabel für Telefon, Fernsehen oder Internet verlegt wurden.

Damit man aber auch in diesen Staaten die modernen Medien nutzen konnte, hatte man in den letzten 10 Jahren den massiven Ausbau der drahtlosen Kommunikation betrieben. D.h. entweder sind Bodenmasten (Handy Internet) aufgestellt worden, oder man konnte Satellitenschüsseln erwerben, um damit direkt über einen Satelliten zu kommunizieren bzw. über diesen im Internet zu surfen oder aber auch Hörfunk und Fernsehen zu empfangen. Das hat dazu geführt, dass die Bevölkerungen vor Ort nicht mehr zwingend notwendig auf die teils staatlich kontrollierten Medien (Zensur) angewiesen waren, sondern sich nun auch mit Informationen aus anderen Ländern versorgen konnten (Hofmann 2013: 38).

Hierbei kommt die Frage auf, warum die Machthaber nicht versucht haben, die Satelliten zu kontrollieren, beziehungsweise die Drahtzieher festzunehmen. Nach Hofmann wurde dies bei den Präsidentschaftswahlen 2009 im Iran durchaus versucht. Es wurden IT-Spezialisten herangezogen, um mit speziellen Programmen die Satelliten zu stören. Die Betreiber der Satelliten kamen dem jedoch zuvor und entwickelten Störprogramme der Störprogramme. „Man musste vielerorts erkennen, dass man genauso wenig wie der Iran auf die drahtlose revolutionäre Kommunikation einwirken konnte“ (Hofmann 2013:39).

3.1. Tunesien

Trotz der zuvor beschriebenen Maßnahmen versuchten die Machthaber die Medien zu kontrollieren. In Tunesien war die Internetzensur vor den Umbrüchen jedoch wesentlich strikter als in Ägypten. Die Webseiten von Al-Jazeera, Amnesty International, Wikileaks, YouTube, Daily Motion und viele andere wurden staatlicherseits blockiert. „Die Fehlermeldung "Error 404 – page not found" erschien so häufig, dass Tunesier ihren unsichtbaren Zensoren den Spitznamen "Ammar 404" gaben und zu einer virtuellen Person machten. Ammar ist ein beliebter tunesischer Vorname“ (El Difraoui 2011). Die Ausnahmen waren Facebook und Twitter. Offenbar hatte das Regime beider Bedeutungen gewaltig unterschätzt.

Das Internet wurde außerdem dazu benutzt, um persönliche Informationen bestimmter Personen herauszufinden: Passwörter wurden gehackt und Nachrichten gelesen. Die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni berichtet, dass Hunderte von Blogs gesperrt wurden, „die Fotos unserer Facebook- Profile hatte man durch das Bild eines Piratenschiffes ersetzt. Nach Schmid soll der in Tunesien meist genutzte Internet- Provider AIT (Agence d´Internet tunisienne) die Zugangscodes zu Yahoo, Google, Facebook o.ä. für Polizisten und Nachrichtendienst- Mitarbeitern zugänglich gemacht haben (2011:40). AIT gehörte bis September 2010 einer leiblichen Tochter von Präsident Ben Ali. Das tunesische Informationsministerium hatte direkten Zugriff.

Zusammen mit der internationalen Hacker-Bewegung "Anonymous" führten tunesische Aktivisten eine Art Cyber-Krieg: Sie hackten die Webseiten der Regierung und legten sie mit geballten Überlastungsattacken lahm. Es gelang ihnen auch, die Spionage- und Zensurprogramme der Regierung zu deaktivieren. Dabei wurden in einer Art Lauffeuer völlig unterschiedliche Strömungen spontan politisch im Netz aktiv. (El Difraoui 2011).

Auf der eigenen Webseite von Anonymous stand: „Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Erwartet uns“ (Ben Mhenni 2011:25).

3.2. Ägypten

In der ägyptischen Verfassung von 1971, die bis zum Jahre 2012 gültig war, ist folgender Artikel enthalten:

Article 48: Freedom of the press, printing, publication and mass media shall be guaranteed. Censorship on newspapers is forbidden. Warning, suspension or abolition of newspapers by administrative means are prohibited. However, in case of declared state of emergency or in time of war, limited censorship may be imposed on newspapers, publications and mass media in matters related to public safety or for purposes of national security in accordance with the law [5].

In der Verfassung stand also das Recht auf Medienzensur in Zeiten des Krieges oder zu Nutzen der öffentlichen Sicherheit geschrieben.

Husni Mubarak kämpfte vorrangig gegen Gruppen, die einen hierarchischen Aufbau hatten, wie die Muslimbrüder oder andere islamistische Gruppierungen. Da das Internet kein hierarchisches System darstellt und auch keinen Anführer hat, dachte Mubarak es würde keine Bedrohung darstellen. Blogs waren meist nicht zensiert, so wie in Tunesien, aber wenn ein Blogger etwas Systemgegnerisches schrieb, wurde er eingesperrt oder sogar gefoltert. Im Namen der Modernisierung des Landes, seiner Attraktivität für Investoren und der „globalen Wissensgesellschaft“ setzte Mubarak schon seit 1997 massiv auf die Förderung des Internet. Möglichst viele Ägypter sollten sich Kenntnisse im Umgang mit Computern und dem Medium erwerben. Schon vor der Revolution nutzen Oppositionelle und Regimekritiker das Internet und Facebook als Kommunikationsmittel.

„Das ägyptische Regime war jedoch auch das erste, das sein Land während der Revolution komplett vom weltweiten Netz abkoppelte (…) Die Nutzerstatistiken bei den Providern wiesen tatsächlich einen Abfall der Kurve der Internetnutzung in Ägypten auf Null aus“ (Schmid 2011:43). Ägypten entwickelte nicht so ein System wie die tunesische Regierung, das die Nutzer ausspionieren sollte. Aber die Menschen fanden auch hier Wege, das System zu umgehen: Google und Twitter entwickelten Techniken, wie das Internet angezapft werden konnte und Nachrichten mithilfe von Mobiltelefonaten verschickt werden konnten.


[1] Ägyptischer Witz, Jelloun 2011: 59.

[2] Mit „westlich“ sind hier und im Weitern die amerikanischen und europäischen Medien gemeint.

[3] Weiterführende Literatur: Marshall Mc Luhan.1992. Die magischen Kanäle: Understandig Media. Düsseldorf: ECON-Verlag. S.206f.

[4] http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/durchschnittsalter-der-deutschen-wird-deutlich-ansteigen-a-868019.html (15.11.13)

[5] http://www.aljazeera.com/indepth/spotlight/egypt/2012/12/2012129173710651270.html

Ende der Leseprobe aus 60 Seiten

Details

Titel
Medien und Aufruhr. Die Frage nach der Rolle der Medien in sozialen Bewegungen am Beispiel des „Arabischen Frühlings“
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Ethnolgie)
Veranstaltung
Medienenthologie
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
60
Katalognummer
V305657
ISBN (eBook)
9783668035980
ISBN (Buch)
9783668035997
Dateigröße
782 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arabischer Frühling, Medien, Facebook, Ägypten, Tunesien, Soziale Bewegungen, Aufstand, Revolution, Arabellion
Arbeit zitieren
Anja Daniela Höbel (Autor:in), 2014, Medien und Aufruhr. Die Frage nach der Rolle der Medien in sozialen Bewegungen am Beispiel des „Arabischen Frühlings“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/305657

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